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1. Moralische Erfahrungen
ОглавлениеBildung ist, um es kurz zu pointieren, der Weg von der Erfahrung zur Erfahrenheit. Erfahrung darf man damit nicht im Sinne der Sammlung von Erlebnissen verstehen. Das englische „experience“ ist in diesem Sinne meist missdeutbar („make the experience“). Erfahrung in dem hier gemeinten Sinne kommt zustande, indem ein (erlebtes) Ereignis erst dadurch zur Erfahrung wird, dass man 1. es hervorhebt, indem man es erinnert, 2. es sich erzählt und ihm damit eine weiter erzählbare Form gibt, 3. die Erzählung für sich selbst und meist auch für andere wiederholt, 4. Reaktionen auf die Erzählung einfügt oder abwehrt, 5. dieser Erfahrung eine moralische Bedeutung gibt, 6. durch die Iterität des Erzählens – nach außen und/oder nur nach innen – und durch die Prägnanz der Bedeutung, die dabei gestärkt wird, rückwirkend die moralische Identität und Kompetenz stützt oder verändert.
Unsere ersten moralischen Erfahrungen sind familiär. Durch Erinnerung verstärkt, ergreifen sie uns erst voll, wenn wir sie nicht mehr unmittelbar in der Begegnung mit anderen Menschen machen können. Die Erinnerung verschärft eine Anwesenheit, die im Leben zu schwach und zu wenig aufdringlich war:
Nicht alle Menschen haben die gleichen Erlebnisse, die durch wiederholte Erinnerung, durch Selbsterzählung in der Aneignung mit Worten, die uns bedrängen, bei uns als bleibende Erfahrung ankommen. Das eigene Tun und das eigene Selbst getrennt zu sehen, sind wir gewohnt, ohne es so recht zu bemerken. Dadurch treten wir in Spannung zu unserem Tun, distanzieren uns, kehren zu uns zurück, uns bejahend und verneinend, uns bestätigend oder bereuend. Diese Erfahrung mit uns selbst ist eine moralische Erfahrung. Eine überlegte Selbstdistanz ermöglicht den Blick auf Gut und Böse, auf Richtig und Falsch, auf die grundlegenden moralischen Entscheidungen. Unser Ziel ist dabei, die Selbstachtung aufrechtzuerhalten, auch unter ungünstigen Bedingungen den Maximen, die wir für richtig halten, zu folgen.
Die moralische Erfahrung kann auch eine Gotteserfahrung sein. Gott ist der Ort unserer stärksten Bindung, die Abhängigkeit, ohne die wir nicht frei zu fühlen glauben, die Geborgenheit, die wir uns als Herkunft und Ziel wünschen. Die Gotteserfahrung steht dann im Zusammenhang mit der Erfahrung der moralischen. Verantwortung, die sich an der Unausweichlichkeit des anderen und/oder an der Selbstachtung orientiert Denn Gott ist eingebunden in die Frage, die der andere an uns in der Endlichkeit und Begrenztheit seines Lebens stellt. Die Frage „Wo ist Gott?“ wird beantwortet: im Antlitz des anderen, und zwar in dessen leiblich begrenzten, individuellen Antlitz, wo Barmherzigkeit gefordert ist und wo Gerechtigkeit geschuldet ist. Sie wird aber auch beantwortet durch die Erfahrung: „in unserem Herzen“, eine Antwort, für die religiös orientierte Autoren wie Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus und Blaise Pascal unterschiedliche Zeugenschaft und spekulative Gedanken beigetragen haben.
Die Ethik als Erfahrenheit beruht, wie Hannah Ahrendt und Paul Ricoeur in Anlehnung an Kants dritter „Kritik“ zu zeigen versuchten, auf einer Schule der Urteilskraft, ebenso wie dieser Gewinn von Erfahrenheit aus Erfahrungen durch eine Schule der Vernunft und der Sensibilität erreicht wird. Ohne moralische Erfahrung tritt die Vernunft gleichsam auf der Stelle. Erfahrenheit bringt sie dorthin, wo sie ihre Kraft entfalten kann. Argumente ohne Erfahrung haben Gründe, aber keinen Grund und Boden. Erfahrung freilich ohne vernünftige Überlegung und ohne die Anstrengung plausibler Argumente wäre blind, aber Vernunft ohne moralische Erfahrung wäre leer.
Da moralische Erfahrungen praktisch sind, d.h. den Menschen existentiell und in all seinem Tun betreffen, kann man auch sagen, dass eine erfahrungsbezogene Ethik nicht rein theoretisch sein kann. Da sie mit der Lebenspraxis und mit vielen moralrelevanten Erfahrungen in dieser unlösbar verbunden ist, gilt für Ethik-Lehrer und Lehrerinnen der Satz: Wer nicht so lebt, wie er lehrt, wird bald so lehren, wie er lebt.
Das Programm „moralische Bildung“ ist dabei eine Bildung ohne Einbahnstraße. Bildung ist nicht eine abrufbare intellektuelle Demonstration, sondern ein dauerhaftes Reservoir mit fortbestehender Offenheit. Der Weg der Erfahrung zur Erfahrenheit als Weg der Bildung, von dem ich ausging, ist ein Weg der Habitualisierung. Moralische Bildung ist ein Phänomen der „Erfahrenheit“. Sie entsteht aus dem wiederholten Durchlaufen von Erkenntnisgewinn. Aber wodurch wird dieser Gewinn so erzielt, dass er mehr ist als ein abrufbarer kenntnisreicher Bewusstseinsinhalt? Moralische Identität bildet sich auf dem Rücken von Handlungen. Was der Mensch tut, wirkt auf ihn zurück und bildet ihn. Lernen ist auch ein Tun – aber in der hier gemeinten Bildung kommt es nicht auf das äußere Ergebnis, eine Benotung, eine Publikation, einen Gewinn von Ansehen, an, sondern auf die innere Veränderung der Person. Dazu gehört auch Lernen durch Lesen. Ich habe viel über narrative Ethik, auch über Literaturethik geschrieben. Dazu liegen einige Arbeiten vor, auch die glänzende Disseration von Regina Ammicht-Quinn, die Literatur-Interpretation mit der theologischen Theodizeefrage verbindet und m.E. immer noch das Beste ist, was man darüber lesen kann. Daraus ist fast eine kleine Schule entstanden. Man kann sich durch Hören von Erzählungen und durch Lesen von (qualitativer) Literatur verändern. Paul Ricoeur hat dafür den Dreischritt: „préfiguration – configuration – refiguration“ vorgeschlagen (Ricoeur 1966: 173–206). Freilich geht es nicht, worauf ich oft aufmerksam gemacht habe, um den unmittelbaren Gewinn von eindeutigen Bewertungen, von Normen oder von Tugenden, sondern um einen Gewinn moralischer Auseinandersetzung und Identitätsbildung durch „Modelle“, die strittig bleiben dürfen, und deren Fragen an uns selbst zur moralischen Nachdenklichkeit anhalten. Wir werden nämlich moralisch verunsichert – das ist der Sinn einer Bildung, die keine Ausbildung ist, sondern „Einbildung“ im alten Sinne von: Bildung in den Menschen. Leider ist das Wort „eingebildet“ tief von der Kanzel des Predigers Meister Eckhart heruntergefallen und im üblichen Sprachgebrauch zum negativ bewertenden Wort geworden.
Am Anfang dieses innerlichen Weges zur Herausbildung von moralischer Erfahrenheit steht nicht ein Suchen nach Rezepten. „Aufgefunden“ wird ein emphatischer, wenn auch ungesicherter Zustand, eine moralische „Befindlichkeit.“ Aus dieser Ursprungserfahrung geht ein neu verortetes Selbst hervor, das kontingent-leiblich bleibt, aber gerade darin den Wegweiser von sich weg findet. Daraus wiederum ergibt sich eine Lebensführung im Sinne eines Woraus statt eines Woraufhin und eines Worumwillen als (überholende, transzendierende) Kritik der von Zielen angezogenen nur vorausplanenden Vernunft, bei der die Ethik nur hinterherhinken kann. Ethik fragt dann nicht: Sollen wir das tun? Sie fragt nur noch: Wenn wir das nach den Plänen des sogenannten Fortschrittes tun, wie können wir für die Probleme, die daraus entstehen, abwägende Problemlösungen finden? Es gibt dann Ethik nur noch konsekutiv – eine präventive Ethik hat abgedankt.
Ich schlage vor, der teleologischen Ethik im Nachhinein, die ich als „nachhinkende“ Ethik verstehe, etwa im Sinn von Autoren wie Hans Jonas und Erich Fromm eine Ethik der Voraussicht aus Erfahrenheit an die Seite zu stellen. Warum das wichtig ist, ist leicht mit Beispielen zu erläutern: Nehmen wir dazu aus den letzten Jahrzehnten die Debatte um die Atom-Energie und die Patentierung. Voraussicht aus Erfahrenheit stärkt aber auch Themen wie gerechte „Wasser-Verteilung“, moralisch angenommene Migrationskultur oder religiös gestützte Gewalt.