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2. Inszenierung moralischer Bildung?

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Ebenso wie ich Bildung als den Weg von Erfahrung zu Erfahrenheit auf einem narrativen Wege beschrieben habe, gilt es, „Bildung“ mit Reflexion, hier im Sinne permanenter Nachdenklichkeit, zu verbinden. Wer reflektieren lernen will, nimmt an einer Inszenierung von Reflexion teil, die er unter vorfindlichen Inszenierungen auswählt und dann selbst übernimmt. In meiner Teilnahme an einer Inszenierung von moralischer Bildung bin ich an erster Stelle der Literatur begegnet. Es gab ja noch keine visuellen Unterhaltungsmedien – Lesen war die Inszenierung von Bildung. Man sucht auch lebende Vorbilder für diese Inszenierung.

Die Inszenierung moralischer Bildung konnte ich an großer Literatur später auch akademisch durchführen: am Beispiel von Thomas Manns Joseph-Romanen – eine Inszenierung gegen die nationalsozialistische Mythologie – und anhand des „Tristan“ des Gottfried von Straßburg – eine mit ambivalenten Zügen ausgestattete Inszenierung der Liebe gegen Zwangsinstitutionen. Inszenierung ist immer ästhetische Formgebung, die sich moralischer Eindeutigkeit entzieht, aber eben deshalb zur Reflexion aufruft statt zu indoktrinieren. Das „Theater als moralische Anstalt“, wie es Friedrich Schiller vorschwebte, ist ja auf seinem Höhepunkt, der klassisch mit dem „Wallenstein“ erreicht ist, eine Aufforderung zum Nachdenken und zum Gewinn einer eigenen moralischen Stellungnahme. Die schlichte Identifikation mit Figuren, die die Moral zu tragen haben, wird bewusst konterkariert. Moralische Nachdenklichkeit, Reflexion, soll entstehen. Der Züricher Germanist Peter von Matt hat dies in eindrücklichen Essays zur Literatur zum Thema gemacht.1

Aber die Frage bleibt: Ist eine an Erzählung gebildete Schulung moralischer Identität ausreichend? Kann sie nicht im Bereich des beliebigen moralischen Genusses verbleiben? Moral ist spannend als Lektüre. Sie hinterlässt keine Eindeutigkeit – das ist gut für die Reflexion, kann aber auch wie ein Theaterbesuch oder als sonntägliche Predigt folgenlos bleiben. Der kathartische Effekt gehört zur kulturellen Inszenierung eines Selbstgefühls im Bereich gehobener Stimmung. Man fühlt sich besser und erspart sich die Konsequenzen. Die ästhetischen Inszenierer haben dies längst erkannt, aber, wie schon Bertolt Brecht feststellte: das Entsorgungspotenzial der Rezipienten ist beinahe unendlich. Wie kann man mit der moralischen Bildung noch näher an die moralischen Identitäten heranrücken? Oder sollte man das besser lassen, weil es sonst auf moralische Indoktrination hinausläuft? Das wäre so eine Art Klosterschule der Moral, eine Kadettenanstalt, ein vorkonziliares Priesterseminar oder eine besondere Anhänglichkeit an ein moralisches Vorbild, das nicht strittig ist (der Dalai Lama, der die Moral über die Religion stellt?). Ist den Grenzen der Narrativität nicht zu entkommen, es sei denn um den Preis des Autonomie-Verlustes und der Indoktrination? Diese Frage zu stellen, heißt, nach praktischen Einübungen zu suchen, die autonome Selbständerungen ermöglichen.

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