Читать книгу Philosophieren mit Comics und Graphic Novels - Группа авторов - Страница 7
Pädagogische Auswirkungen
ОглавлениеMit dem um die Jahrtausendwende neu einsetzenden Comic-Boom begann auf einmal auch die Wissenschaft, sich mehr und mehr ernsthaft für das Medium Comic Book zu interessieren. Zwar gab es schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Comic-Forschung, die jedoch oftmals dazu benutzt wurde, Comics zu diskreditieren. Zum lange Zeit vorherrschenden schlechten Ruf der Comics trug in besonderem Maße der deutsch-amerikanische Psychiater Fredric Wertham mit seinem 1954 erschienenen Buch Seduction of the Innocent bei.9
Wertham kam in seiner Studie zu dem Ergebnis, dass Comics Teufelswerk seien, zur Jugendkriminalität, Gewaltverherrlichung und Amoralität beitragen würden und deshalb verboten werden müssten. Seine Kritik richtete er hauptsächlich gegen den Verlag EC, der mit seinen Crime-, Grusel-, Horror- und Monstergeschichten beim jugendlichen Publikum ebenso beliebt war wie der DC Verlag, der mit seinen Flaggschiffen Superman, Batman und Wonder Woman bei der Jugend punktete. Darüber hinaus sah Wertham in dem hautengen Top von Phantom Lady oder in anderen leicht geschürzten Dschungelheldinnen Verführungen zu sexueller Perversion. Die Schlinge des Zauberlassos von Wonder Woman war für ihn ein Vagina-Symbol, und im Verhältnis von Batman zu Robin fand er Hinweise auf eine homosexuelle Beziehung.
Die amerikanische Comic-Industrie reagierte – um staatliche Repressalien in Form von Zensur zu vermeiden – auf die Kritik Werthams mit einer freiwilligen Selbstkontrolle, dem sogenannten Comics Code, der besagt, dass in den von ihnen publizierten Heften keine jugendgefährdenden Inhalte zu finden seien.10
In Deutschland richteten sich die Kritiker, die Werthams Argumentation plausibel fanden11, nicht nur gegen einzelne Genres, sondern generell gegen alle Comics.12 Sie verurteilten sie als »Pest«, »Gift«, »süchtig machendes Opium« oder als »Volksseuche«. Darüber hinaus behaupteten sie, Comics führten zu »Analphabetismus« und »Bildidiotismus«, »zur »Abtötung der Phantasie«, zur Bedrohung und Verrohung der »seelischen Substanz« sowie zur Untergrabung des »ethischen Kerns abendländischer Kultur«.13
Diese Auffassung galt nicht nur in der akademischen Welt, sondern setzte sich für lange Zeit im Denken der bundesdeutschen Bevölkerung fest. Wer in den 1960er und 1970er Jahren groß geworden ist, weiß, dass Eltern, Verwandte und vor allem Lehrerinnen und Lehrer davon abrieten, Comics zu lesen, weil dadurch der sprachliche Ausdruck leiden könnte und vor allem die moralischen Einstellungen degenerieren könnten.14 Vor diesem Hintergrund gab es etliche Comicgegner, die es begrüßten, dass Comics Mitte der 1970er Jahre im Literaturunterricht analysiert werden sollten. Sie meinten, den Schülerinnen und Schülern würde dadurch die Lust auf Comics ebenso vergehen wie die Lust auf Literatur.15 Interessanterweise zogen die Gegner des Comics ausschließlich die negativen Untersuchungen – und zwar ohne sie zu prüfen – für ihre Behauptungen heran, während sie die positiven Resultate amerikanischer Studien grundsätzlich nicht zur Kenntnis nahmen.16
Es gab aber auch Stimmen, die Comics nicht verteufelten. So bemerkte etwa Alfred Clemens Baumgärtner Mitte der 1960er Jahre: »Zu einer unbefangenen Arbeit mit Comics gehört, dass man sie zunächst einmal als das gelten läßt, was sie sind, statt sie zum Aufhänger einer Unterrichtseinheit zu degradieren, die ausschließlich darauf gerichtet ist, möglichst rasch und möglichst schlagend die Überlegenheit des schulischen Lektüreangebots über die bevorzugte Freizeitlektüre vermutlich des Großteils der Schüler nachzuweisen, auch auf die Gefahr hin, dass zugleich mit der Abwertung der Comics eine Abwertung ihrer Konsumenten einhergeht«.17
Tatsächlich – so fanden amerikanische Forscher bereits recht früh heraus – sind die pädagogischen Auswirkungen des Lesens von Comics durchgehend als beachtlich zu bezeichnen18: 1945 schreibt Florence Morrison Hogan, sich auf eine Untersuchung von Robert L. Thorndike19 aus dem Jahre 1941 stützend, in ihrer Masterarbeit über die Leseförderung von Schülerinnen und Schülern durch Comics, dass das Lesen von Comics zur Erweiterung des Wortschatzes beitragen könne: »He [Thorndike] found that each of the […] books [Superman, Batman, Action Comics and Detective Comics] contained about 10,000 words and about 1,000 different words other than those found in the commonest 1,000 of the Thorndike list. The four books contained 3,000 different words from those found in Thorndike‘s first 1,000 word list. Thorndike further discovered that for the most part the reading is standard English.«20 Ben Cusomano akzentuierte, dass gerade schlechte Leserinnen und Leser von Comics profitieren würden, und W.W. D. Sones, von der School of Education an der University of Pittsburg, führte 1942 an: »Analysen zeigten, dass ein Kind beim Lesen von Comic-Heften genau die gleichen Aktivitäten einübte, die in einer guten Lese-Instruktion gebraucht werden. Es lernt neue Wortsymbole durch Bilder von Dingen oder Handlungen oder durch den epischen Zusammenhang. Das Interesse für die Geschichte erweckt den Bedarf, neue Wörter zu erkennen, um dieser folgen zu können. Es bekommt Übung beim Erkennen von neuen Wörtern durch ihre Erscheinungsform in unterschiedlicher Umgebung«.21 Dass mit Comics tatsächlich Lesen gelernt werden kann, belegen Studien aus den 1970er Jahren, als Comics in amerikanischen Schulen eingesetzt wurden, um gegen den sich umgreifenden Analphabetismus anzukämpfen. Bemerkenswerte Resultate wurden dabei insbesondere in den sogenannten sozial benachteiligten Schichten erzielt, weil die Comics es gerade dort vermochten, der Leseunlust einer fernsehorientierten Jugend entgegenzuwirken.22
Bezogen sich die genannten Studien noch auf die Leseförderung von Schülerinnen und Schülern, erkannte Coulton Waugh, der Autor von The Comics, dem ersten großen Standardwerk der Comic-Sekundärliteratur, schon 1947 den generellen pädagogischen Wert von Bildgeschichten. Er wies darauf hin, dass Comics sich als die natürlichste, einflussreichste Form des Unterrichtens erweisen könnten, die der Mensch kennt.23 Waugh sollte mit seiner Prophezeiung Recht behalten, denn die Comics zogen nach und nach weltweit in die Klassenzimmer ein. In Deutschland war dies etwa zu Beginn der 1970er Jahre der Fall.24 Zunächst wurden Comics nur im Sprach-, Kunst-, Literatur- und sozialwissenschaftlichen Unterricht eingesetzt25, aber im Laufe der Zeit kamen auch Fächer wie Geschichte, Religion, Wirtschaftswissenschaften, Mathematik, Physik oder Biologie dazu. Die für den Unterricht konzipierten Materialien, die Comics zum Gegenstand haben, findet man in Monographien, Fachzeitschriften und Anthologien, und die Anzahl der Publikationen ist seit den 1970er Jahren bis heute ins Unüberschaubare angewachsen. Dies gilt allerdings nicht für den Einsatz von Comics im Philosophie- und Ethikunterricht. Diese Entwicklung sollte erst dreißig Jahre später einsetzen.