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1.2 Die flexible Wahrheit des Mythos
ОглавлениеDer Titel dieses Abschnitts spielt auf einen Aufsatz von Raffaele Pettazzoni (1950) namens »Die Wahrheit des Mythos« an, der für die damalige Religionswissenschaft und kulturhistorisch orientierte Ethnologie zentrale Bedeutung bekam. Pettazzoni unterschied zwischen Geschichten, die einfach nur so aus Erzählfreude erzählt werden, und heiligen Mythen, die den Gläubigen Wahres sagen. Oft wird angenommen, dass Mythen, zumindest die wichtigsten, etwa die vom Ursprung der Welt, in ihren jeweiligen Gesellschaften als absolute Wahrheit gelten. Jedoch kann Erzählen auch »eine Rechtfertigung für Parteibildung und sozialen Wandel« sein, wie Edmund Leach schon 1964 am Beispiel der Kachin (im heutigen Myanmar) gegen die Tendenz schrieb, Mythen für eine Rechtfertigung vorgegebener Sozialsysteme zu halten:
Es gibt keine »authentische Version« der Kachina-Tradition, mit der alle Kachina übereinstimmen würden, es gibt lediglich eine Reihe von Erzählungen, die mehr oder weniger das gleiche Ensemble mythischer Figuren betreffen, und die gleiche Art strukturellen Symbolismus verwendet (z. B. die Heirat eines Mannes mit der Tochter eines Nat-Geists), sich aber von einander in entscheidenden Details je nach dem unterscheiden, wer die Geschichte erzählt.18
Mythen sind nicht immer eine ewige Wahrheit, sondern auch ein momentanes Argument, und das nicht nur in Südostasien. Wo alles eine Illusion sein mag, müssen Gewissheiten nicht ewig dauern, sondern ist es sinnvoll, sie immer wieder neu zu interpretieren, so wie ja auch die Welt in ständigem Fluss und stets vom totalen Umbruch bedroht ist – das ist ein Grundzug des Denkens in vielen indigenen Kulturen. Mythen wandeln sich oft rasch, wie die zahlreichen Beispiele von Anpassungen an neue Verhältnisse und von Einflüssen aus der Moderne zeigen.19 Das liegt teils, aber keineswegs nur daran, dass sie in mündlichen Kulturen selten wörtlich fixiert waren. In Südamerika ist ein weiterer Grund, dass in Mythen oft die Möglichkeit der Relativierung eingebaut ist. In den großen monotheistischen Religionen gelten die fundamentalen Texte als möglichst unveränderbar, auch wenn man sie im Laufe der Zeit unterschiedlich interpretieren kann. Man stelle sich aber nun vor, die Weihnachtsgeschichte würde in der Kirche so vorgelesen:
Und es soll sich begeben haben, sagen sie, aber ich war nicht dabei, dass ein Gebot, so sagen sie, von dem ausging, der Hörensagen zufolge Kaiser Augustus hieß …. Und eine Frau, die ich nicht persönlich kenne, sodass ich nicht sicher sagen kann, dass sie Maria hieß, aber das dürfte wohl stimmen, soll ihren Sohn geboren haben, und es heißt, es sei ihr erster gewesen, ob das nun stimmt oder nicht.
So aber wird oft in indigenen Gesellschaften erzählt, »vollgepackt mit jenen Ausdrücken, die selbst der sorgfältigste Übersetzer nicht jedesmal erneut wiedergibt – »er sagt«, »er erzählt«, »man hat das gesagt«, »man sagt, dass er sagt«, »es scheint, dass««.20 Viele indianische Sprachen unterscheiden genau zwischen unterschiedlich sicheren Ursprüngen der Information. Wenn ich etwas selbst miterlebt, gesehen oder gehört habe, gilt es mir als sicher. Wenn ich es von jemand anderem gehört habe, ist es weniger sicher – als wär’s in einem jener US-amerikanischen Strafprozesse, in denen strikt zwischen des Zeugen eigener Wahrnehmung und hearsay unterschieden wird. Wenn aber ein Ereignis aus allgemeiner Überlieferung, insbesondere aus Mythen berichtet wird, ist der sprachlich ausgedrückte Wahrheitsgehalt wieder etwas anders: Der Sprecher hält es für wahr, kann sich aber nicht völlig sicher sein, da er ja weder dabei war noch jemanden kennt, der dabei war.
Der Ethnolinguist Aisanain Páltu Kamaiwrá zeigt an mythischen Texten aus seiner Muttersprache, dem Kamaiurá, wie am Ende fast jeden Satzes jeweils die »Quelle der Information, so wie der jeweilige Grad der Gewissheit hinsichtlich des berichteten Inhalts« durch spezifische Partikel benannt wird, durch die der Mythenerzähler auszudrücken pflegt, dass er das Ereignis zwar für einen Fakt hält, sich darauf aber nicht festlegen kann, da er nicht dabei war. In der Pirahã-Sprache muss beim Verb durch »Evidentialitäts-Suffixe« unterschieden werden, ob eine Handlung zum Beispiel »eine persönliche beobachtete, eine aus den Umständen erschlossene oder eine nur vom Hörensagen bekannte« ist. Als ein Missionar einer Gruppe von Pirahã den Anfang des Markus-Evangeliums vorspielte, den ein anderer Pirahã in ihrer Sprache auf Tonträger gesprochenen hatte, wandten die Hörer ein, dass sie den Sprecher kannten und daher wussten, dass er Unsinn erzähle, da er Jesum ja nie gesehen habe. Offenbar hatte der Übersetzer das Evangelium in den Modus gebracht, in den durch heutige Augenzeugen beobachtete Ereignisse gehören. In der Trumai-Sprache wird eine Hörensagen-Partikel angehängt, um (vor allem in mythischen Texten) anzuzeigen, dass ein Verb sich auf etwas bezieht, was der Sprecher »nicht beobachtet hat und wofür es keinen direkten Nachweis gibt«, sondern was von jemand anderem berichtet wurde.21 Und mit den Mythen können auch die religiösen Inhalte relativiert werden. Hierfür wurde der Begriff »undogmatische Religionen« gefunden.22 Es soll uns nicht verwundern, dass religiöse Glaubenssätze zwar in bestimmten Grundideen festliegen, im Einzelnen aber immer wieder anders vorgestellt werden.
»Von Homer vollends haben sich Zeus und die übrigen Götter gar nicht mehr erholt«, schrieb Jacob Burckhardt einst und führte das, was er für eine Verzerrung ursprünglicher Ehrfurcht hielt, auf die dichterische Freiheit der altgriechischen Sänger zurück. Zuvor, meinte er, müsse es respektvollere Kunde gegeben haben, Zeus müsse mächtiger gewesen sein.23 Paradoxerweise wird auf diese Weise oft aus dem Charakter der Mythen das Gegenteil abgeleitet: Da wir den Mythos nur aus individuellen, variablen Versionen kennen, muss er kollektiv und invariabel gewesen sein, seine Veränderung wäre spätere Zutat.24 Jedoch finden sich auch in scheinbar so urtümlichen Mythologien wie denen der südamerikanischen Ureinwohner immer wieder nur Varianten, die immer wieder neu der Erzählfreude der Mythenerzähler entspringen, dabei freilich bestimmte Grundgedanken, ein Gerüst der Erzählung bewahren. Eine Version kann einer anderen mehr oder weniger entsprechen, manchmal aber auch widersprechen.
Jacob Burckhardts Hinweis auf die Phantasie eines jeden Mythensängers kann ergänzt werden durch die Beachtung des Mediums der Erzählung. In vielen Kulturen wird Religion öfter erzählt als in Glaubenssätzen formuliert. Für diese Form der Glaubensübermittlung hat sich die Bezeichnung »narrative Theologie« eingebürgert.25 Narrativ ist beispielsweise eine Form der Straßenmission der Heilsarmee, wenn ein Bekehrter erzählt, wie er früher zu viel getrunken und seine Frau verprügelt hat, bis er Jesum fand und nun in Harmonie mit seiner Familie lebt und beruflichen Erfolg hat. In mündlichen Kulturen werden in exemplarischen Geschichten gerne Vorfälle aus mythischer Zeit erzählt. Etwas ähnlich wie die Bekehrungsgeschichte des einstigen Trinkers enthalten sie Argumente, die auch für heute gelten sollen. Doch in Mythen kommt nicht nur ein einziges Argument, nicht nur eine einzige Erzählung zu Gehör. Und anders als das geradlinige Bekenntnis jenes Straßenpredigers, der endlich zu einem gottgefälligen Leben gelangt ist, widersprechen sie sich nicht nur, sie sind auch meist vieldeutig, unterschiedlich auslegbar je nach dem Zusammenhang, in dem sie erzählt werden. Sie dienen nicht zur Bekehrung, sondern zur Beleuchtung des Nachwirkens der Urzeit in unsere Zeit hinein, manchmal auch zur programmatischen Zusammenfassung des Wesentlichen einer Kultur gegenüber Außenstehenden.
Die in der Forschung aufgenommenen Mythen wurden gewöhnlich nicht an einem Lagerfeuer erzählt, das ein Forscher unbemerkt belauschte, sondern im Rahmen einer Forschung für den Forscher, viel seltener beispielsweise von einem Mythenerzähler für seine eigenen Leute – auch das ist zwar eine häufige Erzählsituation, die aber seltener dokumentiert wird. Manuel Gutiérrez Estévez vergleicht das Erzählen von Mythen mit unserem Gebrauch eines Zitatenschatzes, aus dem wir das für die jeweilige Situation Passende auswählen. Dabei kommt es nicht auf eine hypothetische Urform des Mythos an, sondern auf seine Bedeutung im jeweiligen Dialog,26 in den meisten Fällen mit dem Forscher. Natürlich werden Mythen selten ad hoc für den Forscher erfunden (dazu werden sie als Berichte von der Urzeit doch zu ernst genommen), sondern kommen aus dem großen Gesamtzusammenhang einer Mythologie, aber sie erhalten ihre jeweilige Form erst in dem Augenblick, in dem sie erzählt und eventuell aufgezeichnet werden. Gerade deshalb sind sie für die Ethnologie interessant, denn sie sind das, was der Ethnologe von einer Kultur erfahren soll.
Von Fall zu Fall werden Erzählungen an aktuelle Diskussionen angepasst: das bedeutet auch, dass sie vom jeweiligen Erzähler und Zuhörer abhängig sind – oder von der jeweiligen ErzählerIN und ZuhörerIN. Die traditionellen indigenen Gesellschaften sind konsequent arbeitsteilig organisiert, und wenn die heutige Zubereitung eines Grundnahrungsmittels Sache der Frauen ist, dann werden wohl eher Frauen sich für Mythen interessieren, die berichten, seit wann diese Nahrung auf eine bestimmte Weise zubereitet wurde. Im Abschnitt 3.6 fasse ich zwei Erzählungen zusammen, in denen eine Herrin der Nutzpflanzen bzw. des Maniok sich mit den Frauen versteht, aber von Jungen geärgert wird, bzw. von ihrem Mann nicht genügend gegen eine Konkurrentin in Schutz genommen wird. Die erstgenannte Mythe wird überwiegend von Frauen erzählt, die zweite überhaupt nur von Frauen. Als ich diese zweite Mythe von einer Frau erzählt bekam, versuchten Männer das durch Gelächter und Grimassen zu sabotieren (gaben aber später zu, dass diese Frau eine exzellente Mythenerzählerin war, wohl auch deshalb, weil sie sich nicht von den Männern beirren ließ).27
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die Forscher, die Mythen aufnahmen, Männer, erst recht natürlich die Missionare, denen wir eine große Anzahl von Mythen und sonstigen Informationen über die Kulturen verdanken. Erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind immer mehr EthnologINNen zu Mythenerzählern und schließlich auch zu ErzählerINNEn gekommen. Die uns bekannten Mythen spiegeln in ihrer Mehrzahl bis heute die männliche Sicht.28 Weibliche Mythen scheinen (ohne dass ich einen statistischen Gesamtüberblick besäße) die Sexualiät mehr und den Schamanismus weniger zu betonen.
Auch in einer auf einen einzigen Diskussionspunkt hin erzählten einzelnen mythischen Episode schwingt der Zusammenhang des gesamten Mythos mit. Die Verbindung einer Summe von Wissen und Erzählungen, die einen Mythos bilden, und konkreter Anschauung, wie eine Episode sie bietet, nannte Konrad Theodor Preuß eine »komplexe« (entsprechend der in neuerer Psychologie so genannten »ganzheitlichen«) im Unterschied zu einer »analytischen« Anschauung:29 Dinge werden in in einen Gesamtzusammenhang gestellt, Götter, Geister und Menschen zusammengesehen, gleichzeitig aber auch auf jeweils Aktuelles, oft ganz Alltägliches bezogen. Überhaupt ist es für die Religiosität dieses Raumes typisch, dass viele Glaubensvorstellungen und -praktiken ebenso wie Mythen gleichzeitig ganz verschiedene Verstehenshorizonte abdecken, vom Frühstück bis zu jenseitsbezogener Seinsphilosophie. Das hängt sicherlich auch mit der traditionell und teils bis heute relativ geringen sozialen Schichtung zusammen: Auch der tiefgründigste Seinsphilosoph, auch der immer wieder in andere Welten abhebende Schamane, sie alle sind meist Bauern wie alle anderen, Schamanismus pflegt nur ein Nebenberuf neben der Landwirtschaft zu sein.