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Postkoloniale Kritik des inter-, multi- und transkulturellen Theaters
ОглавлениеTheaterwissenschaftler_innen wie Rustom Bharucha,1 Osita Okagbue2 und Helen Nicholson3 argumentieren seit den 1990ern, wie in jenen Zeiten zunächst interkulturell angedachte Projekte, die von abendländischen Theatermacher_innen initiiert, gesteuert und gestaltet werden, die Performancetraditionen ihrer beispielsweise indischen und afrikanischen Kooperationspartner_innen beschneiden, indem sie diese aus dem gesellschaftlichen Kontext reißen, in ein westliches Konstrukt zwängen oder deren komplexe kulturelle Verweise ignorieren bzw. nicht entziffern können. Neben diesen Herausforderungen auf der Produktionsebene formulieren Kulturwissenschaftler_innen wie Birgit Mandel4 und Wolfgang Schneider5 ebenso Missstände hinsichtlich des Erreichens unterschiedlicher Gruppen von Rezipient_innen. Viele kulturelle Gruppierungen bleiben trotz trans-, inter- und multikultureller Ausrichtung den hiesigen Theateraufführungen fern.
Trotz derlei Herausforderungen werden Konzepte von Inter-, Multi- und Transkulturalität in den letzten Jahren breit rezipiert und finden in der Theaterpraxis allerlei Anwendung. Während Interkulturalität die Kommunikation und Verhandlung zwischen den Kulturen betont, baut – grob formuliert – transkulturelles Theater auf den Austausch kultureller Traditionen unter der Maßgabe, etwas „Neues“ zu schaffen, so Wolfgang Sting:
Interkulturelles Theater bewegt sich also zwischen Exotismus (Bestaunen des Fremden), Internationalität (multikulturelles, nichtdialogisches Nebeneinander), Transkulturalität (universell Verbindendes und Neues neben und jenseits bestehender Kulturen), Hybridkulturalität (kulturelle Mischformen). Während Exotismus und Internationalität keinen Perspektivwechsel und Dialog intendieren, beschäftigen sich Transkulturalität und Hybridkulturalität mit der Vielsprachigkeit der Kulturen und entwickeln neue Ausdrucksformen.6
Sting betont, dass ein alleiniges „Bestaunen des Anderen“ und ein „multikulturelles Nebeneinander“ wenig Perspektiven für die Reflexion divers-kultureller Gesellschaften bieten. Doch meines Achtens tendieren ebenso Theaterarbeiten, die eine eher transkulturelle Ausrichtung auf ihre Fahnen schreiben, dazu, ein in der Tendenz westlich ausgerichtetes Modell von Ästhetik zu favorisieren. Auch wenn „Neues neben und jenseits bestehender Kulturen“ generiert wird, geschieht dies oft nach einem westlich tradierten Muster.
So geht der südafrikanische Theaterwissenschaftler Samuel Ravengai der Dominanz abendländischer Theaterkonzepte gegenüber außereuropäischen Performancetraditionen auf den Grund. In The Dilemma of the African Body as a Site of Performance in the Context of Western Training (2011) argumentiert er, dass westliche Schauspielmethoden Körpervorstellungen und performative Praktiken bestimmter afrikanischer Traditionen nicht fassen können:
My hypothesis is that the psycho-technique is a culture-specific system that arose to deal with the heavy realism of Ibsen, Chekhov, Strindberg, Odets and others. I believe that there is a Western realism, which can be differentiated from an African realism. […] Consequently the psycho-technique tends to favour a Western-groomed body and seems to disorientate any other differently embodied body.7
Ravengai kritisiert, dass selbst afrikanische Schauspielschulen – wie etwa zimbabwische – ausschließlich eine auf Stanislavskys Methoden gründende Spieltechnik lehren, die viele Ausdrucksebenen der Absolvent_innen ausblendet oder gar negiert. Nach dieser Lesart weist bereits eine Grundkomponente transkultureller Theaterarbeit – die Darstellungs- und Spieltechniken – aufgrund der Dominanz westlicher Methoden eine Schlagseite auf.
Schließlich erläutert Helen Nicholson in ihrem Buch Applied Drama: The Gift of Theatre (2005), dass Zielsetzungen im Bereich der transkulturell ausgerichteten Projekte des Applied Theatre wie beispielsweise Freiheit und Autonomie des Subjekts vornehmlich auf Vorstellungen des europäischen Theaters des 18. und 19. Jahrhunderts rekurrieren. So argumentiert sie, dass sich Augusto Boals Konzept des „Theatre of the Oppressed“, welches seit Jahrzehnten in trans- und interkultureller Praxis eingesetzt wird, primär auf Konzepte der Aufklärung bezieht:
Boal imbues his spect-actors with special qualities of creativity, autonomy, freedom and self-knowledge, and although his language and terminology is often Marxist in tone, it is on this idealist and Enlightenment construction of human nature that Boal depends for his vision of social change.8
„Autonomy“ ebenso wie die „Enlightenment construction of human nature“ sind Grundfesten des europäischen Theaters seit der Aufklärung und zweifelsohne beeinträchtigen sie, sobald sie als Prämisse von Theaterarbeit gesetzt sind, andere performative und gesellschaftliche Konzepte. Nicholsons Argumentation folgend, wird bereits durch eine solche ästhetisch-philosophische „Vision“ eine gesellschaftspolitische Richtung der Theaterprojekte vorgegeben, die dem europäisch-abendländischen Wertekanon entspricht bzw. vornehmlich auf diesen rekurriert. Mit Rückblick auf ihre eigenen Erfahrungen in der transkulturellen Applied-Theatre-Arbeit kritisiert sie insbesondere die fehlende Reflexion der westlichen Dominanz innerhalb des kreativen und ästhetischen Austauschs, welche regionale Kontexte oftmals über- bzw. ausblendet:
This suggests that an uncritical reading of Boal’s theories of creative exchange has the potential to obscure the significance of context to applied drama. It is left to those who use his techniques, therefore, to consider how the creative dialogue enabled by TO (Theatre of the Oppressed) strategies might illuminate different situations. Practitioners with a range of political perspective apply Boal’s methods to many different situations and problems, and this means that developing a coherent and creative praxis involves recognising that all dramatic dialogues are not only contextually and contently located but also variously politically situated.9
Auf der anderen Seite kann argumentiert werden, dass Theaterprojekte an transkulturellen Schnittstellen womöglich deshalb Konzepte der westlichen Agenda favorisieren, weil diese, insbesondere seit postdramatische Formen am Theater dominieren, eine Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten und ein Verständnis von Ästhetik bereitstellen, welche sich für die Verhandlung diverser kultureller Traditionen und der Generierung neuer Formen besonders eignen.