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4. Ein Fremdkörper der Gemeinschaft im transkulturellen Theater

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Das Beispiel einer Aufführung mag eine Ahnung vom Erfahrungsgrund der Idee des transkulturellen Theaters in der Theaterpraxis geben, ohne dass sich Idee und Praxis 1:1 spiegelten. Es handelt sich um das Stück Palmer – zur Liebe verdammt fürs Schwabenland,1 das 2015 am Landestheater Tübingen aufgeführt wurde.

Es geht darin von Helmut Palmer, eine prominente Figur aus dem schwäbischen Remstal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Helmut Palmer war „Obstbauexperte, Kaufmann, Politiker, Aktionist, Bürgerrechtler, Querdenker, Nestbeschmutzer, Halbjude, Störer der öffentlichen Ordnung, Psychopath, Heilsbringer, Demokrat, Demagoge, Behördenschreck, Westentaschen-Messias, politischer Gaudibursch, Eulenspiegel, Einzelkämpfer und vieles mehr“2, so die Aufzählung der Palmer’schen Charakteristika durch die Dramaturgin der Aufführung – und alle treffen zu. Ich erinnere mich noch recht genau, welche Faszination, aber auch welches Odium des Verfemten in meiner Kindheit und Jugend – ich komme aus dieser Gegend – von „Palmer, dem Remstalrebell“, ausging. Helmut Palmer wird 1930 als uneheliches Kind geboren, das macht ihn in der damaligen Gesellschaft zum Außenseiter. „Er wächst vaterlos auf – und im Bewusstsein, dass dieser ferne Vater Jude ist.“3 „Im Alter von fünf“, so Palmer über sich, „wurde ich anstelle des Sterns mit dem Namen Moses bedacht. Der Lehrer hat immer gesagt: Mischlinge sind des Teufels. Abends betete ich: Lieber Gott, lass nicht sein, dass mein Vater Jude ist. Ich fühl mich als Schwabe. Und verbrannt wird der Jude doch.“4 „Durch sein Kindheits- und Jugendtrauma einer ihm gegenüber feindlich eingestellten Umwelt und Staatsgewalt“, schreibt Jan Knauer in einem Aufsatz über ihn,

explodierte Helmut Palmer regelmäßig, wenn er sich auch nur im Geringsten ungerecht behandelt fühlte. Dann beleidigte er sein Gegenüber häufig als „Nazi“ und konnte auch handgreiflich werden. Meist waren es Beamte, deren daraufhin erfolgte Strafanzeigen zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens führten. […] Ein jahrzehntelanger Kampf eines Unbeugsamen gegen das bundesrepublikanische Rechtswesen war die Folge. […] Palmer führte mindestens 70 Strafprozesse. Er verbrachte zusammengerechnet mindestens 423 Tage seines Lebens in verschiedenen Justizvollzugsanstalten,5

darunter auch Stuttgart-Stammheim. Palmer-Prozesse waren Spektakel. Bei Verhandlungen erschien er im Richtertalar mit aufgenähtem Hakenkreuz oder in gestreifter Häftlingskleidung. Umgekehrt führte er 289 Wahlkämpfe, in denen er sich an Bürgermeister- und Oberbürgermeisterwahlen beteiligte. Einmal, in Schwäbisch Hall 1974, so Palmer im Original, „hätt es beinah gereicht. Dort bekam ich im ersten Wahlgang über 40 %, nur die Verschwörung der Presse und aller Parteien, die Feigheit der Bürger hat meinen Sieg verhindert.“6

Warum bringt man so einen auf die Bühne? Zur Identifikation lädt er nicht ein. Palmer ist kein edler Rebell, kein Robin Hood, in den man sich verlieben könnte oder der einem als politisches Vorbild taugt. Er ist auch kein tragischer Held, groß im Untergang. Er kämpft gegen alles und jeden, hat Recht und Unrecht. Er blickt voll durch und leidet unter paranoider Verkennung der Lage. Palmer zieht uns an und stößt uns ab. Er ist uns zugleich fern und nah, bekannt und fremd. Er ist ein Teil unserer Geschichte, der Nachkriegsgeschichte eines Jungen in Westdeutschland, im Schwäbischen. Und er ist ein singuläres Exempel für die Beunruhigung durch einen Fremdkörper der Gemeinschaft, für die Unruhe, die von diesem Fremdkörper ausgeht, für die Unruhe, die uns erfasst, wenn wir ihm begegnen.

Wie verläuft diese Begegnung mit Palmer im Landestheater Tübingen? Palmer wird dort nicht von einem_r Schauspieler_in verkörpert, er ist eine Puppe aus Schaumstoff und Gummi, etwa 1,20m groß, die von einem oder zwei Schauspieler_in­nen geführt wird. Die Schauspieler_in­nen, eine Frau und drei Männer, führen die Puppen durch einen Schlitz im Rücken und an den Armen. Sie sind immer sichtbar, stehen hinter und neben den Körperteilen der Puppen. Zugleich sprechen sie die Texte von Palmer, seine Reden, Anklagen und Rechtfertigungen – und sie singen, denn Palmer ist auch eine Art Musical. Es gibt auch nicht nur den einen Palmer, sondern eine ganze Reihe von Palmer-Puppen, die sich doublieren, wechselseitig kommentieren, zum Chor finden oder mit wenigen Handgriffen am Kostüm in Palmers Ehefrau oder einen Richter verwandeln können.

Was für eine Art von Puppentheater sehen wir hier? Palmer ist ganz offensichtlich vom japanischen Puppentheater Bunraku inspiriert. Roland Barthes hat die Einzigartigkeit dieses Theaters beschrieben und in Bezug gesetzt zur westlichen Schauspielkunst. Während hier die Sprache, Emotion und Geste in einem Körper vereint und synchronisiert sind, so dass der Eindruck einer in sich geschlossenen, souveränen Gestalt entsteht, ist im Bunraku die Stimme des Erzählers, der am Rande der Bühne sitzt, getrennt vom emotionalen Ausdruck der Puppen und der wiederum getrennt von den Körpern und Gesten der drei sichtbaren Puppenführer_innen. Unterbrechung der Synchronisation von Sprechen, Fühlen und Tun in einer Person ist das Kennzeichen des Bunraku. Die drei getrennten Elemente des Ausdrucks werden so gestisch und jeweils für sich mit einer leuchtenden Intensität vorangetrieben. Die Wirkung ist die einer starken emotionalen Ergriffenheit verbunden mit dem Gefühl einer ständigen Versetzung unserer Sinne, eines Nichtbeisich-, sondern Außersichsein. Diese Wirkung wird noch verstärkt durch eine zweite Unterbrechung: die lebendige Aktion der Schauspieler_in­nen wird durch die toten Körper der Puppen unterbrochen. Fortan changiert die Aufmerksamkeit zwischen dem Belebten und Unbelebten. Dabei zielt das Bunraku anders als in der westlichen Schauspielkunst seit dem 18. Jahrhundert und in manchen Konzepten des Puppentheaters nicht auf Verlebendigung und Wiederbelebung des Abwesenden und Toten, der Figur der Rolle oder des toten Puppenkörpers ab. Im Unterschied zu diesem im Grunde religiösen Konzept, das die Unversehrtheit und Dauer des Individuums garantieren soll, lässt uns das Bunraku das Tote, das Objekthafte im Eigenen erfahren, das uns an unsere Sterblichkeit gemahnt, an jene fundamentale Fremdheit, die aus dem Leben auszuschließen vergebens ist.

Es ist diese Fremdheit, die uns nicht nur im Bunraku, sondern auch in seiner freien Adaption durch die Akteur_innen, die Puppen und Schauspieler_in­nen, der Tübinger Palmer-Aufführung begegnet. Es ist, bei allem Spaß, den wir bei dieser Aufführung haben, das immer wieder aufblitzende Double von Lebendigem und Totem, das Gesicht des_r Schauspieler_in neben dem Puppengesicht, das uns berührt. Wir fühlen uns hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Abstand zu halten zu diesen unheimlichen Doppelgänger_in­nen unserer selbst und Wiedergänger_in­nen der Toten und dem Wunsch, die kleinen Wesen aus totem Stoff, gleich den Spieler_innen, die sie begleiten, zu berühren. In dieser doppelten Berührung, die uns trifft, strahlt das Theater im Glanz eines Lebens unter Fremden.

Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater

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