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3. Storytelling als Strategie der Wissenschaftskommunikation
ОглавлениеNarrationen fungieren im Anthropozän also als Vermittlungsmedien (vgl. Anselm 2017, 8). Indem sie bestimmte Diskurse führen, unterschiedliche Denkmuster und Positionen verhandeln sowie Sinn und Erkenntnis anbieten, können sie auf Seiten der Rezipierenden Reflexionsprozesse initiieren, Überzeugungen und Handlungsweisen auf den Prüfstand stellen und in der Auseinandersetzung der Lernenden mit in Erzählungen verhandelten Themen die Fähigkeit schulen, Wertentscheidungen bewusst zu treffen (vgl. Anselm 2012, 409). Diese Form des Storytellings wird als Strategie in der Wissenschaftskommunikation in doppelter Weise eingesetzt:
(1) Erzählungen vom Anthropozän ermöglichen den Menschen, ihre Wirklichkeit zu ordnen sowie zu deuten und damit als sinnvoll zu erfahren (Vogt 1997, 288f.). Vor diesem Hintergrund ist das Anthropozänkonzept selbst als Erzählung zu verstehen, die in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend in den Massenmedien – zumeist eher unkritisch und distanzlos – aufgegriffen wurde und mittlerweile zu einer Rahmenerzählung bzw. zu einem Narrativ geworden ist. Im pädagogisch-didaktischen Kontext ist dies zu reflektieren, wie eingangs gezeigt wurde, um zu verdeutlichen, dass die Verwendung dieser Rahmenerzählung eine Positionierung besonderer Art und kein ungebrochen zu vermittelndes Faktum darstellt. Dazu bedarf es, vor allem wenn man das Anthropozän im Unterricht thematisiert, einer Metakritik, die eine Analyse der Entstehung sowie der zum Teil auch gegenläufigen Diskurse im Kontext des Anthropozän-Narrativs enthält (vgl. Hoiß 2019). Dafür eignet sich der von Klein und Martínez eingeführte Terminus der Wirklichkeitserzählungen, die „auf reale, räumlich und zeitlich konkrete Sachverhalte und Ereignisse […] referieren und […] in diesem Sinne faktuale Erzählungen [sind]“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Unterschied zu literarischen Texten, die Bezug auf die Wirklichkeit nehmen, verstehen Klein und Martínez in diesem Zusammenhang unter einer Erzählung eine „zeitlich organisierte […] Abfolge von Ereignissen“ (ebd.), wobei drei Typen zu unterscheiden sind:
Deskriptive Wirklichkeitserzählungen bilden reale Sachverhalte ab und sind an einer Wahrheitsfindung interessiert (etwa bei der Kontextualisierung und Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse). Dieser Typus stellt die Grundlage für die gesamte Diskussion um das Anthropozän dar: „Er besteht aus einem rein deskriptiven Zugang, der etwas über den momentanen Zustand des Planeten Erde (v.a. im Vergleich zu einem früheren Zeitpunkt) und den Einfluss der menschlichen Spezies auf diesen aussagt.“ (Hoiß 2019, 154) Dagegen wird bei normativen Wirklichkeitserzählungen „ein erwünschter Zustand von Wirklichkeit geschildert mit dem Ziel, eine bestimmte (gesellschaftliche oder individuelle) Praxis zu regulieren“ (Klein & Martínez 2009, 9). Im Anthropozändiskurs ist dieser Typus fast schon selbstverständlich an den deskriptiven Typus gekoppelt, nämlich immer dann, wenn aus den deskriptiven Wirklichkeitserzählungen heraus eine Verantwortung des Menschen für den Planeten, die Umwelt, andere Spezies, oder künftige Generationen abgeleitet wird (vgl. Hoiß 2019, 153ff.). Bei den sogenannten voraussagenden Wirklichkeitserzählungen geht es um die Beschreibung eines erwarteten künftigen Zustandes der Wirklichkeit mit der Funktion einer Festlegung allgemeiner Strukturmerkmale (vgl. Klein & Martínez 2009, 9). Beispiele dafür sind Aussagen über die Folgen der globalen Klimakrise, des weltweiten Artensterbens sowie sämtliche Vorhersagen darüber, was geschehen könnte, wenn die Menschheit ein bestimmtes (z.B. nachhaltiges) Agieren unterlässt.
(2) Erzählungen kommt im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die Menschen zu zukunftsorientiertem Denken und Handeln befähigt sowie zu einer nachhaltigen Gestaltung der eigenen Lebenswelt anregt, als „Lerngeschichten“ (Baake & Schulze 1993, 9) besondere Bedeutung zu. Denn die normativen Vorstellungen von und über Nachhaltigkeit werden auch durch Literatur und Medien geprägt. So sind Erzählungen als wirkungsvolle Ressource zu verstehen, um fächerübergreifend und fachintegrativ den zentralen Bereich schulischer Werteerziehung auszugestalten (vgl. Anselm 2021). Sie können ihren Rezipierenden Sichtweisen der Wirklichkeit nahelegen, die nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kultur (relativ) neu sind (vgl. Saupe & Leubner 2017, 150). Besonders hervorzuheben sind hierbei die multimodalen Erzählformate, die sich dem Anthropozändiskurs zuordnen lassen und in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit erfahren haben. Als Konsequenz der rasanten Entwicklung im digitalen Bereich der letzten Jahre und dem damit verbundenen medialen Strukturwandel ist dabei zugleich ein zunehmender Druck wahrnehmbar, entsprechende crossmediale Vermittlungsstrategien zu entwickeln (vgl. Anselm & Hoiß 2017), um die eigenen Inhalte für eine breite Öffentlichkeit – und das heißt: quer über die verschiedenen medialen Kanäle – zugänglich zu machen. Wie auch im Anthropozändiskurs deutlich zu sehen ist, umfasst die inhaltliche Dimension von Crossmedialität (neben der technischen Ermöglichung multimedialen Erzählens und einer Kreuzung der Medien) vor allem die Präsentation von Themen bzw. das Storytelling über technische Mediengrenzen hinweg und damit die Entwicklung crossmedialer Genres (vgl. Hoiß 2019, 197f.).
Im Folgenden wird ausgehend von drei Konkretionen aufgezeigt, inwiefern Narrationen im Kontext des Anthropozäns im Sinne des Storytellings entscheidende Bedeutung zukommt. Zunächst wird im Rahmen von Beispielen aus der Wissenschaftskommunikation dem Verhältnis von Fakt und Fiktion in solchen Erzählungen nachgegangen, die explizit dem Anthropozän zuzuordnen sind. Dann werden Erzählungen als literarische Zukunftswerkstätten gedeutet, deren prospektive Kraft man im Kontext des Anthropozäns auch für den Unterricht nutzen kann. Schließlich werden anhand konkreter Beispiele sogenannte Stoffgeschichten als narrative Annäherungen an globale Handlungspraktiken expliziert.