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Ethik und Weltkontakt
ОглавлениеThilo Hagendorff
Eines von vielen Gedankenspielen aus der praktischen Philosophie ist jenes von Carruthers über Astrid die Astronautin. Es geht wie folgt:
Nehmen wir einmal an, Astrid sei eine sehr reiche Frau, die genug von ihrem Leben auf der Erde hat und sich daher eine Weltraumrakete kauft, damit sie dieses Leben für immer hinter sich lassen kann. Sie hebt auf einer Flugbahn ab, auf der sie schließlich unser Sonnensystem verlassen wird, und sie nimmt nicht einmal ein Funkgerät oder andere Kommunikationsmittel mit. Wir können daher sicher sein, dass sie nie wieder irgendeinen Kontakt zu einem anderen Menschen haben wird. Nehmen wir nun weiter an, dass Astrid eine Katze als Begleitung mitgenommen hat. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Reise beginnt sie nun damit, die Katze aus Langeweile als Dartscheibe oder etwas anderes zu benutzen, was der Katze unsägliche Schmerzen bereitet. Würden wir nicht denken, dass Astrids Tun völlig falsch ist? (Carruthers 2014: 234)
Carruthers nutzt die Ausführungen über die Astronautin Astrid, um seine ethische Theorie zu untermauern. Er beschäftigt sich mit der Frage nach dem moralischen Status von Individuen, mit dem Argument der menschlichen Grenzfälle, mit Fragen nach der Anwendung des Kontraktualismus auf bestimmte ethische Problemstellungen etc. Exemplifizierung finden seine Überlegungen schließlich an der argumentativen Auflösung der Frage, ob es moralisch falsch ist, wenn Astrid die Astronautin in ihrem Raumschiff eine Katze als Dartscheibe benutzt. Folgt man an dieser Stelle Heinrichs Systematik hinsichtlich der Klassifizierung von ethischen Fallbeispielen (Heinrichs 2008), dann handelt es sich hier um ein fiktives Handlungsszenario, welches in systematisch-argumentativer Hinsicht zur positiv-heuristischen Veranschaulichung ethischer Annahmen eingesetzt wird. Generell sind Fallbeispiele als methodische Ergänzung zur ethischen Theorie zu verstehen, nicht jedoch als Bestandteil der Theorie selbst. Andernfalls wäre Ethik bloße Kasuistik. Und dennoch geben gerade Fallbeispiele in der Regel zuverlässige Hinweise auf die grundsätzliche Ausrichtung ethischer Theoriemodelle.
Diese können sich, so die hier vertretene These, einerseits daran orientieren, Ethik gewissermaßen praxisnah in Kontakt mit „realen“ Verhältnissen zu bringen, oder sie können sich andererseits darin erschöpfen, Weltkontakt zu scheuen und im schwerkraftlosen Raum bloßer Gedankenakrobatik zu verbleiben. Ähnlich, wie beispielsweise Bourdieu sich von der Lehnstuhlsoziologie abgegrenzt hat und nahezu zeitlebens eine Soziologie in den Blick genommen hat, welche qua Empirie Weltkontakt sucht und damit dem „Elend der Welt“ (Bourdieu 2009) unmittelbar ausgesetzt ist, so kann die Ethik sich dazu entscheiden, aus der Leichtigkeit akademischer Argumentationsturniere herauszutreten und den diskursiven Kontakt zu den Verhältnissen zu suchen. Freilich soll an dieser Stelle mit dem Ausdruck des „Weltkontakts“ keine Anspielung auf korrespondenztheoretische Annahmen über eine anzustrebende Deckung von Diskursen und Wirklichkeit getätigt werden, dennoch geht es um eine gewisse Öffnung der ethischen Diskursführung für empirische Beobachtungen (Doris/Stich 2005), welche wiederum eine verstärkte „Nähe“ zwischen Ethik und sozialer Praxis begründen können. Diese Nähe oder Bezogenheit von Ethik auf lebensweltliche „Realitäten“ ist nicht nur, aber insbesondere in der praktischen Philosophie, in welcher es zum einen um die maximal akribische Exegese klassischer ethischer Theoriemodelle und zum anderen um das Auffinden des einen richtigen, letztgültigen Modells von Ethik geht, vielerorts abhandengekommen. Letzteres wird etwa von Höffe als „Fundamentalethik“ bezeichnet, welche kontrastiert wird mit einer angewandten Ethik, welche sich im Zuge der zunehmenden Differenzierung der sozialen Praxis auf bestimmte Gesellschaftsbereiche spezialisiert hat (Höffe 2013: 106).
Neben der angewandten Ethik entwickelt auch die Fundamentalethik ihre Argumente oftmals unter Hinzuziehung von Fallbeispielen. Prominentere Fallbeispiele oder Gedankenspiele als jenes mit Astrid der Astronautin sind etwa das Heinz-Dilemma, die Idee des Schleiers des Nichtwissens, das Trolley-Problem und andere. Gemeinsam ist all jenen Fallbeispielen und Gedankenspielen, dass sie insofern Praxisbezug missen, als dass die jeweils konstruierten Situationen sich empirisch so gut wie nie beobachten lassen. Daher ist auch ihre Reflexion mit den Mitteln der Ethik in gewissem Sinne müßig. Schließlich findet eine Implementation der moralischen Konditionen jener philosophischen Traktate, welche Fundamentalethik betreiben, in konkrete Handlungszusammenhänge quasi nicht statt. Pragmatisch geboten wäre daher, dass ethische Diskurse „wirklichen“ Problemlagen begegnen, sodass das Wissen, die Reflexionshilfen oder Orientierungsleistungen, welche die Ethik geben kann, in den jeweiligen Lebensbereichen, deren Praxisprobleme die Ethik reflektiert, Resonanz finden können. An dieser Stelle gilt es demnach, aus der Perspektive einer Metaethik dafür zu plädieren, dass Ethik erneut Weltkontakt gewinnt, dass sie sich davon verabschiedet, bloße Teilnehmerin an akademischen Argumentationsturnieren zu sein, und sie stattdessen qua Gespür für die Empirie die Nähe zu den Verhältnissen sucht und zu einer Instanz von lebensweltlicher Relevanz wird.
Fraglich ist, ob eine solche Ethik überhaupt darauf angewiesen ist, dass sie durch eine Fundamentalethik flankiert wird. Schließlich könnte man argumentieren, dass die Fundamentalethik eben auf möglichst grundlegende Weise festsetzt, welche Grundsätze die in Kontakt zu den Verhältnissen stehende, auf bestimmte Sparten der sozialen Praxis spezifizierte Ethik in Anschlag bringen kann. Doch es darf bezweifelt werden, dass es hier ein tiefergehendes Abhängigkeitsverhältnis gibt. Im Gegenteil ist es sogar so, dass konstatiert werden kann, dass die Identifizierung höchster, universell gültiger und allgemeiner Prinzipien in der Fundamentalethik – seien dies der kategorische Imperativ, moralische Rechte, Nützlichkeitsprinzipien etc. – mit dem Zweck der daraus erfolgenden Ableitung spezifischer, auf bestimmte Praktiken gemünzter Verhaltensregeln eher problematisch ist. Unabhängig davon, dass überhaupt unrealistisch ist, dass in der sozialen Praxis eingespielte Handlungsroutinen regelmäßig auf fundamentalethische Prinzipien hin reflektiert werden, so ist festzustellen, dass dies auch gar nicht per se wünschenswert wäre. Schließlich verlöre sich so die Sensibilität für die Situation, für den jeweiligen sozialen Kontext, für die jeweiligen Eigenheiten der moralisch agierenden Akteure. Die unveränderliche, situationsübergreifende Einhaltung beispielsweise rein utilitaristisch oder rein deontologisch orientierter Verhaltensprinzipien wäre in vielen Fällen, je nach Besonderheit der Situation, höchst unangemessen.
Dem folgend kann eine Fundamentalethik, welche mit abstrakten Gedankenspielen operiert, um schließlich für bestimmte Verhaltensprinzipien argumentieren zu können, mit einer Funktion von Ethik in Verbindung gebracht werden, welche mit Luke (1995) als „Zähmung“ (taming) umschrieben werden kann, während eine Ethik, welche Weltkontakt pflegt, mit der der „Zähmung“ entgegengesetzten, ebenfalls von Luke stammenden Idee der „Verwilderung“ (going feral) kontrastiert werden kann. „Zähmung“ meint die Restriktion von Handlungsmöglichkeiten, das Einhalten von Verhaltensprinzipien, den Einsatz von Ethik zur Lenkung des Handelns in einen bestimmten Korridor des moralisch Akzeptablen. „Verwilderung“ auf der anderen Seite spielt umgekehrt auf die Freisetzung von Handlungsmöglichkeiten an, auf die Erlangung von persönlicher Autonomie. Während „Zähmung“ einer Art paternalistisch motivierten, ethischen Gesetzgebung entspricht, zielt „Verwilderung“ auf die Reaktivierung von Autonomie und Mitgefühl als Quelle moralischer Rücksichtnahme. „Verwilderung“ diszipliniert moralische Akteure nicht zur Einhaltung von Verhaltensprinzipien, sondern sie emanzipiert von der Unfähigkeit, in Situationen, in denen moralisch relevante Entscheidungen getroffen werden müssen, autonom und mitfühlend handeln zu können.
Nun kann freilich eingewendet werden, dass auch eine angewandte Ethik, welche in einem durch empirisches Beobachteten geschulten Kontakt zu den sozialen Verhältnissen steht, „zähmend“ agieren kann, indem sie Vorschriften darüber aufstellt, welche Handlungen moralisch geboten respektive verboten sind. Doch eine derart agierende Ethik wirkt rasch befremdend, wenn nicht gar verschroben, schließlich wird es möglich, gerade durch ihre fachkundige Praxisnähe die mit ihr verbundenen Dekrete in direkten Abgleich mit ureigenen Interessen, Überzeugungen und Wunschsetzungen zu bringen. Derart wird plötzlich das immense Konfliktpotenzial deutlich, welches die angewandte Ethik mit sich bringt, indem sie das Bestehende mit dem ethisch Richtigen kontrastiert. Die Ethik wirkt derart „ungemütlich“, ja offensichtlich taktlos, als würde sie bar jeglicher interaktionell notwendiger Rücksichten agieren und als wisse sie nicht, dass es weitreichende, sozial verankerte „Ausschaltungswerte“ (Luhmann 2008: 186) für ethisches Reflektieren gäbe, welche sich stabilisierend auf eingespielte soziale Handlungszusammenhänge auswirken. Sobald Ethik nicht mehr mit abstrakten Verhaltensprinzipien operiert, deren situationsspezifische Konkretion im Endeffekt eine bloße Seltenheit ist, sondern sie die Lebens- oder Arbeitswelt moralischer Akteure direkt betrifft und unmittelbar in Beziehung gesetzt werden kann zur bestehenden sozialen Praxis, riskiert sie, in Konflikt zu geraten mit der Intention moralischer Akteure, die Gefahr der Restriktion der eigenen, subjektiv wahrgenommenen Handlungsfreiheit abwehren zu müssen. Doch eine derart „gefährliche“ Ethik hat wenige Erfolgsaussichten. Daher bietet es sich an, dass sie, anstatt auf „Zähmung“ auf „Verwilderung“ setzt – zumal, wie sich aus dem eben gesagten ergibt, kommunikationspsychologische Überlegungen darauf hindeuten, dass Ethik andernfalls als bloße Belastung in der Kommunikation wahrgenommen wird, welche rasch Reaktanz provoziert. Normative Geltungsansprüche, welche offensichtlich „zähmen“ wollen, verpuffen eher, als dass sie tatsächlich eingelöst werden.
„Zähmung“ funktioniert, solange es darum geht, moralisch zu fixieren, dass man eine Katze nicht als Dartscheibe benutzen darf, dass man eine Straßenbahn besser eine einzelne als fünf Personen überfahren lassen sollte, dass man hinter dem Schleier des Nichtwissens von der eigenen sozialen Position abstrahieren muss etc. – weil die „Zähmung“ nicht in Bezug zur eigenen Lebens- oder Arbeitswelt gesetzt werden kann. Alsbald sich dies jedoch ändert und Ethik, welche Weltkontakt sucht, plötzlich persönliche Relevanz erhält, setzen sich „Zähmungsversuche“ nicht nur dem Verdacht aus, paternalistisch zu sein, sondern sie sehen sich gleichzeitig einer extremen Ablehnungs- und Verteidigungsbereitschaft entgegengestellt. Anders sieht es aus im Falle der „Verwilderung“, mit welcher, wie oben angesprochen, eine angewandte Ethik, welche gezielt Weltkontakt pflegt, in Verbindung gesetzt werden kann. Hier geht es nicht mehr darum, Restriktionen gegenüber solchen Handlungszusammenhängen aussprechen zu können, welche als moralisch falsch erachtet werden. Vielmehr geht es um die Vermittlung von Wissen, um das Hinweisen auf blinde Flecken, um bloße Aufmerksamkeitsverschiebungen, mit dem Effekt, Handlungsfreiheit gerade nicht zu senken, sondern zu steigern. Es geht um die Ausweitung von Autonomie, um die persönliche Weiterentwicklung, um die Aneignung von Eigenverantwortlichkeit.
Während „Zähmung“ ethische Fremdbestimmung meint, strebt eine an „Verwilderung“ orientierte Ethik die Befähigung von moralischen Akteuren an, moralisch relevante Entscheidungen auf der Grundlage von umfassendem Wissen und Einfühlungsvermögen selbstverantwortlich zu treffen. Sie erkennt, geschult durch ihre Bereitschaft, als Beobachterin erster Ordnung soziale Praxis wahrzunehmen, dass diese durchsetzt ist von versteckten Glaubens-, Überzeugungs- und Wertsystemen, welche es nicht allein gilt, manifest zu machen, sondern überdies zu reflektieren. Ethik, so könnte man meinen, wäre daher gleichsam ein Geschäft sozialer Superbeobachter, welche, ähnlich Künstlern, „merken, was die meisten anderen Menschen nicht merken […]“ (Rorty 1989: 257–258). So schreibt auch Adorno:
An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen – ein Glück, das sie im Verhältnis zur Umwelt oft genug zu büßen haben –, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen oder sich aus Realitätsgerechtigkeit zu sehen verbieten. (Adorno 1966: 49)
Doch eine Ethik des Weltkontakts und der „Verwilderung“, so sehr sie auch auf die Emphase Einzelner angewiesen sein mag, sollte stets nach der Ausweitung ihrer selbst streben. Das Projekt der ethischen „Verwilderung“ bedarf keiner kleinen Klasse an Superbeobachtern, welche Gesellschaft vermeintlich von außen wahrnehmen können. Zwar geht es tatsächlich um die Erlangung einer gewissen Distanz zu sozial eingespielten Handlungsroutinen und Deutungsmustern, allerdings darf diese Distanz nicht missverstanden werden als vollständige Aufkündigung der eigenen Gebundenheit an einen bestimmten sozialen Ort, an eine bestimmte soziale Formatierung. Eine Ethik, welche gezielt solche Reflexionen tätigt, welche explizit Relevanz für bestimmte soziale Praxisfelder aufweisen, ist sich dieser Abhängigkeiten bewusst – und strebt dennoch an, das Prinzip der „Verwilderung“ ebenfalls auf sich selbst anzuwenden. Schließlich kann sie dabei umso mehr jene Abhängigkeiten in den Blick nehmen, je mehr sie Weltkontakt sucht.