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Mistral in Berlin

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In dem gemeinsam erarbeiteten Duett Mistral1 begegnen sich Susanne Linke und Koffi Kôkô, zwei Vertreter_in­nen spezifischer kultureller Tanztraditionen, die gleichsam Akteur_in­nen einer global und international agierenden Tanzszene sind:

Susanne Linke, als Vertreterin der Tanzmoderne von Mary Wigman und des Deutschen Tanztheaters, trifft auf die jahrhundertealte „Körperbibliothek“ des zeitgenössischen afrikanischen Performers: Eingeschrieben in die Körper zweier Ausnahmetänzer begegnen sich Moderne und Traditionen. Tänzerische Präsenz, Körper­ge­dächt­nis, Technik, kultureller Kontext und Geschlecht werden zu Ausgangspunkten einer einzigartigen Begegnung von performativem Wissen und gesellschaftspolitischen Fragen. Und das in einer radikalen Gegenüberstellung: Susanne Linke und Koffi Kôkô führen einen Dialog darüber, wie das Wissen großer Tanztraditionen zwischen Kulturen und über Generationen hinweg zu vermitteln ist.2

Zu Beginn des Stückes schreiten sie gemeinsam eine Zigarre rauchend über die Bühne und werden kurz darauf aus dem Paradies der zweisamen Einigkeit hinausgeworfen. Beide beginnen ihre jeweilige Choreografie zunächst auf der Bühne voneinander getrennt, suchen ihren Ausdruck in ihren reichhaltigen Bewegungsgedächtnissen und deren kulturellen Verortungen: Koffi Kôkô, in Benin geboren, ist Voodoo-Priester und einer der bekanntesten Vertreter des afrikanischen zeitgenössischen Tanzes. Seine Bewegungssprache entwickelt er zum Teil aus Ritualen Westafrikas heraus. Susanne Linke ist eine der führenden Vertreterinnen des europäischen Solotanzes. Sie verbindet Traditionen des deutschen Ausdruckstanzes von Mary Wigman und Dore Hoyer mit Positionen des modernen Tanzes aus der Folkwang-Tradition (Kurt Jooss, Hans Züllig, Pina Bausch). Beide kombinieren in ihrem Schaffen diese Traditionen mit zeitgenössischen Interpretationen und Bewegungsformen, doch sind die Wurzeln ihres Tanzes in diesem Teil der Aufführung stets erkennbar. Auf der Bühne eröffnen sie einen ästhetischen Raum, der zwei ganz unterschiedliche Rhythmen, Bewegungsfolgen und ebenso spirituelle Wirkungsfelder erschafft. Doch diese beiden Spannungsfelder kommen aufeinander zu und geraten in einen Dialog, so schreibt Sandra Luzina:

Er lässt seine Hände sprechen und lädt den Raum mit seiner Energie auf. Sie bewegt sich leichtfüßig über die Bühne und strahlt bei aller Fragilität eine große Stärke aus. Wunderbar, wie die beiden, die auf der Bühne zu alterslosen Figuren werden, zueinander finden: Sie nähern sich mit Neugier und gegenseitigem Respekt. Ein Höhepunkt ist das heitere Duett zu afrikanischen Trommelrhythmen: Koffi Kôkô prescht vor, Susanne Linke greift die Bewegungsmotive auf, interpretiert sie aber auf ihre eigene Weise. Beide fassen sich an den Händen und setzen mit großer Zartheit einen Fuß vor den anderen – stets sensibel des Grunds gewahr, auf dem sie schreiten.3

Doch nicht nur der Respekt gegenüber dem anderen und ihrem bzw. seinem jeweiligen Bewegungsrepertoire ist in dieser Inszenierung bemerkenswert. Der Umgang mit dem unterschiedlichen Geschlecht und der verschiedenen Hautfarbe spielt manchmal eine Rolle und dann wiederum nicht. Das in heutigen Tagen auf deutschen Bühnen brisante Thema „Schwarz – Weiß“ wird nicht nur über die Hautfarbe der beiden Tänzer_in­nen angedeutet, sondern spiegelt sich in deren Anzugsfarbe wider. Sie sind mal beide weiß, mal beide schwarz, mal der eine schwarz, mal der andere weiß. Auch Machtverhältnisse geschlechtlicher Art treten an einer Stelle in den Vordergrund, dann wiederum verschwimmen sie. Spannungen und Konflikte zwischen den Geschlechtern und ethnischer Zugehörigkeit werden so nicht überspielt, bekommen jedoch immer nur einen bestimmten Raum und werden überwunden oder finden sich in einem Dialog zusammen. Mistral macht deutlich, dass hier nicht ein schwarzer Mann aus Afrika und eine weiße Frau aus Europa aufeinandertreffen, sondern zwei Tänzer_in­nen mit diversen, vielschichtigen kulturellen Hintergründen und Tanzpraktiken, die selbstverständlich häufig mit Geschlecht und Herkunft einher gehen, aber nicht immer. Ihre tänzerischen Statements sind mal stabil, mal wandelbar, mal gegensätzlich, mal divers und mal vereint.

Linke und Kôkô verknüpfen auf diese Weise unterschiedliche Performancekulturen, betonen aber auch, dass sie jeweils ein Geflecht unterschiedlicher Traditionen verkörpern. Obwohl die Ausgangssituation auf den ersten Blick dichotom aufgeladen ist (Mann und Frau, Schwarz und Weiß), wird diese Binarität zugunsten der Darstellung einer Vielfalt aus kulturellen Traditionen, Verortungen und Kodierungen immer wieder aufgehoben. Kulturelle Differenzen werden dabei nicht aufgelöst, Unterschiede bleiben bestehen, aber bewegen sich auf diversen Ebenen und werden neu verhandelt, überdacht, gemeinsam präsentiert. Trotz der Diversität an Differenzen, die sich ebenso innerhalb des jeweils eigenen Tanzrepertoires ergeben, da beide aus verschiedenen zeitgenössischen und traditionellen Formen und Bedeutungsebenen schöpfen, scheint kein Körper und keine Technik die andere durchgängig zu dominieren. Linke und Kôkô präsentieren ihre Bewegungsformen mal selbstbewusst, mal vorsichtig, mal übernimmt der eine die Form des anderen, mal stehen sie sich in ihrer Unterschiedlichkeit gegenüber.

Beide Tänzer_in­nen verfolgen eine transkulturelle Dramaturgie, die sich darin äußert, dass sie ihre Vielschichtigkeit im Verlauf des Stückes herausarbeiten und miteinander in Dialog bringen und so einen neuen ästhetischen Raum schaffen. Linke und Kôkô spielen zwar mit den üblichen (post)kolonialen Dichotomien, heben diese jedoch immer wieder auf und verdeutlichen schon allein anhand ihres jeweiligen körperlichen Tanzgedächtnisses, dass diese nicht einer bestimmten Tradition zuzuordnen sind, sondern bereits verschiedene Kulturen verflechten. Entscheidend für die Besonderheit ihrer ästhetischen Verfahrensweise scheint jedoch das „Sowohl als auch“ zu sein, die Betonung des Eigenen, des Gemeinsamen, der Verschiedenheit zu sich selbst und zu dem anderen. Der ästhetische Raum, den Kôkô und Linke kreieren, zeugt von Wandel und Stetigkeit, Authentizität und Klischee, wiederkehrenden Mustern und Neuerungen, Vereinzelung und Gemeinsamkeit, Konflikt und Dialog. Mistral entwickelt Hegels Andeutung am Ende dessen Vorlesungen über die Ästhetik weiter und entfaltet ein Potential im Ästhetischen, welches über die „Auflösung“ und „negative Form“, die Hegel als Merkmal der Wende des Ästhetischen im Drama seiner Zeit festsetzt, hinausgeht. Linke und Kôkô unterstreichen, dass eine Vereinigung ihrer Tanztraditionen nicht über Auflösung ihrer Traditionen, sondern über die Betonung der Verschiedenheit und Pluralität möglich ist. Sie schaffen eine Sphäre der Unterschiedlichkeit, Konflikte und des Auseinandersetzens, aber auch des Dialogs und Zusammenkommens in diversen Momenten der Aufführung.

Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater

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