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4. Moralische und religiöse Bildung
ОглавлениеIch fasse den bisherigen Gedankengang vorläufig zusammen: Vieles von dem, was ich hier als moralische Bildung beschrieben habe, ist rationales Training. Was nicht logisch ist, kann auch nicht ethisch sein, jedenfalls nicht Ethik im Sinne rationaler Legitimation. Insofern geht es dann im Vergleich zur bloßen Vermittlung von Wissen um ein Training im Sinne dieses Wissens. Es geht aber auch darum, moralisch so zu sein, wie man lehrt, d.h. um moralische Glaubwürdigkeit und um Authentizität. Diese Glaubwürdigkeit bildet sich gleichsam im Rücken wiederholter verantworteter Handlungen. Sie ist eine Habitualisierung, die nicht nur zur Erfahrenheit führt, sondern auch zu einer Spontaneität, die man manchmal „Bauchgefühl“ nennt, obwohl sie eine schnelle, kompakte und erlernte Reaktion aus habitualisierter Erfahrenheit darstellt. Aristoteles, auf den dieses Theorieelement zurückgeht, hat es für selbstverständlich gehalten, dass die Tugendübung zur ethischen Erkenntnisfähigkeit gehört (Christoffer 1989: 167–174).
Ich habe „moralische Bildung“ zunächst als den Weg von moralischen Erfahrungen zu moralischer Erfahrenheit beschrieben. Dieser Weg soll aus dem Unterbewussten in das Bewusstsein gehoben, d.h. nicht unabsichtlich hingenommen, sondern bewusst inszeniert werden. Darüber hinaus ist es möglich, das Verhältnis von praktischem Kompromiss und ethischer Überzeugung, das Verhältnis von Gesinnung und Verantwortung, von Zielen und Mitteln, zu trainieren. Zur moralischen Bildung gehört aber auch die nicht-moralische Bildung an den Sachen und Problem selbst. Dies dürfte in einem Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften selbstverständlich sein.
Nach dem Verhältnis von moralischer Bildung und religiöser Bildung ist abschließend zu fragen (Auer 2016, Bobbert/Mieth 2015). Die Einsicht der Religion in die Endlichkeit, Fehlerfähigkeit und Sündhaftigkeit des Menschen bedeutet eine Bewährungsprobe für alles Denken, das mit einer Selbsterschaffung des Menschen rechnet, wie dies in der modernen wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Welt seit dem 19. Jahrhundert immer wieder thematisiert wird. Moral hängt durchaus mit religiösen Einsichten zusammen. Eine theologische Ethik thematisiert diese Einsichten mit den Schwerpunkten Umgang mit Schuld, Rettung, Versöhnung. Freilich haben wir durch die vernünftige Aufklärung gelernt, dass Religionen nicht mit Autorität über die Moral verfügen können. Sie können Impulse und Motive geben, die das Nachdenken über Moral verstärken. Hier spielen Motive wie Liebe und Gerechtigkeit, Demut und Hoffnung eine große Rolle. Man darf sowohl die religiöse Erfahrung wie das vernünftige Denken befragen, welche Normen von solchen Motiven begünstigt werden. Beweggründe sind keine Beweisgründe – aber kann es ohne Beweggründe überhaupt das Interesse an Beweisgründen geben?
Ethiker und Ethikerinnen sind fehlerfähig und irrtumsfähig. Man muss moralische Bildung von moralischer Vollkommenheit unterscheiden. Moralische Bildung befördert bei aller Behauptung ethischer Streitkultur die Einsicht in Kontingenz: der eigenen Person, der Kontexte, der Diskurse und der Gesprächspartner. Der religiöse Humanismus, der mit moralischer Bildung angestrebt wird, enthält das Kontingenzbewusstsein, das dem ethischen Diskurs in der Philosophie so häufig zu fehlen scheint. Andererseits wird man die moralische Bildung von Ethikern und Ethikerinnen auch daran erkennen können, dass sie sich persönlich aus moralischen Gründen für ein moralisches Anliegen praktisch einsetzen. Dazu gibt es Möglichkeiten genug. Authentizität im ethischen Sinne beinhaltet eine selbstbestimmte Verträglichkeit von Theorie und Praxis, Lehre und Leben. Diese Übereinstimmung im Sinne der Glaubwürdigkeit kann das Argument nicht ersetzen, aber die Aufmerksamkeit für das Argument zu erhöhen.