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Autobiographische Comics und Graphic Novels
ОглавлениеIn autobiographischen Graphic Novels setzen sich Autorinnen und Autoren mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander. Dies geschieht oft aus einer subjektiven Sichtweise heraus. Der Reiz für Schülerinnen und Schüler liegt hierbei darin, dass meist Lebensabschnitte in Szene gesetzt werden, in denen die Autorinnen und Autoren ihren Platz in der Gesellschaft noch finden müssen oder den gefundenen Platz hinterfragen. Themen solcher Comics können auch prägende Erlebnisse sein – bis hin zu schwerwiegenden Schicksalsschlägen, dunklen Seiten des Alltags, Familienproblemen, Krankheit oder Krieg.5
Der Einsatz solcher Bildgeschichten ist in vielerlei Hinsicht gerade für die Sekundarstufe I interessant: Schülerinnen und Schüler können sich mit den Figuren identifizieren, vor allem wenn die Protagonisten ebenfalls Jugendliche sind (wie z. B. in Blankets oder Mein Freund Dahmer). Da beim Lesen von Comics die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Bildern selbst hergestellt und Bedeutungen selbst konstruiert werden müssen, wird die Empathie und die Identifikation mit den Figuren angeregt.6 Die Besprechung von autobiographischen Comics kann an die Methoden des autobiographischen Philosophierens anknüpfen, da in den Geschichten verschiedene Möglichkeiten der Lebensführung und -deutung simuliert werden. In Anlehnung an Gabriele Münnix können autobiographische Bildgeschichten zuerst genutzt werden, um eine philosophische Fragehaltung zu wecken und eine Problemstellung für den Unterricht zu entwickeln. Das philosophische Problem kann beispielsweise dadurch bearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler den Comic selbst fortschreiben (dies kann in Form von Texten, Comics oder Rollenspielen geschehen). Anschließend können die Fortsetzungen und möglichen Problemlösungen miteinander oder mit dem Fortgang der Graphic Novel verglichen werden.7
Die Themen von autobiographischen Graphic Novels sind auch Themen der Philosophie. Die Geschichten setzen sich u.a. mit moralischen Fragen, Identitätskrisen, dem eigenen Körper, Familienerfahrungen oder dem eigenen Liebesleben auseinander.8 Es besteht so die Möglichkeit, private oder intime Lebensbereiche zu besprechen, ohne dass die Schülerinnen und Schüler aus ihrem eigenen Leben berichten müssen. Die postulierte Authentizität der Geschichte übt dabei einen besonderen Reiz aus, welcher fiktiven Biographien verloren geht. Autobiographische Comics können für die Lernenden Themengebiete erschließen, die jenseits ihrer eigenen Erfahrungen liegen (z.B. Kriegserfahrungen wie in Mizukis Auf in den Heldentod! oder die Identitätsfragen jenseits binärer Geschlechterkonzepte wie in Jongelings Hattest du eigentlich schon deine Operation? und Backers Küsse für Jet). Das Hineinversetzen in eine andere Figur kann dabei als eine Art Gedankenexperiment verstanden und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel geschult werden.9 Dies kann mit einfachen Mitteln umgesetzt werden, indem beispielsweise die Lernenden Gedankenblasen ergänzen, um das Innenleben der Figuren darzustellen. Diesem Vorgehen muss dabei eine sorgfältige Analyse der Handlung und der bildlichen Darstellung der jeweiligen Figur vorausgehen.
Auf einer Metaebene können im Unterricht die Grenzen unseres Erinnerungsvermögens und die Konstruktion der eigenen Vergangenheit und Identität erörtert werden. In vielen (auto-)biographischen Comics werden das eigene Zeit empfinden, das Erinnerungsvermögen und ähnliche Aspekte hinterfragt.10 »Oft dienen die Panels als Bausteine, die einerseits bei der Strukturierung der Erinnerung helfen, andererseits durch ihre Zwischenräume und Grenzen das Fragmentierte und Versatzstückhafte der Identität demonstrieren.«11 Indem Comics darstellen, wie Menschen ihr eigenes Leben wahrnehmen, werden persönliche Empfindungen visualisiert, die über das Überprüfbare hinausgehen.12 Im Unterricht können unterschiedliche Arten der Selbstdarstellung oder -reflexion miteinander verglichen werden, z. B. (auto-)biographische Darstellungen in Form von Comics, Büchern, Fotografien, Gemälden oder Blogs. In Anbindung an die Frage nach der personalen Identität könnte mit Comics die Frage thematisiert werden, inwiefern unsere Erinnerungen unsere Identität ausmachen. Die Frage, wie verschiedene Medien die Darstellung von Lebenserfahrungen beeinflussen, kann im Unterricht abschließend dadurch bearbeitet werden, dass die Schülerinnen und Schüler eigene Erlebnisse in Comicform gestalten.
Eine weitere Möglichkeit ist die Erstellung von Comics zu autobiographischen Texten von Philosophinnen und Philosophen in der Sekundarstufe II. Dieses Vorgehen würde dem Prinzip entsprechen, dass man ein Medium dann besonders gut versteht, wenn man es selbst gestaltet. Durch das eigenhändige Erstellen einer philosophischen Biographie können sich die Jugendlichen lebensnah prominenten Figuren der Philosophie annähern.13 Einen hilfreichen Überblick zu philosophischen Autobiographien bietet Vanessa Albus.14 Der Vorteil dieses Lernprodukts wäre es, dass sich die Lernenden dafür intensiv mit dem philosophischen Text – wie Descartes’ Discours de la Methode oder Bertrand Russels Autobiographie – sowie mit den Gestaltungsmitteln von Comics auseinandersetzen müssen und so vielseitige Fähigkeiten eingeübt werden können. Die Arbeit kann den Jugendlichen durch eine Vielzahl an kostenlosen Online-Werkzeugen zur Erstellung von Comics erleichtert werden.15 Es ist außerdem hilfreich, die Hürden für die Qualität der Zeichnungen möglichst niedrig anzusetzen. Lernende können auch dann unter Beweis stellen, dass sie die Gesetzmäßigkeiten von Comics verstanden haben, wenn sie Strichfiguren zeichnen. Es gibt auch Klassiker unter den Bildgeschichten, die in einem äußerst minimalen Zeichenstil gestaltet sind.16
Beim Unterrichtseinsatz von biographischen Graphic Novels werden Lehrkräfte und Lernende möglicherweise vor einige Herausforderungen gestellt. Dies kann beispielsweise den Umfang (Blankets), die Komplexität (Logicomix) oder die Überforderung mit Themen wie Drogen und Gewaltverbrechen (Mein Freund Dahmer) betreffen. Diesen Herausforderungen kann dadurch begegnet werden, dass man im Vorhinein die zu besprechenden Stellen ausgewählt, die Graphic Novels durch Vorinformationen die entlastet oder Probleme durch Unterrichtsgespräche aufgefangen werden.
Auswahl autobiographischer Comics und Graphic Novels:
Alfred/Oliver Ka: Warum ich Pater Pierre getötet habe. Carlsen 2008. (Kindesmissbrauch)
Backderf: Mein Freund Dahmer. Metrolit 2013. (Entstehung von Gewalt)
Budde: Such dir was aus, aber beeil dich. Fischer 2010. (Diverse Themen, u.a. Tod)
Chast: Können wir nicht über etwas anderes reden? Rowohlt 2015. (Pflege der Eltern, Tod)
Mizuki: Auf in den Heldentod! Reprodukt 2019. (Sinnlosigkeit des Krieges)
Nagata: Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit. Carlsen 2019. (Depression, Identität)
Picciotto: We are Gypsies now. Metrolit 2013. (Lebensführung, Grundbedürfnisse, Verzicht)
Thompson: Blankets. Carlsen 2009. (Erste Liebe, fundamentalistisch-christliche Erziehung)
Auswahl biographischer Comics und Graphic Novels:
Doxiadis / Papadimitriou: Logicomix. Atrium 2010. (Biographie Bertrand Russels)
Grolleau / Royer: Charles Darwin. Knesebeck 2019. (Weltbild der Evolutionslehre)
Herzog: Lampe und sein Meister Kant. Edition Büchergilde 2017.
Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt. dtv 2019. (Biographie Hannah Arendts)
Tardi: Ich. René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B. Edition Moderne 2013. (Freiheit und Unfreiheit in Kriegsgefangenschaft)
Für den Philosophie- bzw. Ethikunterricht bieten sich auch Kurzbiographien mit einem Umfang von eins bis sechs Seiten an. Folgende Sammlungen von Biographien stellen zwar keine Graphic Novels im engeren Sinn dar, weisen aber großes Potenzial für unterrichtliche Zwecke auf: In Vita Obscura widmet sich Simon Schwartz eher unbekannten und exzentrischen Biographien. Gerade die Absurdität mancher Biographien regt zur philosophischen Auseinandersetzung an, wie z.B. das Leben des Obdachlosen Joshua Morton, welcher sich im 19. Jahrhundert zum Kaiser der USA erklärte. Einen anderen Fokus legt Pénélope Bagieus in der zwei Bände umfassenden Sammlung Unerschrocken: Es werden ausschließlich besondere und prägende Frauen der Menschheitsgeschichte vorgestellt. An den einzelnen Kurzbiographien lässt sich exemplarisch die Vorbildhaftigkeit bzw. Tugendhaftigkeit der einzelnen Leben genauso wie die Entsprechung von Geschlechtererwartungen diskutieren.