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Post-Hegel: Das transkulturelle Potential des postdramatischen Theaters
ОглавлениеHans-Thies Lehmann deutet in der Betonung der Formenvielfalt des postdramatischen Theaters auf das ungeheure Potential von Theater hin, sich Neuerungen – wie etwa der zunehmenden kulturellen Vielfalt – zu stellen. Bei genauerer Lektüre seines weltweit rezipierten Werkes Postdramatisches Theater wird ersichtlich, dass erste Ansätze über die weitreichenden Möglichkeiten schon in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik zu finden sind, obwohl dessen Theorie wiederum auch als Beispiel par excellence für den abendländisch-kolonialen Gestus einer idealistischen Ästhetik stehen kann, die andere Kulturen degradiert.1 Hegels rassistische Bemerkungen zu afrikanischen Kulturen sind bekannt,2 sein Wirken sollte sicherlich einer intensiven postkolonialen Kritik unterzogen werden, doch hält es ebenso fruchtbare Überlegungen für die transkulturelle Wirkungsmacht von Kunst bereit. Lehmann macht ebenfalls eine Ambivalenz in Hegels Werk aus, die hinsichtlich der Frage, inwieweit Hegels Überlegungen zur Ästhetik ein transkulturelles Potential in sich birgt, weiterführend sein kann. Diese äußert sich in der anfangs von Hegel favorisierten, nahezu apodiktisch erscheinenden, doch in den Vorlesungen zunehmend brüchiger werdenden Grundannahme, dass die Gesamtidee einer Gesellschaft sich in der Kunst widerspiegelt, so Lehmann:
Die klassische idealistische Ästhetik verfügte über das Konzept der „Idee“: Entwurf eines begrifflichen Ganzen, das die Details konkretisieren (zusammenwachsen) lässt, indem diese sich, zugleich in der „Realität“ und im „Begriff“, entfalten. Jede historische Phase einer Kunst konnte so von Hegel als konkrete und spezifische Entfaltung der Idee von Kunst betrachtet werden, jedes Kunstwerk als besondere Konkretisation des objektiven Geistes einer Epoche oder „Kunstform“. […] Wenn das Vertrauen in derartige Konstruktionen – etwa des Theaters, von dem dann das Theater einer Epoche eine spezifische Ausfaltung wäre – schwand, so zwingt der Pluralismus der Phänomene dazu, das Unvorhersehbare und „Plötzliche“ der Erfindung, den unableitbaren Moment der Intervention anzuerkennen.3
Nach dieser Argumentation wird in Hegels These des Endes der Kunst das Konzept des ausgestalteten Entwurfs der Idee ad acta gelegt. Das Theater tendiert nach Hegels Auffassung allerdings schon seit der Antike dazu, die Vorstellung des Kunstschönen, und damit das „sinnliche Scheinen der Idee“ in der Kunst zu stören:
Wenn Hegel das Kunstschöne als eine vielschichtige „Versöhnung“ der Gegensätze, insbesondere des Schönen und des Sittlichen versteht, so kann man in der Tat behaupten, dass unter dem Begriff des „Dramatischen“ Hegel jene Züge am Ästhetischen zur Geltung bringt, die den Anspruch auf Versöhnung scheitern lassen.4
Lehmann sieht in Hegels Dramenverständnis also bereits postdramatische Züge aufflackern. Er bezieht sich dabei auf die Überlegungen von Christoph Menke, der wenige Jahre zuvor – Mitte der 1990er Jahre – in Die Tragödie im Sittlichen feststellt: „Das Drama ist bei Hegel, auch schon in seiner griechischen Gestalt, auf dem Weg zu einer nicht mehr schönen Kunst. Im Drama beginnt das Ende der Kunst, in der Kunst.“5 Die Besonderheit des Theaters in der Hegelschen Kunstgeschichte und die damit einsetzende Befreiung der Kunst aus den Fesseln des Kunstschönen verdeutlicht sich in der „doppeldeutigen“ Rolle der Schauspieler_innen, einerseits hinter der Maske „nur“ eine vorgegebene Rolle zu spielen und gleichzeitig zu beanspruchen, ein Individuum zu sein, das selbst entscheidet, diese Maske zu tragen: „Die Schauspieler spalten sich von sich als sittlicher Charakter, als Mitglied des Gemeinwesens, und depotenzieren ihn zu einer Maske, durch die nicht sie bestimmt sind, sondern die an- und abzulegen sie, als ‚wirkliche Subjekte‘, die Macht und Freiheit haben.“6 Hegel gesteht so dem Ästhetischen im Theater eine äußerst bedeutsame Rolle für die Darstellung von Vielfalt jenseits der gesellschaftlichen Bräuche und Sittlichkeit zu. Theater wird mit Hegel zu einem Ort, an welchem der denkende Mensch frei aus der Sittlichkeit herausgeht und im Spiel neue Wege gehen kann. So argumentiert Lehmann:
Das theatrale Spiel insgesamt stellt im Grunde eine Undenkbarkeit für die Philosophie des Geistes dar: das an sich wesenlose subjektive Spiel des Spielenden, der Zeichen künstlich produziert, dieses bloße einzelne Ich, erfährt sich als Gründer und Stifter des Wesentlichen, der sittlichen Gehalte, Schöpfer der dramatis personae als in sich bereits Schönheit und Sittlichkeit vereinenden Gestalten.7
Innerhalb dieser postdramatischen Tendenz, die im Theaterschaffen an sich schon das Ende der klassischen Kunst sieht und – so endet Lehmann sein Unterkapitel über Hegel – „ein Modell für die Auflösung des Theaterbegriffs an(mutet)“8, verbirgt sich ebenso der Hinweis, dass sich gerade die Bühne eignet, eine ungeahnte kulturelle Vielfalt aus sich selbst heraus, unabhängig von der Norm der Mehrheitsgesellschaft, entwickeln zu können.
In eine ähnliche Richtung argumentiert die Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke in Die Asymmetrie des Ästhetischen (1995).9 Allerdings bezieht sie dieses Potential des Ästhetischen nicht auf Theater, sondern auf das ästhetische Denken an sich. Sie zeigt, wie, beginnend mit Hegel, innerhalb der philosophischen Diskurse über die Ästhetik asymmetrische Formen zutage treten, indem Grenzen überschritten und so tradierte Strukturen des westlichen Denkens aufgebrochen werden. Während viele andere Bereiche abendländischer Philosophie eine Symmetrie – zum Beispiel die klassischen Formen der Antike oder die „klaren“ Regeln der Logik – bevorzugen, bildet das asymmetrische Denken, so Reschke, ein Korpus, das sich dieser Gleichmäßigkeit und Regelhaftigkeit entzieht, wortwörtlich aus der Reihe tanzt und aus diesem Grunde oftmals von den traditionellen Methoden abendländischer Diskurse nicht begriffen und erfasst werden kann. Reschke setzt als Startpunkt dieser asymmetrischen Denkbewegung die von Hegel aufgegriffene antike Metapher von der weisen Eule der Minerva, die ihren Flug der Erkenntnis erst in der Dämmerung beginnt. Sie sieht in ihr und weiteren Hegelschen Überlegungen zur Ästhetik einen ersten Moment innerhalb der abendländischen Geschichte des Denkens, in welchem der Diskurs sich aus den symmetrischen, wohlgeordneten Strukturen der Wissensgenerierung herauswagt und Sphären betritt, welche die klaren Gesetzmäßigkeiten der Logik samt deren Methoden dialektischer Beweisführung aushebeln:
Die Ästhetik, die am programmatischen „Ende der Kunst“ aktiv wird und ihre Einsichten formuliert, kündete […] auch von der Aussagekraft des Metaphorisch-Asymmetrischen. Die kluge Eule kommt zu ihren Erkenntnissen gegen jede systematische Einseitigkeit und vorbei an den Sicherheiten begrifflicher Fixierungen.10
Mit Blick auf Hegels Vorlesungen über die Ästhetik formuliert dieser tatsächlich eine Art Ahnung oder gar Vermächtnis, dass sein Gebäude des dialektischen abendländischen Denkens, der Weg des spekulativen Prozesses zum absoluten Geist, den er in der Phänomenologie des Geistes beschreibt, keinen universalen Anspruch mehr haben kann. Am Ende der von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho aufgezeichneten und herausgegebenen Vorlesungen, just nach seinen Überlegungen zur Tragödie und Komödie, wird diese Wende in der Hegelschen Philosophie nochmals deutlich:
Doch auf diesem Gipfel führt die Komödie zugleich zur Auflösung der Kunst überhaupt. Der Zweck aller Kunst ist die durch den Geist hervorgebrachte Identität, in welcher das Ewige, Göttliche, an und für sich Wahre in realer Erscheinung und Gestalt für unsere äußere Anschauung, für Gemüt und Vorstellung geoffenbart wird. Stellt nun aber die Komödie diese Einheit nur in ihrer Selbstzerstörung dar, […] so tritt die Gegenwart und Wirksamkeit des Absoluten nicht mehr in positiver Einigung mit den Charakteren und Zwecken des Daseins hervor, sondern macht sich nur in der negativen Form geltend, dass alles ihm nicht Entsprechende sich aufhebt und nur die Subjektivität als solche sich zugleich in dieser Auflösung als ihrer selbst gewiss und in sich gesichert zeigt.11
Hegel ahnt, dass die Komödie eine Wirklichkeit bzw. Subjektivität hervorbringt, die sein Modell des absoluten Geistes nur noch in einer negativen Form, in einer Art des Auflösens und Aufhebens, begreifen kann. Das heißt, dass er die Zukunft der Kunst nicht in einer Identitätserfahrung sieht, in der sich die „Idee“ der Gesellschaft in der Kunst offenbart, sondern in der Aufhebung dieser herkömmlichen Einheit. Er macht so indirekt für die ästhetische Erfahrung eine folgenschwere Prognose. Die Zukunft liegt nicht in einer gemeinschaftlichen Versöhnung vom einzelnen mit dem Ewigen bzw. Göttlichen, der Idee der Gemeinschaft, sondern in der Auflösung dieses tradierten Bundes. So enden seine Vorlesungen mit einem Wunsch:
Möge meine Darstellung Ihnen in Rücksicht auf diesen Hauptpunkt Genüge geleistet haben, und wenn sich das Band, das unter uns überhaupt und zu diesem gemeinsamen Zwecke geknüpft war, jetzt aufgelöst hat, so möge dafür, das ist mein letzter Wunsch, ein höheres, unzerstörliches Band der Idee des Schönen und Wahren geknüpft sein und uns von nun an immer fest vereinigt haben.12
Dieses neue Band, das sich nicht mehr in der schönen Erscheinung des absoluten Geistes konstituieren kann, erschafft sich aus dem Wissen, dass diese „durch den Geist hervorgebrachte Identität“ – zumindest in der Kunst – nicht mehr darstellbar scheint. Hegel deutet am Ende der Vorlesungen über die Ästhetik nicht nur auf Formen des Theaters, die Lehmann Ende des 20. Jahrhunderts als postdramatische beschreibt, sondern auch auf dessen Potential, kulturelle Vielfalt zu fassen und Transkulturalität jenseits der „Idee“ einer singulären kulturellen Tradition darzustellen. Diese, zugegeben, noch etwas kryptische Andeutung, lässt sich anhand drei hier nun genauer betrachteten Theater- und Tanzproduktionen in Südafrika und Deutschland, die in den letzten zehn Jahren erarbeitet wurden, zu tiefergehenden Überlegungen weiterentwickeln.