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1. Postmoderne, prä/post und kein Ende
ОглавлениеIn seiner Studie Das Postmoderne Wissen konstatierte Jean-François Lyotard bereits 1982, dass die gängige Auffassung von Postmoderne als einer Stilrichtung und einer historisch begrenzten Epoche jenseits der Moderne problematisch bleibt.1 Vielmehr hat jede Moderne ihre eigene Postmoderne, wird von dieser nicht einfach beendet und abgelöst, sondern selbst hervorgebracht, wie das auch Umberto Eco in seiner Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘ bemerkt hat.2 So entfaltet die Postmoderne, als eine Phase der Ausweitung und Relativierung von sicher geglaubten Standpunkten, Methoden und Prinzipien, ihrerseits die Tendenz, neue Abgrenzungen und Dogmen hervorzubringen. Lyotard zufolge wäre das selbst schon zur Konvention gewordene Modell der epochalen Ablösung und Ersetzung eher zu überführen in ein prä/post-Verhältnis, in eine Dynamik der unablässigen Überprüfung, Auflösung und kritischen Reformulierung theoretischer Positionen. Dieser Ansatz ist auch für die Diskussion um postdramatische Theaterformen aufschlussreich. Anstatt darin bloß eine lineare Phase der Ablösung vom dramatischen Text zu sehen, ist vielmehr von einem Wechselverhältnis auszugehen, von beweglichen Korrelationen und Impulsen – keine vermeintliche Überwindung also, die nur zum unbewussten und zwanghaften Wiederholen des Verdrängten führen würde, sondern vielmehr – angelehnt an die Terminologie der Psychoanalyse – ein Prozess des Durcharbeitens, wie Lyotard ihn als eigentliche Leistung der modernen Kunst-Avantgarden beschrieben hat.3 Damit wäre immerhin der Aporie zu begegnen, dass von einem völligen Verschwinden aller literarischen und theatralen Formen des Dramas ja auch dann keine Rede sein kann, wenn ihre einstweilige, auf das 18. Jahrhundert zurückgehende Vorherrschaft doch offenkundig beendet ist. So aber kann gesagt werden, der historische Gehalt des Begriffs „postdramatisches Theater“ liegt in der Relativierung des Dramas als eines – bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zumeist noch absolut geltenden und hierarchisch übergeordneten – Paradigmas theatraler Praktiken.
Dass die Krise des Dramas bereits früher, nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und dass seither das zentrale Formprinzip des Dialogs immer weiter dekonstruiert wurde, hat Peter Szondi in seiner Theorie des modernen Dramas schon 1956 ausgeführt. Darin geht er vom zunehmenden „Problematischwerden der dramatischen Form“ und ihrer „Verhinderung“ aus, die aber nicht bloß ein einziges Element der traditionellen, systematischen und normativen Gattungspoetik seit Aristoteles betrifft, sondern diese als solche in Frage stellt.4 Grund dafür ist die am Drama besonders deutlich hervortretende Durchdringung literarischer Formen mit geschichtlichen Prozessen. In ihrer unvermeidlichen Auseinandersetzung mit Umbrüchen der gesellschaftlichen Realität, vor allem mit einem radikal veränderten Status des Subjekts in der modernen, industrialisierten und durchökonomisierten Massengesellschaft, stößt die im Drama noch auf das Menschenbild der Neuzeit gegründete Form des Dialogs an ihre Grenzen. Spätestens mit Erwin Piscator und Bertolt Brecht erwiesen sich neue Tendenzen zum Epischen, zur Unterbrechung der dramatischen Illusion und zur Einbindung übergreifender Diskurse als notwendige Alternativen zum Strukturprinzip des Dramas als einem dialogischen Austrag von Konflikten zwischen handlungsmächtigen Subjekten.
Darüber hinaus hat Brecht mit seiner Theorie des epischen Theaters, mit der verfremdenden Spielweise und der demonstrativen Selbstreflexion des Spiels bis hin zu den Lehrstücken die szenische Praxis ins Zentrum der Reflexion gestellt. Folgerichtig nannte er seine Theatertexte auch nicht mehr Dramen, sondern Stücke oder Versuche. So zeigt sich gerade im Rückgang auf Brecht, dass schon die Avantgarden des Theaters der 1920er Jahre noch weit mehr in Bewegung gebracht haben als bloß eine Ablösung der aristotelischen Dramatik durch explizit epische Formen von Dramaturgie. Es ging zugleich um das Theater in seiner konventionellen Form, wie sie seit der Renaissance geprägt war durch eine zunächst höfische Kultur der Repräsentation und der damit verbundenen Machtausübung. Demgegenüber war die Geschichte des bürgerlichen Theaters stets begleitet von Spannungen zwischen einerseits der Instrumentalisierung von Theater für Zwecke der Repräsentation und andererseits der Entfaltung von Repräsentationskritik, sei es auf thematischer Ebene oder auch durch formale Tendenzen. Dieser Grundkonflikt wurde in den modernen Avantgarden und mit der Entstehung von explizit politischen Theaterformen noch verstärkt, indem hier die Dispositive des Dramas und der Darstellung dramatischer Rollen auch als solche in Frage gestellt und die davon ausgehende Normierung theatraler Praktiken überschritten oder unterlaufen wurde, nicht zuletzt im Hinblick auf die konventionell fixierte Distanz zwischen Bühne und Publikum. So stehen aktuelle Formen von postdramatischem Theater, wie von Lehmann gezeigt, in mehr oder weniger reflektierten Beziehungen zu den Traditionsbrüchen der Moderne, knüpfen an diese an als an ihre eigenen „Vorgeschichten“.5
Außerdem sind aber noch viele weitere Kontexte und Beziehungen zu reflektieren, die sich von gegenwärtigen Theaterformen zu anderen Epochen und Kulturen ergeben, gerade im Hinblick auf Wechselwirkungen zwischen theatralen Praktiken und ihren jeweiligen Institutionen, zwischen politischer und ästhetischer Repräsentation und Repräsentationskritik, im Rahmen von gesellschaftlichen, im weiteren Sinne kulturellen Diskursen und auch quer zu ihnen. Dafür erweist sich die Abgrenzung allein vom Drama als eine zu enge Perspektive, insofern sie fokussiert bleibt auf die in Europa nicht mehr als einige Jahrhunderte umfassende Epoche des literarisierten höfischen und bürgerlichen Kunsttheaters. Die in anderen Epochen der europäischen Kultur prägenden und auch im bürgerlichen Theater seit dem 18. Jahrhundert noch länger fortwirkenden Spieltraditionen des Mittelalters und der Renaissance (zumal der commedia all’improvviso) ebenso wie andere performative Praktiken, insbesondere Tanz und Musiktheater, kamen im Horizont einer neuen Theoretisierung und zugleich Kanonisierung des postdramatischen Theaters nur am Rande vor, ähnlich wie auch die außereuropäischen Theatertraditionen. Die Perspektive des postdramatischen Theaters blieb also selbst im Modus der Negation immer noch gebunden an das westeuropäisch geprägte Dispositiv des Dramas und der darstellenden Kunst, so dass Anschlüsse in theaterhistorischer und transkultureller Perspektive nur indirekt gegeben waren. Schließlich konnte der Begriff des Postdramatischen von literaturwissenschaftlichen Diskursen, insbesondere der Germanistik, dahingehend vereinnahmt werden, dass mitunter auch postdramatisches Theater nur als eine weitere Stilrichtung der dramatischen Literatur aufgefasst wurde. Dafür steht etwa das paradoxe Wort „Postdramatik“,6 mit dem ein weiteres Mal die vielfältige kulturelle Praxis des Theaters auf die Entwicklung von Textgattungen reduziert wird, was zugleich eine gewisse Blindheit gegenüber längst ausdifferenzierten Disziplinen zur Erforschung der performativen Künste und Praktiken manifestiert.
Problematisch erscheint der Begriff Postdramatik, wenn damit als Genre wieder eingeführt werden soll, was längst aus dieser normativen Position verdrängt ist. Texte, die heute für eine aktuelle oder zukünftige Theaterpraxis entstehen, lassen sich nicht einfach als Postdramatik kategorisieren, auch wenn der Markt (Verlage, Schauspielschulen, Agenturen etc.) an griffigen Labels interessiert sein mag. Den Autorinnen und Autoren sollte jedenfalls nicht zugemutet werden, „Postdramen“ geschrieben zu haben. Angebrachter wäre es, von Schreibweisen zu reden, die einzelne Elemente des Dramas ebenso reaktivieren können wie etwa Montage- und Überblendungstechniken des Films, die Aufsplitterung von Figuren in heterogene Instanzen, diskontinuierliche Handlungsverläufe oder den völligen Verzicht auf Handlung, die Arbeit mit veränderten räumlichen Beziehungen zwischen Szene und Publikum, und weitere Elemente von postdramatischem Theater. Diesem elementaren Bezug zu Praktiken entsprechen eher die Begriffe Theatertext oder Stück, was ja den Vorteil hat, etwas noch Unvollständiges anzuzeigen, Raum zu geben für die immer noch und immer wieder ausstehenden Prozesse der Lektüre, der Inszenierung und nicht zuletzt der Aufführung vor und mit Publikum.
Die Rezeption des mittlerweile in viele Sprachen übersetzten Buches Postdramatisches Theater hat aber noch ein weiteres Problem deutlich gemacht: Einerseits waren die darin diskutierten Phänomene und Begriffe wichtig für die Selbstreflexion und auch Legitimation von Theaterschaffenden verschiedenster Kulturen jenseits der bis dahin oft noch aus der Kolonialzeit andauernden Vorherrschaft des Dramas als der einzig anerkannten Form von Theater gerade auch da, wo es als Medium eines politischen Widerstands gedient hatte. Inzwischen hat sich aber gezeigt, dass auch in diesen anderen Kulturkreisen die Abgrenzung vom Drama allein noch nicht ausreicht, die Spezifik der jeweiligen Praktiken genauer zu erfassen. Jedenfalls kann gerade eine universalistische Auffassung von postdramatischem Theater den Blick versperren für die strukturellen Probleme, die Theaterarbeit derzeit in verschiedensten Kontexten erfährt. Diese haben vor allem zu tun mit dem Verhältnis von Theaterarbeit zur gesellschaftlichen Realität. So klafft eine Lücke zwischen den traditionellen Formen von ausdrücklich politischem Theater, zumal in der Verbindung der späten Stücke von Brecht mit einem realistischen Schauspielstil (z.B. in Indien oder Südamerika), und andererseits den eher indirekten Wirkungsweisen postdramatischer Formen, da diese kaum mehr auf Konfliktthemen oder Ideologien fixierbar sind. An der Debatte um die Frage „wie politisch ist das postdramatische Theater?“ hat Lehmann sich mit wichtigen Thesen beteiligt, zumal mit der Idee einer notwendigen Unterbrechung von Politik.7 Insofern aber das Politische an den von ihm beschriebenen Theaterformen weder bloß in der Entgegensetzung zum Drama, noch in der Vermittlung inhaltlicher Botschaften liegen kann, ist hier noch von einer anderen Differenz auszugehen, die mit dem Begriff der Repräsentation selber zu tun hat.
Auch für postdramatisches Theater ist zu unterscheiden, zwischen einer eher affirmativen oder eher kritischen Haltung und Arbeitsweise, zwischen naiver und möglicherweise subversiver Affirmation, zwischen expliziten Strategien und impliziten Taktiken.8 Insofern ist aber die Kritik von Repräsentationsstrukturen keineswegs überholt. Zwar lässt sich einwenden, dass es keinen Ausweg aus dem für Theater elementaren Wechselverhältnis zwischen Präsenz und Repräsentation geben kann. Wie Jacques Derrida in seiner Lektüre der Theaterideen von Antonin Artaud gezeigt hat9 und wie auch Jean-Luc Nancy betont, gibt es kein „Außerhalb“ der Repräsentation: „keine ‚Präsentation‘, die nicht schon in der ‚Repräsentation‘ ist, das heißt keine ‚Präsenz‘, die nicht Präsenz der einen den anderen gegenüber ist“10. Gleichwohl bleibt die Analyse mehr oder weniger offenkundiger Machtverhältnisse auch für eine aktuelle Theaterpraxis wichtig, die den Verlust der großen politischen Ideologien zu reflektieren versucht, etwa das Gespenstische in der Wiederkehr des Marxismus, dessen Erbschaft die Anerkennung von Schuld und eine Kritik an den historischen Idealen nötig macht. Die Dekonstruktion des Marxismus als System und Heilslehre eröffnet, wie Derrida selbst konstatierte, zugleich die Möglichkeit eines anderen Begriffs des Politischen. Demnach ist es das „emanzipatorische Begehren“, an dem unbedingt festzuhalten sei: „Das ist die Bedingung einer Re-politisierung, vielleicht die Bedingung eines anderen Begriffs des Politischen“11. Unverzichtbar ist vielleicht mehr denn je eine Programmatik von Emanzipation, Selbstermächtigung, Self-empowerment als konkrete Aufgabe eines auf neue Weise politischen Theaters wie auch als Potential transkultureller Begegnungen, die von theatralen, szenischen und performativen Praktiken ermöglicht werden.