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Vorwort

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Im Verlauf meiner langjährigen Beschäftigung mit der sozialen Entwicklung von Kindern im Grundschulalter verengte sich mein Interesse immer mehr auf die spezifische und vernachlässigte Gruppe der schüchternen und sozial ängstlichen Schülerinnen und Schüler. Es wurde mir zunehmend bewusst, dass die Stillen in der Schule die Vergessenen sind. Das war selbst in der Forschung lange Zeit so.

Die damals zahlreichen auf aggressiv-störendes Verhalten ausgerichteten Publikationen motivierten mich erst recht dazu, in erster Linie die schüchternen Kinder in den Blick zu nehmen. Ganz im Gegensatz zur Tatsache, dass soziale Ängstlichkeit und Schüchternheit an unseren Schulen mindestens ebenso verbreitet sind wie Aggressivität und störendes Verhalten, wird der Leidensdruck von schüchternen und stillen Kindern auch heute noch leicht übersehen.

Schüchternheit ist ein sehr verbreiteter und gewohnter Bestandteil des menschlichen Verhaltens und längst nicht in jedem Fall ein Problem. Wer hat nicht schon Situationen erlebt, in denen man wirklich oder vermeintlich zu schüchtern gehandelt hat und sich ein mutigeres Vorgehen gewünscht hätte. Problematisch wird Schüchternheit vor allem dann, wenn sie das angemessene Verhalten mit großer Regelmäßigkeit in einer Vielzahl alltäglicher Situationen blockiert. Die Blockade beruht einerseits auf überzeichneten sozialen Befürchtungen (sie werden mich auslachen/sie werden mich ablehnen/ich werde dumm dastehen) und andererseits auf einem ausgeprägten Vermeidungsverhalten, das sich bis zur Schulverweigerung steigern kann. Auch schon bei milderen Formen von Schüchternheit sind die reduzierte Unterrichtsbeteiligung und die eingeschränkten Beziehungen zu Gleichaltrigen typisch.

Schüchternheit tangiert aber nicht nur einzelne Handlungsbereiche, sondern die gesamte Persönlichkeit, insbesondere auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstvertrauen. Wegen des angeschlagenen Selbstvertrauens neigen Schüchterne dazu, ihre Fähigkeiten zu unterschätzen, woraus wiederum negative Folgen für das Lernen, die Lernfreude und die Erfolgszuversicht entstehen. Schüchterne äußern häufiger die Formel »Ich weiß nicht« als ein überzeugtes »Das kann ich«. Eltern kennen diese Schwierigkeiten nur zu gut. Viele Mütter und Väter mussten sich seit der Kindergartenzeit sagen lassen »Ihr Kind sagt nichts, macht nicht mit, steht immer abseits«. Eltern und Lehrpersonen gelingt es häufig nicht, angemessen auf das gehemmte und ängstlich vermeidende Verhalten der Schüchternen zu reagieren. Aus Mangel an wirkungsvolleren Maßnahmen beschränken sich Erwachsene zu oft auf meist wirkungslose Aufforderungen wie »Mach doch besser mit im Unterricht« oder »Sag doch auch mal was«. Die irrige Meinung, Schüchternheit lasse sich mit etwas mehr Motivation und gutem Willen von den Betroffenen selber überwinden, steht im Widerspruch zur Vielschichtigkeit und Tiefe des Problems.

Besonders im Rahmen der Schule muss sich deshalb ein professionelles Verständnis von Schüchternheit und sozialer Ängstlichkeit entwickeln. Dazu gehört nicht nur das theoretische Wissen um die Hintergründe und Auswirkungen von sozialen Hemmungen auf die Persönlichkeit und das Lern- und Sozialverhalten von Schülerinnen und Schülern, sondern auch ein fundiertes Handlungswissen im Umgang mit den Betroffenen. Wo Lehrpersonen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stoßen, sollten, wie bei anderen schulischen Schwierigkeiten, spezialisierte Fachpersonen unterstützend zur Seite stehen. Ich bin überzeugt, dass die vorliegende Sammlung von sehr sorgfältig ausgewählten Beiträgen zu zentralen Aspekten von Schüchternheit in der Schule den Leserinnen und Lesern wertvolle Einsichten und Kenntnisse vermittelt und dabei hilft, die Schüchternen in Zukunft weniger zu vergessen.

Georg Stöckli

Schüchterne und sozial ängstliche Kinder in der Schule

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