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3. Überschreitung des Theaters

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Transkulturalität als Perspektive ermöglicht und erfordert, Theater quer zur Fixierung von Identitäten und Gewissheiten zu denken, und Theater nicht nur als künstlerische Praxis zu verstehen, sondern in seinen Wechselwirkungen mit kulturellen, politischen und ökonomischen Kontexten.1 Theater birgt daher immer schon die Möglichkeit zu seiner eigenen Überschreitung, im Auszug aus etablierten Räumen und Institutionen ebenso wie mit der Überwindung konventioneller Auffassungen von Schauspiel als Abbild von Wirklichkeit und Ausdruck kultureller Identität. Überschreitung wäre hier auch in Annäherung an die von Michel Foucault in Anschluss an Georges Bataille formulierte Erfahrung einer existenziellen Infragestellung des Subjekts zu verstehen, das mit den Grenzen seines Seins (im Rausch, in der Sexualität, in der Religion, im Wahnsinn etc.) spielt anstatt sie bloß überwinden zu wollen. Diese Art von Überschreitung „durchbricht eine Linie […], die sich hinter ihr sogleich wieder in einer Welle verschließt, die kaum eine Erinnerung zulässt und dann von neuem zurückweicht bis an den Horizont des Unüberschreitbaren“2. Zumindest da, wo sich postdramatisches Theater der Performance und dem Happening nähert, arbeitet es – als ein Theater der Überschreitung – mit einer ähnlichen Dynamik der radikalen Verausgabung. Der Impuls zur Überschreitung betrifft dann aber nicht nur das Drama, sondern strukturell auch das damit verknüpfte Menschenbild und schließlich Kultur insgesamt, sofern diese noch im Sinne von Identität, Nationalität, stabiler Zugehörigkeit aufgefasst wird. Gleichzeitig werden auch die Räume und Erscheinungsweisen des Publikums in Frage gestellt, einer quantitativen und qualitativen Entgrenzung ausgesetzt. Dieser Prozess kann schließlich das Theater selber erfassen, in seiner Grundbedeutung als Schauplatz ebenso wie in dem davon abgeleiteten Bezug auf szenische und performative Praktiken aller Art. Überschreitung des Theaters hieße dabei sowohl die Überwindung von Sparten, Gattungen und Disziplinen, deren Entwicklung ohnehin nur von ihrer andauernden Wechselwirkung her zu begreifen ist, wie auch die Entgrenzung des Schauplatzes, der weit über die konventionellen Bühnengebäude hinaus als Situation zwischen Agierenden und Zuschauenden überall entstehen kann.

Nicht von ungefähr war die Idee des Nationaltheaters, eng verbunden mit der Idee einer nationalen Literatur und Kultur, bei ihrer allmählichen Realisierung im „langen“ 19. Jahrhundert auch geprägt durch die zunehmende Abgrenzung theatraler und szenischer Praktiken von der sie umgebenden gesellschaftlichen Realität. Die Errungenschaften des illusionär abgeschlossenen, als Guckkasten perfektionierten Kunstraumes wirken bis heute nach im Dispositiv des dramatischen und zugleich auf die baulich fixierte Trennung vom Publikum angewiesenen Theaters. Daher können umgekehrt die Überschreitung dieses immer noch dominanten Theatertyps und der Auszug aus oder genauer: die Rückkehr in öffentliche Räume zugleich eine Erweiterung des gesellschaftlichen und kulturellen Horizonts von Theater bewirken. Die damit absehbare erneute Erweiterung des Spektrums theatraler Praktiken geht jedenfalls über die Ablösung vom Drama hinaus. Transkulturelles Theater wäre mithin der weitere Begriff, dessen elementares Kriterium einer Begegnung von Agierenden und Zuschauenden nicht länger determiniert ist von den spezifischen, kulturell geprägten Institutionen der Sprache, der Literatur und insgesamt einer jeweiligen Ästhetik und Didaktik. All diese Faktoren können inzwischen auch innerhalb der um Öffnung bemühten Theaterinstitutionen auf neue Weise in den Blick genommen und selbst zum Thema und Material theatraler Prozesse werden, nicht zuletzt das Verhältnis von Kunst und Alltag. So lassen sich theatrale Praktiken in anthropologischer Perspektive verstehen als eine Kommunikation von Menschen untereinander ebenso wie mit verschiedenen nichtmenschlichen Wesen, die nicht nur adressiert werden sondern zugleich selbst agieren können (insbesondere Göttinnen und Götter, Tiere, Puppen, Maschinen, Avatare und künstliche Intelligenzen), zugleich aber als eine unablässige Konfrontation mit Erfahrungen von Fremdheit. Anstatt bloß, wie noch im Europa des 19. Jahrhunderts, zur Begründung national-kultureller Identität zu dienen, ermöglichen solche Praktiken eine transkulturelle Überschreitung, die in der gegenwärtigen Weltlage auch weitaus notwendiger erscheint als der Rückzug auf ein vermeintlich „Eigenes“.

Beispiele dafür, wie die Überschreitung des konventionellen Bühnengebäudes zugleich einhergehen kann mit der Erweiterung des Theaters auf Horizonte anderer Kulturen im Kontext globalisierter Ökonomien, Kriege und Migrationsströme, bieten wiederum Arbeiten von Rimini Protokoll, vor allem Call Cutta, Cargo Sofia oder auch Situation Rooms. In der Produktion Remote X, die 2013 als Remote Berlin anfing und weltweit in über 30 Städten neu erarbeitet wurde, folgen ca. 50 Teilnehmende einer synthetischen Stimme, die ihnen die urbane Umgebung wie auch ihr eigenes Verhalten fremd erscheinen lässt. Dabei findet die Bewegung stets in der Gruppe statt, die sich gelegentlich aufteilt und von der Stimme öfters als eine „Herde“ oder „Horde“ adressiert wird. Wie in früheren Audiowalks bleibt es den Teilnehmenden weitgehend überlassen, ob sie die angesagten, „ferngesteuerten“ Bewegungen ausführen oder nur den anderen dabei zusehen. Das Spiel mit der Möglichkeit, den Spielort zu verlassen oder zu verlagern, erweist sich in der aktuellen Theater-, Performance- und Tanzpraxis aber nicht etwa als ein endgültiger Abschied von der Institution und den Gebäuden des konventionellen Theaters, eher als deren Erweiterung. Oft sind es kooperative Projekte, die den Ort des Theaters in der Stadt neu zu bestimmen suchen und dabei zugleich theatrale Aktionen im urbanen Raum ermöglichen.3 Dies führt inzwischen gerade für die Frage nach dem Öffentlichen als einer gemeinsamen Sphäre zunehmend auf Erfahrungen von Fremdheit, auf die Begegnung einander unbekannter Individuen, Gruppen und Kulturen.

Der Umstand, dass gegenwärtig der Status des Menschen und die ethischen Werte der modernen westlichen Welt durch Vertreibung und Flucht im rechtlichen Ausnahmezustand hinfällig erscheinen, bringt zahlreiche Theaterschaffende aber auch wieder dazu, auf die Anfänge der westlichen Theaterkultur zurückzugehen und das in vieler Hinsicht prä-dramatische Modell der griechischen Tragödie aufzugreifen. Deutlich wird das am Beispiel von Aischylos’ Hiketiden, einem Stück, das in den letzten Jahren oft eine Überschreitung theatraler Konventionen provoziert hat, bis hin zur Öffnung des Theaters (als Haus und als Praxis) zum Asyl und zu der Frage nach dem unmöglichen Ort des Theaters in der heutigen Gesellschaft. Dafür ist Aischylos’ Stück hochbedeutend, da hier der Fall der 50 schutzflehenden Frauen aus Ägypten bereits als politischer Prozess dargestellt wird. Der König Pelasgos kann den Fall nicht allein entscheiden, sondern muss zunächst die Volksversammlung um Rat fragen und abstimmen lassen. Tatsächlich ist der Text der Schutzflehenden sogar eine der frühesten erhaltenen Quellen für ein derartiges demokratisches Verfahren in der Griechischen Kultur. Die Angelegenheit ist von elementarer Bedeutung für alle, geht jeden Bürger etwas an. Um ihrem Gesuch ein größeres Gewicht zu geben, erinnern die Schutzflehenden den König Pelasgos daran, dass er von Zeus selbst bestraft werden könnte, wenn er ihnen kein Bleiberecht gewährt. Später vergleicht der König sich selbst und das Volk von Argos mit einem Schiff in Not und droht denjenigen welche die Schutzflehenden nicht beschützen damit, dass sie selber verbannt und in Flüchtlinge verwandelt würden.

Die theatrale Umkehrung von Flüchtlingen und Aufnehmenden ist bis heute ein wirksames Mittel, um die Ängste von Gesellschaften zu überwinden, die mit Geflüchteten konfrontiert sind. So gab es einige neuere Produktionen dieses Stückes, welche die Schwierigkeiten und Paradoxien der aktuellen Asylpolitik zum Ausdruck zu bringen versuchten, z.B. Enrico Lübbes Inszenierung des Textes Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek am Schauspiel Leipzig (2015). Jelinek schrieb ihren Text bekanntlich mit Bezug auf den realen Konflikt von Flüchtlingen, die 2013 in Wien ein Kirchenasyl erreichen wollten und schließlich von der Polizei deportiert wurden. So thematisiert sie die Macht bürokratischer Verfahren, die einzelne Asylsuchende auf ihre körperliche, aller individuellen Rechte entkleidete Existenz reduzieren, wie es bereits von Giorgio Agamben in Homo Sacer analysiert wurde.4 Assoziationen mit diesem Kontext waren auch in Lübbes Produktion präsent, welche die Aktualität der Texte von Aischylos und Jelinek gerade in ihrer Verknüpfung verdeutlichte. Die räumliche Situation bestimmte ein verrosteter Schiffsrumpf. Der Chor der Schutzflehenden verwandelte sich in eine Gruppe von Jelinek-Doubles, dann in eine Masse von Flüchtlingen und schließlich in eine Gruppe von Feriengästen als Hotdogs, die auf ihren Liegestühlen in der Sonne gegrillt werden und sich über die – angeblich von Flüchtlingen verursachte – Umweltverschmutzung an den Stränden beschweren. Wie Jelineks Text spielte auch die Aufführung mit dem Kontrast zwischen pathetischen Bildern von Leiden und Angst und andererseits einem Zynismus der Banalitäten und stumpfen Vorurteile.

Einen anderen Ansatz verfolgte Sebastian Nübling, ebenfalls im Herbst 2015, am Berliner Gorki Theater, und wiederum von Aischylos und Jelinek ausgehend. Darüber hinaus verwendete er aber Ausschnitte der Asyldebatte in deutschen Parlamenten sowie persönliche Erinnerungen der Geflüchteten, die bereits Teil des Gorki-Ensembles geworden waren. Die Stühle wurden entfernt und das Publikum war auf einer Tribüne platziert, während das Parkett des Theaters als Versammlungsraum benutzt wurde. Im weitgehenden Verzicht auf festgelegte Rollen, wenn auch durch körperliche Handlungen auf das Stück Bezug nehmend, engagierten sich die Spielenden vor allem in politischen Reden und einer Art Re-enactment der abstrakten Debatte über die neuen Gesetze zu Einwanderung und Asyl. Die Aufführung endete mit einer Versammlung des Publikums um die neuen Mitglieder des Ensembles, die somit Gespräche über ihre persönliche Erfahrung von Flucht und Migration aktiv gestalten konnten, anstatt bloß von anderen repräsentiert zu werden. Auf diese Problematik verwies schon der Titel der Produktion: In Unserem Namen.

Gegenwärtig gibt es aber auch eine Tendenz, Theatergebäude und -institutionen demonstrativ in Asyle zu verwandeln, die für alle offen sein sollen, die eine Bleibe suchen, und als Treffpunkt dienen können für diejenigen, die ihnen helfen wollen. An vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum gibt es solche Projekte, die zum Teil den konventionellen Gebrauch der Theaterhäuser weitgehend verändern. Diese Entwicklung erscheint einerseits als notwendiger und häufig auch produktiver Impuls zur Öffnung eines mitunter starren Apparates der Repräsentation auf Prozesse des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Andererseits bleibt Theater immer noch einer der seltenen Orte, an denen Experimente nicht zwingend Gewinn bringen müssen. So können sie auch der ansonsten vorherrschenden bürokratischen Verwaltung und ökonomischen Verwertung von Geflüchteten und ihrer prekären Situation entgegensetzen. Wie sich auch an diesen Beispielen zeigt, ermöglicht und erfordert Theater gegenwärtig Praktiken des Inszenierens und Agierens, welche die üblichen Trennungen zwischen „eigen“ und „fremd“ überschreiten. Diese Praktiken eröffnen transkulturelle Perspektiven, mit denen die in vieler Hinsicht problematischen Formen heutiger Migrationspolitik kritisch reflektiert werden können. Die für das Zusammenleben in gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaften elementare Frage, wie die mit dem Insistieren auf kultureller Identität immer wieder einhergehenden Tendenzen der Exklusion zu überwinden wären, ist sicherlich Grund genug, auch das Theater als Institution neu zu denken, Überschreitung selbst als eine theatrale Praxis zu begreifen, auszuprobieren und durchzuspielen.

Postdramatisches Theater als transkulturelles Theater

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