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2.2 Fachexpertise und Interdisziplinarität

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Bereits 1929 hatte Walter Dandy im Johns Hopkins Hospital in Baltimore über die Einrichtung und den Betrieb einer speziellen Einheit für die postoperative Nachsorge von neurochirurgischen Patienten berichtet [Hanson et al. 2001]. Dieser Ansatz blieb aber bis zur Polioepidemie zu Beginn der 50er-Jahre singulär. Die erste Intensiveinheit war somit offensichtlich eine fachspezifische Einrichtung. Mit der Polioepidemie entstand die Notwendigkeit, Patienten, die durch eine Virusinfektion akut in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten waren, durch den Einsatz von Überdruckbeatmung am Leben zu erhalten. Die Unterstützung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen und das besondere Wissen, die dazu notwendigen Maßnahmen adäquat durchführen zu können, erlangte vordergründigere Bedeutung als die Behandlung des Grundleidens selbst. Intensivmedizin eröffnet die Möglichkeit und das erforderliche Zeitfenster, das Grundleiden zu behandeln und dem Organismus die Chance zur Heilung zu geben. Daraus entstand das Modell einer „allgemeinen“ nicht fachgebundenen Intensivmedizin im Gegensatz zur fachspezifischen wie zum Beispiel der oben erwähnten, neurochirurgischen Intensivmedizin. In den Folgejahren entwickelte sich eine bis heute anhaltende Kontroverse um die Vor- und Nachteile von fachspezifischer versus „allgemeiner“ Intensivmedizin. Ohne fachspezifische Anforderungen in ihrer Bedeutung minimieren oder gar ignorieren zu wollen, bestimmen heute mindestens ebenso viele allgemein-intensivmedizinische und organisatorische Kenntnisse wie fachspezifische das Outcome und die Qualität einer Intensivstation. Diese Aussage wurde nachdrücklich durch die Ergebnisse einer Studie unterstrichen, die keinen Outcome-Unterschied beim Vergleich der beiden Modelle finden konnte und schlussfolgerte: „In a diverse group of United States hospitals, risk-adjusted in-hospital mortality did not differ between specialized and nonspecialized ICUs. Investment in ICU specialization may not improve mortality.“ [Lott et al. 2009]

Die Diskussion war und ist weit mehr von berufspolitischen Aspekten als von Sinnhaftig- oder Inhaltlichkeit bestimmt. Der bei weitem größte Anteil von dem, was wir heute unter Intensivmedizin verstehen, ist fachübergreifend identisch. Moderne Intensivmedizin schafft und sichert den Rahmen und organisiert die Interdiziplinarität, um ein Leben zu erhalten und gleichzeitig die größtmögliche Expertise an das Bett des individuellen Patienten zu bringen.

Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin

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