Читать книгу Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin - Группа авторов - Страница 16
1.3.2 Prinzipienorientierte Medizinethik
ОглавлениеBislang konnte sich im Bereich der medizinischen Ethik keine ethische Theorie durchsetzen, die sich ausschließlich auf eine der klassischen moralphilosophischen Theorien bezieht. In den letzten Dekaden wurden verschiedene Ansätze zur Analyse ethischer Herausforderungen im Gesundheitswesen entwickelt. Ein bekanntes Beispiel ist die Kasuistik, die auf ein in den Rechtswissenschaften und auch der theologischen Ethik etabliertes Verfahren zurückgeht. Demnach soll das konkrete vorliegende Problem durch den Vergleich mit paradigmatischen Fällen und diesbezüglich bestehenden Analogien analysiert und normativ beurteilt werden. Weitere theoretische Ansätze sind die narrative Ethik, die die moralische Relevanz detaillierter Beschreibungen und Deutungsmuster aus der Perspektive der Betroffenen akzentuiert, sowie die Care Ethik, die die Bedeutung des sozialen Kontextes und der zwischenmenschlichen Beziehungen für die ethische Bewertung hervorhebt.
Weltweite Verbreitung und Akzeptanz hat ein Ansatz gefunden, der sich explizit dem Theorienpluralismus in der Philosophie und dem Wertepluralismus in der Gesellschaft stellt: die prinzipienorientierte Medizinethik (principlism), begründet von den US-amerikanischen Bioethikern Tom L. Beauchamp und James F. Childress (Beauchamp und Childress 2019). Angesichts ungelöster moralphilosophischer Grundlagenkontroversen gibt der Ansatz den Anspruch einer umfassenden ethischen Theorie mit einem obersten Moralprinzip auf und orientierte sich stattdessen an weithin konsensfähigen „mittleren“ Prinzipien, die mit verschiedenen Moraltheorien vereinbar sind. Diese Prinzipien knüpfen an unsere moralischen Alltagsüberzeugungen an, die in ihrem moralischen Gehalt rekonstruiert und in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden (Badura 2011). Man spricht deshalb auch von einem rekonstruktiven oder kohärentistischen Begründungsansatz.
John Rawls hat mit seinem Konzept des „Überlegungsgleichgewichts“ die Debatte um den ethischen Kohärentismus wesentlich geprägt. Nach diesem Modell der ethischen Rechtfertigung sind unsere wohl abgewogenen moralischen Urteile mit den relevanten Hintergrundüberzeugungen und ethischen Grundsätzen in ein – dynamisches – Gleichgewicht der Überlegung zu bringen (Rawls 1975). Obgleich die wohl überlegten moralischen Urteile in unsere moralische Alltagserfahrung eingebettet sind, handelt es sich dabei keineswegs bloß um moralische Intuitionen. Aus den in einer Gemeinschaft weithin akzeptierten moralischen Normen, Regeln und Überzeugungen werden die „mittleren“ Prinzipien rekonstruiert, die den normativen Grundbestand des kohärentistischen Ethikansatzes ausmachen.
Die ethische Reflexion beginnt zwar mit den alltäglichen moralischen Überzeugungen, endet aber nicht mit ihnen. Sie hat vielmehr die Aufgabe,
den Gehalt dieser moralischen Überzeugungen zu klären und zu interpretieren,
verschiedene Überzeugungen in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sowie
die gewonnenen Prinzipien (auch in Form von handlungsleitenden Regeln) zu konkretisieren und gegeneinander abzuwägen.
Damit wird der Status quo der faktisch verbreiteten moralischen Überzeugungen nicht festgeschrieben, sondern weiterentwickelt. Das Überlegungsgleichgewicht bleibt ein Ideal, das zwar angestrebt, aber niemals wirklich erreicht wird, mithin eine dauerhafte Aufgabe ethischer Theoriebildung und somit ein wesentlicher Grund für die anhaltende Überprüfung der unter Praxisbedingungen getroffenen normativen Entscheidungen. Unsere Alltagsüberzeugungen sind dabei nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Prüfstein und notwendiges Korrektiv. Es besteht somit eine Wechselbeziehung zwischen ethischer Theorie und moralischer Praxis: Die ethische Theorie bietet Orientierung in der Praxis, gleichzeitig muss sich die ethische Theorie in der Praxis bewähren.
Für den biomedizinischen Bereich lassen sich 4 moralische Prinzipien rekonstruieren, welche auch in Deutschland die weithin zustimmungsfähige ethische Grundlage für Handeln im Gesundheitswesen darstellen (Beauchamp und Childress 2019):
1. Das Prinzip des Wohltuns (oder Nutzens) verpflichtet dazu, dem Patienten bestmöglich zu nützen und sein Wohlergehen befördern. Dies umfasst die Verpflichtung, Krankheiten zu behandeln oder präventiv zu vermeiden und die Beschwerden des Patienten zu lindern. Auch die traditionelle ärztliche Ethik forderte in ähnlicher Form die Sorge um das Wohl des Patienten: Salus aegroti suprema lex. Diese Maxime ist heute aber nicht mehr oberstes Gebot ärztlichen Handelns, sondern steht zunächst gleichberechtigt neben den anderen Prinzipien.
2. Das Prinzip des Nichtschadens greift den traditionellen ärztlichen Grundsatz des „primum nil nocere“ auf: Dem Patienten ist kein Schaden zuzufügen. Während das Prinzip des Wohltuns die Verhinderung oder Beseitigung von gesundheitlichen Schäden sowie die aktive Förderung des Patientenwohls fordert, bezieht sich das Prinzip des Nichtschadens auf die Unterlassung möglicherweise schädigender Handlungen, d. h. auf das Schadenspotenzial medizinischer und pflegerischer Maßnahmen. Oft können Ärzte dem Patienten jedoch nur nützen, d. h. eine effektive Behandlung anbieten, wenn sie gleichzeitig ein Schadensrisiko in Form unerwünschter Wirkungen in Kauf nehmen. In diesen Fällen ist eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden für den Patienten erforderlich.
3. Das Prinzip Respekt der Autonomie richtet sich gegen die wohlwollende Bevormundung des Patienten und fordert die Berücksichtigung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des Patienten. Dabei verlangt das Autonomie-Prinzip nicht nur negativ die Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme, sondern auch positiv die Förderung der Entscheidungsfähigkeit und die Hilfe bei der Entscheidungsfindung. Folglich hat der Arzt nicht nur die Verpflichtung, die Entscheidungen des Patienten zu respektieren, sondern auch die Verpflichtung, die Entscheidungsfähigkeit des Patienten zu fördern und den Entscheidungsprozess durch eine sorgfältige, auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmte Aufklärung zu unterstützen. Praktische Umsetzung findet das Selbstbestimmungsrecht des Patienten im informierten Einverständnis („informed consent“), das als zentrale Elemente die Aufklärung und Einwilligung umfasst: Ein informiertes Einverständnis liegt vor, wenn der Patient ausreichend aufgeklärt worden ist, die Aufklärung verstanden hat, freiwillig entscheidet, dabei entscheidungskompetent ist und schließlich seine Zustimmung gibt (Marckmann und Bormuth 2012).
4. Das Prinzip der Gerechtigkeit weist über den einzelnen Patienten hinaus und erfordert bei der Anwendung weitere Interpretation und Konkretisierung. Denn trotz weitgehenden Konsenses darüber, dass Gerechtigkeitserwägungen eine bedeutende Rolle spielen, hängt die Beantwortung der Frage, wie eine gerechte Gesundheitsversorgung konkret zu gestalten ist, wesentlich von ethischen Grundüberzeugungen ab. Vergleichsweise unkontrovers dürfte noch die Berücksichtigung des folgenden formalen Gerechtigkeitsprinzips sein: „Gleiche Fälle sollten gleich behandelt werden, und ungleiche Fälle sollten nur insofern ungleich behandelt werden, als sie moralisch relevante Unterschiede aufweisen.“ Interpretationsschwierigkeiten bereitet hier die Frage, was im Einzelfall moralisch relevante Unterschiede sind. Angesichts der zunehmenden Diskrepanz zwischen medizinisch Möglichem und öffentlich Finanzierbarem werden sich in Zukunft vor allem Fragen der Verteilungsgerechtigkeit weiter verschärfen (s. Kap. 11, 13).
Die vier Prinzipien sind prima facie gültig, d. h. verbindlich, sofern sie nicht mit gleichwertigen oder stärkeren Verpflichtungen kollidieren. So ist z. B. die für das Wohlergehen des Patienten beste Therapie geboten, solange der Patient der Behandlung nicht widerspricht und damit das Prinzip des Wohltuns mit dem Prinzip Respekt der Autonomie in Konflikt gerät. Die vier medizinethischen Prinzipien bilden allgemeine ethische Orientierungen, die im Einzelfall noch einen erheblichen Beurteilungsspielraum zulassen. Für die Anwendung müssen die Prinzipien deshalb fallbezogen interpretiert und gegeneinander abgewogen werden (zum praktischen Vorgehen vgl. Marckmann 2015). Trotz oftmals ungelöster Grundlagenfragen ermöglichen sie eine Konsensfindung auf mittlerer Ebene, da sie auf unseren moralischen Alltagsüberzeugungen aufbauen und mit verschiedenen ethischen Begründungen kompatibel sind. Die Transparenz moralischer Kontroversen wird erhöht, da sie sich als Konflikte zwischen unterschiedlich gewichteten Prinzipien darstellen lassen. Eine klare Benennung des ethischen Konflikts kann oft der erste Schritt auf dem Weg zu einer Problemlösung sein.
Gleichzeitig wird die Interpretation für den Einzelfall durch die prinzipienorientierte Medizinethik nicht vorweggenommen. Dies ist Stärke und Schwäche des Ansatzes zugleich. Auf der einen Seite bleibt er offen für verschiedene moralische Grundüberzeugungen und die Besonderheiten des Einzelfalls. Vor allem in Konfliktfällen bieten die Prinzipien Interpretationsspielräume für situationsspezifische Vermittlungen und Kompromisse. Auf der anderen Seite wird diese Flexibilität mit einem eingeschränkten Problemlösungspotential erkauft. Da die relative Gewichtung der Prinzipien nicht vorgegeben ist, lassen sich häufig keine definitiven Konfliktlösungen ableiten. Diese müssen vielmehr auf der Grundlage der spezifischen Eigenschaften des Falles und der moralischen Überzeugungen der beteiligten Personen jeweils neu herausgearbeitet werden. Damit werden intuitive Urteile und subjektive Abwägungen genau dort unvermeidbar, wo wir eigentlich auf die Hilfe ethischer Theorien besonders angewiesen wären: in schwierigen moralischen Konfliktsituationen. Diese Offenheit des Ansatzes erscheint jedoch angesichts der Vielschichtigkeit und Komplexität unserer moralischen Überzeugungssysteme angemessen, da sie es erlaubt, genau auf die individuelle Konstellation des Einzelfalls abgestimmte Lösungen herauszuarbeiten – was insbesondere in der Medizin einen wesentlichen Vorteil darstellt.
Praxistipps
Die ethische Reflexion zielt auf eine gut begründete Antwort auf die Frage: „Was sollen wir tun?“
Die Begründung sollte sich an den vier klassischen medizinethischen Prinzipien orientieren: Wohltun, Nichtschaden, Respekt der Autonomie und Gerechtigkeit
Eigene moralische Intuitionen und Überzeugungen sind immer wieder an den vier medizinethischen Prinzipien zu überprüfen, da diese die moralischen Verpflichtungen gegenüber dem Patienten und gegenüber Dritten definieren.