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Was bedeutet Ethik ‚in‘ den Wissenschaften? Möglichkeiten zur Auflösung einer räumlichen Metapher

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Philipp Richter

Die „Ethik in den Wissenschaften“ ist seit mindestens 1985 Programm an der Universität Tübingen. In einem Gesprächskreis ging es von Anfang an darum, in interdisziplinärer Konstellation „ethische Fragen zu besprechen, die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast/Ammicht Quinn 2015: 9). 1990 wurde das „Zentrum für Ethik in den Wissenschaften“ gegründet, das im vergangenen Jahr sein 25jähriges Jubiläum feierte. Mit Gründung des Zentrums erfolgte zudem die Einrichtung der Lehrstühle „Ethik in den Biowissenschaften“ und „Ethik in der Medizin“ (ebd.). Darüber hinaus wurden von 1991–2001 im Rahmen des Graduiertenkollegs „Ethik in den Wissenschaften“ zahlreiche weitere Projekte im Feld der anwendungsbezogenen Ethik durchgeführt. Wichtige Impulse für Lehre und Forschung in der anwendungsbezogenen Ethik gehen von den Mitarbeitenden des Ethikzentrums aus, wie die zahlreichen Projekte und Publikationen zeigen; nicht zuletzt ist das die Entwicklung eines Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums für die Universitäten in Baden-Württemberg (siehe Maring 2005). Das Programm einer „Ethik in den Wissenschaften“ hat sich also institutionell etabliert.

Doch warum enthält das Programm gerade diese womöglich etwas sperrige Formulierung? Weshalb lautet der Titel nicht vielmehr „Angewandte Ethik“ bzw. „Anwendungsbezogene Ethik“, „Wissenschaftsethik“, „Ethische Fragen der Einzelwissenschaften“ oder „Ethik der wissenschaftlich-technischen Zivilisation“? Nein – diese Vorschläge scheinen nicht zu treffen, was hier eigentlich gemeint ist. Vielmehr ist die Verwendung der Präposition „in“ entscheidend.1 Ihre metaphorische Verwendung hat sich im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verdichtet, der dabei verschiedene Bedeutungsdimensionen vereint. Um die Auflösungsmöglichkeiten der Metapher, also um eine Klärung des Programms und das Aufdecken seiner begrifflichen Spannungen soll es im Folgenden gehen. Damit will ich weitere Perspektiven für die methodologische Reflexion des ethischen Nachdenkens unter „Anwendungsbedingungen“ eröffnen. Denn bekanntlich sind die Bezeichnung, der Begriff, die Methode und Zielsetzung einer „Angewandten Ethik“ in der Diskussion heftig umstritten (Überblick in: Richter 2015; siehe Gehring 2015: 27–32; Hubig 2015: 193–205; Kaminsky 2005; Wolf 1994: 187f.), obwohl freilich in der Forschungspraxis unter diesem Titel methodisch überzeugende und erkenntnisreiche Projekte durchgeführt werden. Aber nicht jede Aktivität, die Anspruch macht, „Ethik“ zu sein, ist ohne weiteres als solche zu bezeichnen. Hier müssten methodische Standards gesichert und auch die Leistung und Grenzen des Faches „philosophische Ethik“ klarer benannt werden. Wie z.B. lässt sich das philosophisch fundierte Nachdenken über moralische Urteile und gelebte Normen und Werte, also das ethische Reflektieren im engeren Sinne, in der Praxis von anderen Formen des Nachdenkens unterscheiden? Das Titelwort „Ethik“ steht jenseits des selbstzweckhaft betriebenen akademischen Faches – also auch als Ethik „in“ den Wissenschaften – häufig unter dem Verdacht der unbegründeten Moralisierung und Bevormundung, der politischen Akzeptanzbeschaffung oder des „Etikettenschwindels“ zur Verschleierung eigentlich strategischer Interessen (siehe Dietrich 2007: 111f.; Gehring 2015: 37–39; Poscher 2013: 437f.).

Zur Klärung der Frage, was „Ethik in den Wissenschaften“ als eine Ethik unter „Anwendungsbedingungen“ ausmacht, ist es hilfreich, die Metaphorik des Topos genauer zu betrachten, um diese dann exemplarisch mit programmatischen Texten des Ethikzentrums, die hierzu konzeptuelle Überlegungen anstellen, in ein Verhältnis zu setzen. Das Ethikprogramm des IZEW wird vor allem mit Metaphern des Räumlichen gefasst (vgl. IZEW 2010: 4f.; siehe Hasenclever 1992: 28; Mieth 2007: 39ff.; Engels 2005: 146):

Bei der Forschungsarbeit treten „in“ den Wissenschaften auf Werte und Normen bezogene Fragen auf, die rechtlich oder moralisch nicht eindeutig geregelt sind und daher mit den Mitteln der Ethik geklärt werden müssen. Diese Fragen sollen „in“ den betroffenen Disziplinen und nicht „neben“ diesen bearbeitet werden. Erforderlich sei demnach nicht eine Ethik, die „nach“ oder „zu den Wissenschaften“, sondern „in den Wissenschaften selbst“ stattfindet.

Außer den eher räumlichen Metaphern „in“, „neben“ und „zu“ kommt mit „nach“ auch eine zeitliche Metapher vor. Wie Werner Köster2 im Wörterbuch der philosophischen Metaphern ausführt, kann „Raum“ als „Meta-Metapher“ bezeichnet werden, die ein „ganzes Feld von topischen Begriffen […] strukturiert“ und somit grundsätzliche Unterscheidungs-Möglichkeiten für jeden Bereich des Denkbaren erlaubt. Hierzu gehören Begriffe wie z.B. innen oder außen, peripher oder zentral, höher oder tiefer sowie Ebene, Stufe, Schwelle und viele mehr (siehe Köster 2007: 278). Weiter zählt hierzu insbesondere die räumliche Metapher der „Grenze“, die mit Blick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisvorgang mit dem Erfordernis der Gedankenklärung, der methodischen Sicherung und Wiederholbarkeit von Erkenntnis als „Definieren“, also als Einführen von begrifflichen Unterscheidungen, besonders relevant ist (siehe Zill 2007: 144f.). Nun könne, so wird oben in der Paraphrase ausgeführt, anwendungsbezogene Ethik einerseits „in den Wissenschaften selbst“, also im „begrenzten Bereich“ einer Wissenschaft, betrieben oder andererseits fälschlicherweise neben diesem Bereich, nach diesem oder zu diesem hin praktiziert werden. Freilich funktioniert hier „Bereich“ wiederum nur im übertragenen Sinne, da die Wissenschaften nicht an bestimmte Orte gebunden sind und auch nicht als materielle „Container“, die etwas enthielten, aufgefasst werden können. Intuitiv kann jedoch wohl jeder mit dieser „verräumlichten“ Redeweise etwas anfangen, so dass „Ethik in den Wissenschaften“ bereits als etablierter Topos gelten kann, der sich zur Argumentation, Plausibilisierung und Illustration eignet und dessen Metaphorik „eine besondere Kraft zu überzeugen zukommt“ (Brenneis 2014: 89f.). Ich folge hier Andreas Brenneis, der Metaphern über das Moment des unüblichen Sprachgebrauchs charakterisiert: „Metaphern resultieren daraus, dass sprachliche Mittel in ungefügter Weise miteinander verwendet werden, dass Worte aufeinander bezogen werden ohne dies von sich aus anzubieten […]. Mindestens zwei der Bestandteile eines Satzes erzeugen zusammen eine unerhörte Beziehung, die einen Leser und sein Verständnis irritieren, verunsichern, beeindrucken oder begeistern kann“ (siehe ebd.). Metaphern können, wenn ihre Verwendung – wie es vielleicht bei der Rede von „Ethik in den Wissenschaften“ der Fall ist – nicht mehr überrascht, zu Topoi werden (Brenneis 2014: 93), also zu Gemeinplätzen, die sich als Gesichtspunkte zur Findung von überzeugenden Argumentationen, Begründungen und Beweisen eignen (siehe Hubig 1990: 140f.). Die begriffliche Undeutlichkeit eines Topos, also ein stark metaphorisches Moment, kann hier relativ zum Ziel des Argumentierens vorteilhaft oder nachteilig sein. Auch lassen sich wohl nicht alle Metaphern oder als Topoi verwendete Metaphern, insbesondere die auf das Denken bezogenen, in eine direkte Redeweise überführen. Es ist jedoch sicherlich ertragreich, den im Topos verborgenen begrifflichen Konzepten nachzuspüren und diese explizit zu machen – nicht um den Topos unbrauchbar zu machen (weil womöglich zweifelhaft, unklar, manipulativ etc.), sondern um das entsprechende Forschungs- und Lehrprogramm besser zu verstehen.

Die räumliche Grenz-Metaphorik ist auch konstitutiv für das gängige Verständnis von Wissenschaft und den Wissenschaften. Zum einen gilt Wissenschaft im Allgemeinen als die Praxis zur Generierung von sicherem Wissen in Abgrenzung zum unverbindlichen Meinen und Vermuten oder einem unverstandenen Können (Kambartel 2004: 719f.; siehe Mildenberger 2007: 54f.). Zum anderen werden die Vorgehensweisen im Einzelnen, die Disziplinen, häufig über den jeweils behandelten Phänomen- und Problembereich sowie über die verwendeten Methoden (z.B. verstehen oder erklären) und die Begründungsart differenziert (z.B. apriorische oder empirische Argumente) (Kambartel 2004: 720). Freilich erweisen sich insbesondere durch verstärkte interdisziplinäre Kooperation in Forschungsprojekten die „wissenschaftlichen Fachgrenzen als durchlässig“, was jedoch nicht heißt, dass diese eigentlich nicht existieren oder sinnlos wären (siehe Brendel 2011: 2588). Allerdings setzt zumindest die Metaphorik einer „Ethik in den Wissenschaften“ derartige Fachgrenzen voraus: Es gibt viele Wissenschaften, die demnach durch bestimmte Merkmale voneinander unterscheidbar sein müssen. Zudem könne Ethik „in“ diesen oder „neben“ diesen voneinander abgegrenzten Wissenschaften betrieben werden. Weiter ist Ethik selbst eine durch Problembereich, Methode und Begründungsart von anderen Disziplinen abgrenzbare Wissenschaft. Werden die Wissenschaften nun in naiv räumlicher Metaphorik gefasst, dann drängt sich das Bild von Behältnissen wie z.B. Containern oder Aktenordnern auf (z.B. mit der Aufschrift „Biologie“), die einen Bestand wahrer Aussagen und geeigneter Methoden zur Erforschung des Problembereichs (hier: „das Lebendige“) enthalten – sonst aber nichts. Angesichts wissenschaftstheoretischer und -soziologischer Überlegungen scheint es heute jedoch sinnvoll, das statische „Containerbild“ zu überschreiten und die einzelnen Wissenschaften jeweils als dynamische Praxis zu begreifen, in der wissentlich und willentlich nach spezifischen Methoden gehandelt wird, um das Ziel einer Problemlösung und gesichertes Wissen zu erreichen (siehe z.B. Düwell 1996: 220f.; Mildenberger 2007: 52f.). Somit hätten wir bildlich nun zwar nicht mehr zwei statische Behältnisse, eines der normativen „Ethik“ und z.B. eines der möglichst wertneutralen „Biologie“ ohne Moral oder ethische Fragen, jedoch bleiben doch von einander deutlich unterschiedene Verfahrensweisen, die auch in verschiedener Weise mit den ihnen jeweils inhärenten gelebten Werten und Normen umgehen. Eine weniger metaethisch interessierte, sondern eher problemorientierte anwendungsbezogene Ethik könnte nun – laut IZEW-Topos – den Akteuren der biologischen Wissenschaftspraxis fälschlicherweise „ungefragte“ Moralaufklärung leisten (über implizite Werte, mögliche Folgen und Probleme der Forschungspraxis etc.) und diesen sodann Vorschriften über wünschenswertes Verhalten machen – so interpretiere ich die metaphorische Rede von einer (verfehlten) Ethik „zu“ den Wissenschaften. Dagegen bestünde eine (ebenfalls verfehlte) anwendungsbezogene Ethik „nach“ den Wissenschaften wohl darin, dass zu Forschungsverfahren und -Produkten einer der Wissenschaften nachträglich eine (womöglich abwegige) ethische Fachexpertise eingeholt wird – ohne über die erforderliche Sachkenntnis zu verfügen. Das laut Topos wünschenswerte Vorgehen bestünde dann vermutlich in kooperativen Forschungsprojekten im Sinne einer Technikfolgenabschätzung. Ein Blick in einige programmatische Texte des IZEW zeigt, dass die Präposition „in“ zumeist für Inter- oder Multidisziplinarität steht (siehe Engels 2005: 146; Mieth 2007: 39ff.), wobei das verfehlte „neben“ entsprechend einen Mangel an Sachkenntnis in den für die anwendungsbezogene Ethik zumeist erforderlichen „gemischten Urteilen“ ausdrückt (Düwell 2001: 172f.). Wenn Wissenschaften als „Praxis“ aufgefasst werden und nicht nur als Aussagensysteme und Methodensets, dann kommen in dieser Praxis wertbasierte Präferenz-Entscheidungen vor, die so oder auch anders ausfallen und auch außerwissenschaftliche Werte berücksichtigen können. Die Annahme einer „Wertfreiheit“ der Wissenschaft kann dann nur noch ein „innerwissenschaftliches, methodisches Prinzip“ sein (Mack 1989: 31f.). Es scheint mir plausibel, dass aus der Annahme, Wissenschaft sei die Praxis des Strebens nach gesichertem Wissen, auch eine auf diesen Zweck relativierte „allgemeine Wissenschaftsethik“ bzw. „Professionsethik“ folgt, die zur ständigen Reflexion des Handelns auffordert und sich an Werten wie z.B. methodische Sorgfalt, Wahrhaftigkeit oder Kollegialität orientiert (Engels 2004: 12). Wissenschaftler/innen sind insofern „vor allem für die Wahrheit des von ihnen produzierten Wissens verantwortlich“ (Mildenberger 2007: 59). Darüber hinaus scheint es sinnvoll, eine besondere Verantwortung bzw. Professionsethik der jeweils einzelnen Wissenschaften aufgrund der Besonderheit ihrer Gegenstände anzunehmen (z.B. Engels 2004: 14f.).

Das aber sind zunächst einmal begriffliche Thesen darüber, was Wissenschaft ist und eigentlich sein sollte, nämlich eine selbstbewusste Praxis, die nicht ohne ethische Reflexion denkbar ist, da jede Praxis mit wissentlich und willentlich ausgeführten Handlungen und Überlegungen zu tun hat. Mit dem Topos „Ethik in den Wissenschaften“ verbunden ist also zum einen eine Antwort auf die Frage, was Wissenschaft ist und sein soll (nämlich eine neben der disziplinären Wissensgenerierung und Problemlösung auch zu verantwortende und ethisch zu reflektierende Tätigkeit), zum anderen wird damit aber die tatsächliche Wissenschaftspraxis fokussiert, in der nicht notwendig, nicht vorbehaltlos und auch nicht ständig ethisch reflektiert wird. Für diese Praxis ist das gemeinsame ethische Reflektieren ja etwas Neues, das an der Universität Tübingen mindestens seit 1985 praktiziert wird. „Die Ethik in den Wissenschaften richtet sich zunächst auf Personen als Subjekte dieser Ethik. Insofern geht es um den Aufbau einer wissenschaftsethischen Mentalität“ (Mieth 1990: 328). Es ist nicht ganz klar, ob hier die Wissenschaftler/innen in ihrer Rolle oder allgemein als Personen gemeint sind, die sich unabhängig ihrer bestimmten disziplinären Sozialisation, methodischen Kenntnis etc. in allen Praxisbereichen frei bewegen. Geht es im Topos „Ethik in den Wissenschaften“ also um Personen, die beiläufig auch Wissenschaftler sind, oder geht es um diese als Vertreter/innen einer bestimmten Wissenschaft? Entweder liefern die Teilnehmer/innen am interdisziplinären Austausch als Vertreter einer Disziplin gesichertes Sach- und Methodenwissen (z.B. über biotechnologische Zusammenhänge) oder sie betätigen sich, z.B. unterstützt durch „philosophisch ethische Zusatzstudien“ (Mieth 2007: 39), als Personen, die an einem Austausch über Werte und Normen teilnehmen. Aber nicht „alle möglichen Beteiligten“ sind auch schon „Ethiker“ oder “Ethikexperten“; z.B. dann nicht, wenn ihnen das „begriffliche Rüstzeug“ und die „Kenntnis der Argumentationsweisen der fachlichen Ethik“ fehlen (Mieth 2001: 299). Fachleute aus der philosophischen Ethik können sich dagegen über biotechnologische Erkenntnisse informieren lassen und als Laien auf diesem Gebiet Fragen stellen oder Zusammenhänge problematisieren, um diese womöglich zum Anlass für begrifflich-philosophische Reflexionen zu nehmen – nicht aber betreiben sie Biowissenschaft. Der Ort, an dem „Ethik in den Wissenschaften“ vorkommen soll, ist demnach vielmehr eine „Brücke“ zwischen den Disziplinen (siehe Mieth 2007: 41; siehe auch Engels 2005: 146) und somit nicht „in“ einer oder „in“ den Wissenschaften zu finden. Sollen nun, um die Metapher aufrecht zu erhalten, die Wissenschaftler als Personen auf diesem interdisziplinären Feld sich die philosophische Ethik zu eigen machen und diese praktizieren? Dann würde eine Person zwar nicht mehr in Ausübung ihrer spezifischen Methoden, aber doch veranlasst durch ihre Rolle als Wissenschaftlerin damit beginnen, ethische Fragen zu stellen und diese mit den Mitteln der Ethik zu bearbeiten. Wir befänden uns nicht mehr „in“ einer Wissenschaft, sondern eher in einer reflektierenden „Daraufsicht“ vom Standpunkt der Ethik – dann aber doch „neben“ der reflektierten Wissenschaft. Denn wenn nun tatsächlich philosophische Ethik betrieben wird, dann stellen sich notwendig zahlreiche metaethische, ontologische, argumentations-theoretische Fragen o.ä., die sich nicht ohne weiteres ignorieren oder als nur für bestimmte Praxisbereiche bzw. „Bereichsethiken“ relevant bezeichnen und also nur selektiv thematisieren ließen (siehe Richter 2015: 203f.; Hubig 2015: 193–205). Müssen sich Wissenschaftler als solche also für solch eine philosophische Ethik für Alle interessieren (Treptow 2015: 53)? Das scheint zunächst einmal nicht notwendig, insofern sie nur in ihrer disziplinären Rolle verbleiben und nicht das oben skizzierte Feld der Interdisziplinarität betreten und einen Rollenwechsel vornehmen. In den Disziplinen existieren bereits Professionsethiken bzw. ethische Leitlinien3 und wer sollte besser als die Fachleute selbst wissen, was das richtige Verhalten im Einzugsbereich ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Tätigkeit ist (siehe Treptow 2015: 53f.)? Warum sollte darüber hinaus – im philosophischen Sinne – „in den Wissenschaften“ ethisch weiter gefragt werden?

Das Problem ist nun, dass auch wenn die Auffassung von Wissenschaft als Praxis richtig ist, nicht eigentlich, wie der Topos fordert, davon gesprochen werden kann, dass „in“ den Wissenschaften Ethik stattfinden soll. Das Ziel des Problemlösens und der Generierung von gesichertem Wissen ist in der wissenschaftlichen Praxis dominant, eine gleichzeitige und ausführliche philosophische Reflexion der begrifflichen und normativen Grundlagen des Forschungsprozesses kann nicht durchgeführt werden, ja sie verhält sich zu diesem Ziel mithin störend oder schädlich. Entweder eine Wissenschaftlerin folgt der „Logik der Forschung“ ihrer Disziplin, oder sie reflektiert diese, z.B. um diese methodisch zu verbessern oder nach anderen Vorgehensweisen zu suchen, beides zugleich ist nicht möglich. Ein Beispiel: In der sozial- oder ingenieurwissenschaftlichen Forschung wird induktiv anhand üblicher quantitativer und qualitativer Standards argumentiert, ohne dabei angesichts des theoretischen Induktionsproblems die Leistungen und Grenzen der unterschiedlichen Umgangsweisen mit der problematischen Prämisse von der Gleichförmigkeit der Vergangenheit und Zukunft diskutieren oder zu Ende denken zu können. Ein anderes Beispiel: In der Forschungspraxis kann sich mir die Frage aufdrängen, ob es vertretbar ist, Tieren in Experimenten wirkliches Leid zuzufügen, um mögliche Therapien zur Verminderung des Leides von Menschen zu erschließen. Falls mit dem Ziel der Problemlösung weitergeforscht werden soll, dann muss das tierische Leid in Kauf genommen werden oder der Prozess wird beendet oder modifiziert o.ä. – bei dieser Reflexion und Entscheidung bewegen wir uns methodisch betrachtet jedoch nicht mehr „in“ den Biowissenschaften. Die Methode und Problemorientierung einer Einzelwissenschaft wird bei der ergebnisoffenen Reflexion dieser Praxis suspendiert. Wenn nach normativen Vorentscheidungen, impliziten Werten und Normen und Zielsetzungen gefragt wird, dann werden diese Frage nicht mehr in der Rolle des Wissenschaftlers bearbeitet, sondern so wie sie jeden Menschen betreffen, der wissentlich und willentlich handelt.

Somit ließe sich nicht eigentlich Ethik „in“ den Wissenschaften betreiben, sondern mit den Methoden der Ethik wird ausgehend von Fragen, die sich in der Wissenschaftspraxis stellten, weiter gefragt – dann aber „neben“ der Wissenschaft. In diesem oben skizzierten „Zwischenraum“ wird nun nicht selbstzweckhaft Ethik betrieben, sondern es geht um spezifische Fragen, die wiederum zu einer Haltung der Nachdenklichkeit und des weiteren philosophischen Fragens führen. Man kann Marcus Düwell vollkommen zustimmen, dass hierbei der Kontakt zu den moralphilosophischen Grundlagenfragen auch in der Ethik unter Anwendungsbedingungen notwendig aufrechterhalten werden muss (Düwell 1996: 223). Denn jedes sich von den Selbstverständlichkeiten der Praxis distanzierende, philosophische Nachdenken über Moral führt letztlich u.a. auf ethische Basistheorien und erfordert z.B. einen Umgang mit dem vorliegenden theoretischen Pluralismus. Wie genau soll dann aber der Kontakt mit den moralphilosophischen Grundlagenfragen erfolgen? Weder sollen dabei die konkreten Fragestellungen der Wissenschaftspraxis und ihre Beantwortung aus dem Blick geraten, noch soll eine lediglich „kleine Ethik“ im Sinne eines bloßen Crashkurses o.ä. eingebracht werden. Da die philosophische Ethik nicht über einen festen Bestand an Kenntnissen und abgeschlossenem Wissen verfügt, zudem das Nachdenken nicht dogmatisch zugunsten einer höheren Moral abgebrochen werden kann, die philosophischen Methoden selbst immer weiter reflektiert werden müssen und auch der Erkenntnisanspruch der Ethik sich in Diskussion befindet (siehe Düwell 2015: 71), kann letztlich aus fachlicher Sicht der Ethik nur in den aktuellen Diskussionstand und das Praktizieren philosophisch-ethischen Nachdenkens eingeführt werden (siehe Richter 2015: 204). In Diskussion des Topos stoßen wir nun auf die Frage nach geeigneten Kommunikationsstrategien und didaktischen Konzeptionen zur Vermittlung philosophischer Ethik für einen Bereich, der sich ‚irgendwie‘ „neben“ dem fachlichen Wissen und Können der Wissenschaften befindet, aber für Wissenschaftler/innen dennoch notwendig interessant sein sollte. Mit der Diskussion um den Erkenntnisanspruch einer anwendungsbezogenen Ethik ist also die Frage nach didaktischen Konzeptionen ihrer Vermittlung eng verknüpft. (Hierzu hat das Tübinger Ethikzentrum ebenfalls Konzepte und Ansätze geliefert, z.B. im Rahmen des Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums (siehe Maring 2005).) Auch wenn der Erkenntnisanspruch der anwendungsbezogenen Ethik und dessen Verhältnis zur wissenschaftlichen Praxis sowie die didaktischen Strategien einer Vermittlung weiterer Entwicklung bedürfen, so lassen sich abschließend doch zwei Argumente aus dem Begriff der Wissenschaft anbringen, die zeigen, dass eine philosophische Ethik für alle Wissenschaftler/innen als solche notwendig interessant sein muss (siehe Treptow 2015: 53) – auch wenn noch nicht abschließend klar ist, wie diese „neben“ den Disziplinen praktiziert oder im Curriculum verortet werden sollte.

Das erste Argument stammt von Klaus Goergen, das er mit Blick auf einen für alle verpflichtenden schulischen Ethikunterricht anbringt – ich wandle es leicht ab. Das zweite Argument stammt von Markus Düwell und betrifft das Ziel der wissenschaftlichen Praxis.

Wenn nun, das ist das erste Argument, Wissenschaft das Ziel des gesicherten Wissens erreichen soll, dann muss dabei auch geklärt werden, was „Wissen“ ist und was nicht: Gesichertes Wissen lässt sich nicht erstreben, ohne zugleich wissen zu wollen, was genau unter „Wissen“ verstanden werden kann und wie dieser Begriff gedacht werden muss. Die erforderliche begriffliche Klärung muss mit den Methoden der Philosophie durchgeführt werden und sie führt auch auf normativ-ethische Fragen (vgl. Goergen 2015: 95f.). Das zweite Argument beginnt mit einer von Marcus Düwell formulierten Frage (Düwell 2015: 72): „Warum betreiben wir Wissenschaft und wozu haben wir eine Universität?“ Letztlich zum ‚Wohl des Menschen‘, u.a. also für den Erhalt eines möglichst freiheitlichen Zusammenlebens (ebd., 72f.). Nun erforschen alle Wissenschaften perspektivisch Zusammenhänge, die sich letztlich auf Menschen oder menschliches Leben beziehen. Wie jedoch sollen die perspektivischen Erkenntnisse über den Menschen wiederum auf „gute“ Weise zusammengeführt werden? „Aus dem Ziel der Forschung heraus ist es erforderlich, dass die verschiedenen partikularen Forschungsperspektiven überschritten werden“ (Düwell 2015: 73). Aus empirischer Perspektive ist das nicht möglich. Daher müssen alle Wissenschaften, so sie ihre Zielsetzung der Gewinnung sicheren Wissens über und für den Menschen beibehalten wollen, über ihre innerwissenschaftliche Problemorientierung hinaus in einen normativen Diskurs darüber eintreten, „wie der Mensch sich adäquat zu verstehen hat“ (ebd.). Die Klärung dieser reflexiven Frage wird traditionell zumeist als Aufgabe der philosophischen Ethik verstanden.

Die beiden Argumente bekräftigen die mit dem Topos einer „Ethik in den Wissenschaften“ verbundene Forderung nach einer ethischen Reflexion von Wissenschaft. Jedoch haben die zuvor angestellten Überlegungen ergeben, dass die metaphorische Verwendung der räumlichen Präposition „in“ im Topos eingeschränkt werden muss. Sie betrifft nur den Ausgangspunkt des ethischen Fragens: Es geht um „ethische Fragen […], die sich in und mit Bezug auf die Wissenschaften stellen“ (Potthast/Ammicht Quinn 2015: 9), dann jedoch kommen wiederum wissenschaftliche oder ethisch-reflexive Methoden zum Einsatz – beides zugleich ist nicht denkbar. Die Zusammenführung der Leistungen und Grenzen beider Denkweisen in einem anspruchsvollen Konzept von „Ethik unter Anwendungsbedingungen“ ist eine bleibende Aufgabe für die Philosophie und ihre Didaktik.

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