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2. Wirkmacht von Narrationen im Kontext des Anthropozäns
ОглавлениеAngesichts dieser räumlichen, zeitlichen und moralischen Dimensionen sowie durch einen hohen kognitiven und emotionalen Anspruch an die Lernenden und Lehrenden eröffnet sich ein produktiver Denk- und Diskursraum für einen kulturwissenschaftlich geprägten Deutschunterricht. Durch das Erzählen vom Menschen, der die Erdsysteme wie kein anderes Lebewesen beeinflusst, zugleich aber in den natürlichen Kreisläufen verhaftet bleibt, greift das Anthropozän weitestgehend auf deklarative Wissensbestände zurück. Zudem bündelt die Epochenbezeichnung vielfältige Phänomene und Problemstellungen, die bis dato unabhängig voneinander oder parallel zueinander betrachtet wurden und bringt diese in eine Relation (vgl. Möllers 2016, 25). In der Rezeption der Narrationen kann es sich allerdings den moralisierenden Hinweisen auf angesagte Verhaltensweisen nicht gänzlich entziehen. Diese Narrationen sind nicht zuletzt im Kontext kultureller Bildung von hoher Relevanz, denn das Potenzial von Erzählungen für die Wertebildung des/der Einzelnen hat sie immer auch zum Medium für pädagogisch-didaktische Zielsetzungen werden lassen.
Erzählungen2 bieten anschauliche Möglichkeiten, unterschiedliche Vorstellungen und Werthaltungen darzustellen. Sie sind kulturelle Weisen der Welterzeugung, verdichten Erfahrungen und Erinnerungen und dienen dazu, komplexe Geschehnisse zu vergegenwärtigen. Damit leisten sie auch einen Beitrag dazu, zentrale ethische Fragen zu beantworten (vgl. zum Folgenden Nünning 2012). Dies beginnt auf einer sehr grundlegenden Ebene: Narrationen ermöglichen es, aus der Fülle der Wahrnehmungen handhabbare Einheiten zu erzeugen, die mentale Repräsentationen des Erlebens klassifizierbar, erkennbar und erinnerbar machen. Der Eindruck, dass Erzählungen das Geschehen nur abbilden, greift zu kurz, denn Narrationen üben maßgeblichen Einfluss auf den Sinn aus, den Menschen dargestellten Ereignissen zuweisen, die in narrativer Form vermittelt werden.
Erzählungen sind somit nicht nur Mittel der Generierung sowie Kommunikation von Wissen, sondern auch Medium der Überzeugung. Über die Emotionalisierung einer Geschichte werden Botschaften wirkungsvoll kommuniziert, um Inhalte nachhaltiger und effektvoller zu vermitteln. Narrationen können Rezipierende dazu veranlassen, bisherige Wissensbestände zu modifizieren, Einstellungen zu verändern und für sie neue kausale Relationen zwischen individuellen Schicksalen und sozialen Strukturen herzustellen. Diese Funktionalisierung von Erzählungen als Storytelling wird einerseits gezielt zu Zwecken des Marketings verwendet (vgl. Friedmann 2018, 13), und andererseits ist Storytelling wiederum für den pädagogischen Kontext interessant und anschlussfähig für Überlegungen der narrativen Ethik in der philosophischen Tradition des Neopragmatismus3 (vgl. zum Folgenden Rorty 1989): Erzählungen lenken den Blick auf die tieferliegenden Überzeugungen und nutzen die prospektive Kraft der Leser*innen als einer Art Zuschauer*innen. Erzählungen beschreiben Einzelfälle, und indem diese in der Rezeption miteinander in Beziehung gesetzt werden, entsteht die dichte Beschreibung einer möglichen Wirklichkeit.4
Im Anthropozändiskurs werden mögliche Wirklichkeiten etwa in Form von dystopischen Katastrophenszenarien (vgl. Horn 2014 u. 2017) sowie utopischen Zukunftsbeschreibungen ausgestaltet. Oder es werden post- bzw. transhumanistische Szenarien durchgespielt (vgl. z.B. Heise 2015), eine weiter zunehmende Humanisierung und menschliche Vereinnahmung der Erde prognostiziert (vgl. z.B. Schwägerl 2012) sowie der Umgang mit humanoiden Existenzen thematisiert (vgl. Küppers 2018). Diese Szenarien und ihre mediale Repräsentation scheinen besonders in der zeitgenössischen Literatur einen starken Reiz auszuüben (vgl. z.B. Horn 2017; Schultz-Pernice 2017; Waczek 2017).
Dies lässt sich aus der Perspektive narrativer Ethik so analysieren, dass insbesondere Romane und Erzählungen, die das Leben anderer präzise schildern, dazu beitragen können, Solidarität zu schaffen: „Der Prozess der Sensibilisierung durch Literatur hilft uns, den anderen als einen von uns, statt als einen von jenen zu sehen“ (Rorty 1989, 16). Darum lassen sich Erzählungen als Eingriffsmöglichkeiten in die Kulturpolitik verstehen, da sie „die ethische Valenz menschlicher Handlungen“ (ebd., 30) darstellen. So wird es möglich, moralische Ebenen sichtbar zu machen und einen Wandel des Denkens durch die Vermittlung von Erfahrungen zu bewirken.
In ähnlicher Weise gesteht auch der Sozialphilosoph Hans Joas Erzählungen enorme Wirkung zu. Sie beginnen, wenn die Analysen enden; sie sind keine Alternativen, sondern umfassendere Begründungen, also argumentative Fortschreibungen mit anderen Mitteln. Auszugehen ist also „von einer Verschränkung von Argumentation und Narration“ (Joas 2012, 115). Für geschriebene Geschichten gilt dies allein schon aufgrund der Mechanismen des Lesewirkungsprozesses. Geschichten sind für das menschliche Gehirn offenbar die einfachste Form, Informationen zu verarbeiten, wie Untersuchungen der Kognitionspsychologie nahelegen:
Erzählungen können als eine besonders wirkungsvolle Technik betrachtet werden, mit der Menschen Informationen bündeln, strukturieren und kommunizieren. Geschichten transportieren dabei viel mehr als nur Fakten. […] Dabei erleben die Rezipierenden die Geschichten durch die Emotionalisierung der Erzählung und die empathische Spiegelung im wahrsten Sinne des Wortes mit. Neurobiologische Untersuchungen belegen, dass bei der Rezeption von erzählten Erlebnissen sowohl bei den Erzählenden als auch bei den Rezipierenden die gleichen Hirnareale stimuliert werden, die auch beim realen Erleben der entsprechenden Handlungen und Ereignisse aktiv sind. (Friedmann 2018, 195)
Bei der Textlektüre werden also, das zeigen auch Ergebnisse lesepsychologischer Forschungen, Emotionen ausgelöst, die ein relevanter Einflussfaktor beim Verarbeiten von Informationen sind. Empathie und Textverstehen unterstützen sich gegenseitig (vgl. Christmann 2003, 276). Zudem gibt es begründete Hinweise darauf, dass das kognitive und emotionale Involvement beim literarischen Lesen mit Empathiefähigkeit und sozialer Kompetenz einhergeht. Das kann zu einer „potenziell persönlichkeitsverändernden Kraft literarischer Lektüren“ (Groeben & Christmann 2014, 349) führen, da Kognition und Emotion interferieren:
Das kognitionswissenschaftliche Konzept von Kognition, als einem autonomen Repräsentations- und Prozessorsystem, muss jedenfalls revidiert werden. Kognitionswissenschaft und theoretische Linguistik müssen (an)erkennen, dass die lange als marginal erachteten Emotionen maßgeblichen Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten und sprachlichen Leistungen des Menschen haben und die strikte Trennung von Geist und Gefühl obsolet ist. (Schwarz-Friesel 2008, 297)
Erzählungen können also als ein integratives Medium angesehen werden, die den Rezipierenden mittels verdichteter Erfahrungen, d.h. durch die „prozessuale Interaktion von Emotion und Kognition“ (ebd.), einen emotional-anschaulichen Zugang zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen vermitteln. Zum einen bietet dies die Möglichkeit, nicht allein aus eigenen Erfahrungen, sondern auch aus denen anderer zu lernen und so das eigene Handeln weiterzuentwickeln. Storytelling spielt genau mit dieser Erkenntnis, wie ein vergleichender Blick zum Marketingbereich zeigt: Hier wird gezielt versucht, Wissensbestände über Firmen oder Produkte auf eine bestimmte Weise emotional aufzuladen. Zudem fungieren Erzählungen als Chance im Umgang mit Überkomplexitäten und ermöglichen die Aushandlung von Selbstwirksamkeitsstrategien durch die spezifische Weise des Zusammenwirkens von Ästhetik und Ethik: Literarische Formen der Vermittlung setzen auf ästhetische Gestaltungsstrategien, um ethisch-moralische Inhalte zu thematisieren. Literatur ist darum als Zumutung in einem positiven Sinn zu begreifen. Ihr wird eine Mittlerrolle zugeschrieben, da sie kognitive Eindimensionalität durch affektive Gestaltung zu bereichern und Bewusstmachungsprozesse einzuleiten vermag.