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2. Paradoxien der Selbstermächtigung
ОглавлениеDie Notwendigkeit, angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen in allen szenischen Künsten und Praktiken zu einer weitergehenden Differenzierung auch des Sammelbegriffs „postdramatisches Theater“ zu kommen, zeigt sich insbesondere im Hinblick auf ihren jeweiligen Bezug zu gesellschaftlichen Kontexten. So stehen die vielfältigen Theaterformen, die sich in den letzten Jahrzehnten ganz neu oder weiter entwickelt haben, häufig noch quer zu den Traditionen eines explizit politischen Theaters, vermeiden eindeutige ideologische Botschaften und entziehen sich einer Instrumentalisierung für didaktische Zwecke. Dabei wird jedoch – als elementarster Aspekt von Kontextualität und gesellschaftlichem Bezug – immer wieder die Funktion und Bedeutung des Zuschauens reflektiert und bearbeitet, in komplexen Situationen der Begegnung, an unkonventionellen Spielorten und im öffentlichen Raum ebenso wie in medientechnischen Versuchsanordnungen. Die Integration des Publikums geschieht kaum mehr unvermittelt wie etwa bei den theatralen Aktivierungsformen der 1970er Jahre. Ein demgegenüber erweitertes Spektrum von Inszenierungs- und Spielweisen macht häufig Fremd- und Selbstbestimmung zugleich erfahrbar. Oft sind vermeintlich bloß Zuschauende auf mehreren Ebenen in ein szenisches Geschehen mit einbezogen, gleichzeitig in unterschiedlichen Funktionen: Mitwirkung, Teilnahme, Voyeurismus und Zeugenschaft. Umso mehr stellt sich daher die Frage, inwieweit auch gegenwärtige Theaterformen beitragen können zu einer Selbstermächtigung, zur Förderung einer selbstbestimmten Praxis.1
Jedenfalls können Zuschauende im Theater, auch bei einer äußerlichen Passivität und Distanz emotional und gedanklich weitaus aktiver sein als bei einem wiederum spektakulären selbstmächtigen Agieren, sei es auf der Bühne oder im öffentlichen Raum. Von daher wäre zu fragen, ob weiterhin noch von einer Emanzipation des Publikums als einem politischen Ziel von Theaterarbeit zu sprechen wäre, oder vielleicht eher von längst schon emanzipierten Zuschauenden, die jedenfalls keine Bevormundung mehr brauchen? Wie aber sieht dann politisches Theater aus, wenn das Gefälle des Wissens und des kritischen Bewusstseins außer Kraft gesetzt wird? Welcher Art sind die Wahrnehmungen und Erfahrungen, die dann gemacht werden können, wenn die Spielleitung selbst aufs Spiel gesetzt und in eine Art kollektiver Produktion überführt wird? Inwieweit ist das überhaupt möglich und was wird dabei preisgegeben? Inwieweit kann ein solches Geschehen noch geplant und beeinflusst werden und welche Art von Impulsen ist dafür hilfreich?
In seinem Buch Das Unbehagen in der Ästhetik beschreibt Jacques Rancière das gegenwärtig erfahrbare Ende der „ästhetischen Utopie“, eine Ohnmacht der Kunst im Hinblick auf die Bedingungen des gesellschaftlichen Daseins. Indem Rancière Kunst grundsätzlich als eine „Aufteilung des Sinnlichen“ definiert, etwa als Anordnung von Körpern „in einem spezifischen Raum und in einer spezifischen Zeit“, gelangt er zur Annäherung vermeintlich selbstgenügsamer, unpolitischer Kunst (die aber gerade darin das Bild von Freiheit und Souveränität als „Versprechen von Emanzipation“ bewahrt) und andererseits einer engagierten und revolutionären Kunst, die selbst schon den Widerspruch zwischen Kunst und Leben aufheben will.2 Politik ist daher in beiden Tendenzen immer schon Teil von Kunst und zumal von Theater, nicht etwa ein Äußeres oder bloß Inhaltliches, das auf der Bühne abzubilden wäre.
Grundlegend für den Aspekt der Selbstermächtigung im oder durch Theater ist vor allem Rancières Abhandlung über den „emanzipierten Zuschauer“. In diesem 2004 auf Einladung des Kurators Mårten Spångberg entstandenen Vortrag (für eine Sommerakademie zu zeitgenössischen Theaterformen) geht Rancière von seiner früheren Studie über den „unwissenden Lehrmeister“ aus, der seine Schülerinnen und Schüler zum Selbstlernen anleiten konnte, ohne ihnen bestimmte Kenntnisse und Erklärungen systematisch zu vermitteln. Dieses Beispiel ist nun gerade für die Frage nach dem transkulturellen Potential von Theater aufschlussreich, da es um die Möglichkeit einer weitgehend eigenmächtigen Annäherung an eine fremde Sprache kreist: Inspiriert von der Entdeckung, wie schnell seine niederländischen Studierenden in Leuwen sich mit einer zweisprachigen Ausgabe von Fénelons Telemach-Roman die Logik der französischen Sprache erschließen und diese lernen konnten, entwickelte Joseph Jacotot um 1820 die revolutionäre Methode eines Unterrichts, in dem Lehren auch Emanzipieren bedeutet, in der Annahme einer Wesensgleichheit aller individuellen Intelligenz: „Die Emanzipation ist das Bewusstsein von dieser Gleichheit, dieser Gegenseitigkeit, die einzig der Intelligenz erlaubt, sich durch Verifizierung zu aktualisieren“3. Anstatt das Lehren auf ein Unwissen und eine damit erst produzierte Unfähigkeit der Lernenden zu gründen (wodurch die übliche Methodik des Unterrichts eher als Verdummung erscheint), könne die Emanzipation individueller Intelligenz deren eigenes Potential freisetzen. Dieser Prozess lässt sich allerdings Rancière zufolge nicht einfach auf größere Gruppen übertragen: „Es kann keine Partei der Emanzipierten, keine emanzipierte Versammlung oder Gesellschaft geben. Aber jeder Mensch kann sich immer, jeden Moment, emanzipieren und einen anderen emanzipieren“4. Alle Versuche, das Anliegen der Emanzipation in ein System des gesellschaftlichen Fortschritts zu überführen, hätten bisher die individuelle Gleichheit aufgeopfert im Bemühen um eine gesellschaftliche Gleichheit. Womit Jacotots Projekt jedoch weiterwirken kann ist die Einsicht, dass künstlerische Arbeit nach ähnlichen Prinzipien funktioniert:
Der Künstler braucht die Gleichheit, wie der Erklärende die Ungleichheit braucht. […] Man kann so von einer Gesellschaft von Emanzipierten träumen, die eine Gesellschaft von Künstlern wäre. Eine solche Gesellschaft würde die Trennung zwischen denen, die wissen, und jenen, die nicht wissen, zwischen denen, die über Intelligenz verfügen, und jenen, die nicht über sie verfügen, ablehnen. Sie würde nur tätige Geister kennen: Menschen, die etwas machen, die darüber sprechen, was sie machen, und somit alle ihre Werke in Mittel umformen, Menschlichkeit zu signalisieren, die ihnen wie allen eignet.5
Zur Übertragung von Jacotots Methodik auf die Situation des Theaters erwähnt Rancière zunächst die lange, bis in die Antike zurückreichende Geschichte des antitheatralen Vorurteils, wonach Zuschauende im Theater stets passiv und den Illusionen der Bühne unwissend ausgeliefert seien. In diesem Sinne hätten auch die Avantgarden das schlechte Spektakel des Theaters zu ersetzen versucht, sei es durch eine Versammlung, deren Mitglieder sich vor allem ihrer Situation und ihrer Interessen bewusst werden sollten (Brecht), sei es durch eine Zeremonie, bei der die Gemeinschaft ihre vitalen Energien entfalten sollte (Artaud). Der für die Geschichte des modernen politischen Theaters grundlegenden Annahme, das Publikum des Spektakels müsse erst noch aktiviert werden, hält er entgegen, dass es schon durch seine Wahrnehmung und Imagination aktiv ist. Daher aber wäre Theater auf andere Weise zu organisieren, nicht mehr im Bemühen um eine Aktivierung zu gemeinsamer Präsenz (um dann das Spiel der Repräsentation zu überwinden), sondern als ein Austausch künstlerischer (und anderer) Fähigkeiten, einschließlich derjenigen des Erzählens und Übersetzens:
It should be the institution of a new stage of equality, where the different kinds of performances would be translated into one another. In all those performances, in fact, it should be a matter of linking what one knows with what one does not know, of being at the same time performers who display their competences and spectators who are looking to find what those competences might produce in a new context, among unknown people.6
Dieser Idee einer neuen Gleichheit im Austausch verschiedenster Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen im zeitgenössischen Theater schon seit Jahren eine Reihe von Tendenzen, die zwar auch an die Avantgarden des 20. Jahrhunderts anknüpfen, die Idee einer Emanzipation aber stärker auf den Austausch und die wechselseitige Förderung individueller Kreativität gründen: Im Unterschied zu den traditionellen Mustern des isoliert schaffenden Künstler-Genies einerseits, des hierarchisch oder totalitär organisierten Kollektivs andererseits, geht es dabei um Arbeitsweisen, die den Austausch von Kompetenzen ermöglichen, die prinzipiell gleichwertig sind. Dass die Entwicklung, Inszenierung und Aufführung von theatralen Produktionen nicht mehr nur arbeitsteilig und hierarchisch, sondern als kollektiver Prozess organisiert werden, ist ein wichtiges Element heutiger Theaterarbeit, deren Tätigkeitsfelder (Schauspiel, Regie, Tanz, Choreographie, Dramaturgie, Ausstattung etc.) mit eher kooperativen Arbeitsformen ineinander übergehen können.
Mit dieser Veränderung im Selbstverständnis der künstlerischen Praxis eng verbunden sind weitere grundlegende Tendenzen, die eine zunehmende Reflexion auf gesellschaftliche, lokale und globale Kontexte manifestieren und gleichzeitig die Erweiterung von Theaterarbeit im Sinne einer transkulturellen Arbeitsweise und Ästhetik. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Gruppe Rimini Protokoll zeigen, welche im Kern aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel besteht, die in wechselnden Konstellationen einzeln, zusammen oder auch mit anderen produzieren. Als eines der Markenzeichen der Gruppe kann die Arbeit mit nichtprofessionellen Akteuren und Akteurinnen gelten, mithin eine gezielte Überschreitung des etablierten Kunsttheaterbetriebs. So hat Rimini Protokoll seit über fünfzehn Jahren für Bühnenproduktionen an deutschen und internationalen Theatern immer wieder Menschen aus unterschiedlichsten Tätigkeitsbereichen eingeladen, ihre jeweiligen Erfahrungen und Kompetenzen vorzustellen. Dabei fungieren sie als Experten des Alltags, die ihr Publikum auch ohne professionelle Schauspieltechnik erreichen und im Rahmen des jeweiligen Szenenablaufs auf ungewohnte Weise ansprechen können. Was daran interessiert und den Erfolg dieser Arbeitsweise begründet hat, ist nicht bloß der Effekt des Authentischen oder gar die Befriedigung einer Schaulust wie im Reality-TV. Im Gegenteil wird ein jeweils spezifischer theatraler Rahmen geschaffen, in dem außer der Eigenlogik der vorher recherchierten Themen auch die beteiligten Persönlichkeiten auf die Dramaturgie einwirken, z.B. Älterwerden in Sitzgymnastik Boxenstopp (2001), Umgang mit Sterben und Tod in Deadline (2003), Gerichtsverhandlungen in Zeugen! Ein Strafkammerspiel (2004), Wahlkampf und Lokalpolitik in Wallenstein (2005), Nachrichtenproduktion in Breaking News (2008), oder die statistische Analyse der Großstadtbevölkerung in 100% (2008 in Berlin, seither international in vielen weiteren Städten).
In all diesen Produktionen findet eine Selbstermächtigung zumindest insofern statt, als die Agierenden die durchaus theatralen Routinen, die sie sich in Alltag und Beruf angewöhnt haben, auf der Bühne zeigen, ohne dass sie – wie sonst üblich – durch professionelles Schauspiel repräsentiert werden (vorausgesetzt, sie hätten überhaupt eine Chance, dass ihr Leben literarisch bearbeitet und dieses Stück dann auch inszeniert wird). Die andere Ermächtigung betrifft aber die Zuschauenden, die ihrerseits einen stärkeren Bezug zu Aufführungen entwickeln können, in denen ihnen nicht nur professionell perfektionierte Kunstleistungen präsentiert werden, sondern auch die Erfahrungen ihres eigenen Alltags vorkommen, so dass sie sich selbst als zumindest potentiell ebenso berechtigte Akteurinnen und Akteure begreifen können.
Wie die Anwendung von Jacotots Experiment mit der intellektuellen Gleichheit auf den Austausch von Fähigkeiten und Kompetenzen zwischen allen Beteiligten einer Aufführung zeigt, liegt die Möglichkeit zur Emanzipation vielleicht gerade in einem singulären Plural-Sein (Nancy), in einer individuellen Gleichheit, die immer wieder mit der Fortdauer einer sozialen, kulturellen und ökonomischen Ungleichheit konfrontiert ist. Emanzipation wäre demnach auch kein einmaliger, von außen definierter Akt, wie es der Begriff der Ermächtigung noch suggeriert, sondern ein unablässiger Prozess. Ein Theater der Transkulturalität schaffen hieße, diesen Prozess in jeder Richtung zu ermöglichen, ohne ihn bestimmten Bedingungen oder Zwecken unterzuordnen, also auch nicht einer Repräsentation kultureller Identität, vielmehr ihn zuzulassen als offenes Experiment. Solche Experimente nicht nur für ein begrenztes Publikum durchzuführen, sondern mit einer breiteren Öffentlichkeit, war seit jeher ein Anliegen von Theaterschaffenden, die damit zugleich die Grenzen ihrer Kultur durchlässig zu machen versuchten. Dieser Aspekt soll nun abschließend noch etwas vertieft werden, da er zugleich produktive Formen für einen Umgang mit dem Fremden eröffnet, dieses nicht als Bedrohung von Kultur, sondern als deren elementare Voraussetzung und Entwicklungsbedingung erweist.