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4. Erzählungen zwischen Fakt und Fiktion
ОглавлениеAls besondere Eigenheit im Anthropozändiskurs erscheint der Comic in der Wissenschaftskommunikation als beliebtes Medium der Wissensvermittlung. Unter dem Begriff Graphic Science wurden aufwendig gestaltete Comic-Bände wie Anthropozän – 30 Meilensteine auf dem Weg in ein neues Erdzeitalter (Hamann 2014) oder Die Anthropozän-Küche (Leinfelder, Hamann, Kirstein & Schleunitz 2016) erstellt. Basierend auf dem Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (vgl. WBGU 2011) überträgt der Sachcomic Die große Transformation. Klima – Kriegen wir die Kurve? (Hamann, Hartmann, Zea-Schmidt & Leinfelder 2013) Ergebnisse der Politikberatung in allgemein verständliche Erzählungen. Hier ist das Anthropozän der Auslöser für die im Comic beschriebenen politischen, wissenschaftlichen oder aktivistischen Bemühungen bekannter Akteur*innen im Klimabereich, die wiederum auf einen neuen Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation hinarbeiten. Auch andere Institutionen wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) nutzen den Comic für eine kurze Geschichte der Klimaforschung wie beispielsweise in Ein heißer Fall – Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung klärt auf (PIK 2017). Wieder andere, wie der Schriftsteller Yuval Noah Harari – immerhin seit Jahren einer der weltweit erfolgreichsten Sachbuchautoren – nutzen das Genre, um wissenschaftliches Wissen sichtbar und einer breiten Zielgruppe verfügbar zu machen: In der Graphic Novel Sapiens. Der Aufstieg (2020) wird der erste Teil von Hararis Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit (2015) adaptiert: Wenn man so will, geht es mit dem Aufstieg des Menschen auch um den Beginn des Anthropozäns.
Durch die (massen-)mediale Vermittlung ist das Anthropozän mittlerweile zu einem kulturellen Phänomen avanciert (vgl. Hoiß 2019, 162–192) und Erzählungen übernehmen, wie aus den vorangestellten grundlegenden Reflexionen zur Wirkmächtigkeit von Literatur deutlich wurde, die Vermittlungsrolle. In diesem Zusammenhang ist der oben gezeichnete Trend deutscher Wissenschaftsinstitutionen (Deutsches Museum, PIK, WBGU etc.) aufschlussreich, bei der Darstellung der globalen Herausforderungen des Anthropozäns der Hinwendung zur erzählerischen Vermittlung ganz generell und im Speziellen bildbasierten gegenüber rein wortbasierten Literaturformen den Vorzug zu geben. Daneben können aber auch genrespezifische Überlegungen angestellt werden. So verweist die wissenssoziologische Forschung auf, wenn auch nicht vollends empirisch nachgewiesene, motivationale Effekte von Comics: Beispielsweise wird davon ausgegangen, dass der Comic grundsätzlich auch schwerer zugängliche Zielgruppen wie etwa Jugendliche anspreche und zum Lesen motiviere. Das Medium sei als bilddominiertes intuitiver zugänglich und könne daher auch wissenschaftliche Erkenntnisse leichter vermitteln (vgl. Schrögel & Weitze 2018, 30ff.). Comics und Wissenschaft seien nämlich gerade kein Widerspruch. Zudem sei nicht davon auszugehen, dass es bei der Transformation wissenschaftlichen Wissens in Comic-Formate zu einem Verlust von Informationen komme, sondern gerade die Bild-Text-Kombination intensivere Dimensionen des Wissenstransfers erst ermöglichten (vgl. ebd.).
Dies ist mit Blick auf die naturwissenschaftlichen, oft sehr technologischen Grundlagen des Anthropozäns, die einer allgemeinverständlichen grafischen Aufbereitung bedürfen, anzuerkennen, da die wissenschaftlich „verwendeten textlichen Codes Fachbegriffe fern des Lebensalltages enthalten“ (ebd., 32). Kommunikativ betrachtet fungieren Comics nicht nur im Kontext des Anthropozäns als „Dialogwerkzeug“ (ebd., 33) im Umgang mit der Öffentlichkeit, sondern auch als Vermittlungsmedium in Bildungskontexten. Gleichwohl unterscheiden sich Wissenschafts-Comics als ästhetisch-literarische Produkte grundlegend von konventioneller (nicht explizit narrativer) Wissenschaftskommunikation:
Während wissenschaftliches Wissen wahr und überprüfbar sein muss, dürfen – oder müssen – literarische Aussagen erfunden sein. Das Erzählen von wissenschaftlichen Fakten in Kunstprodukten ist somit notwendigerweise von etablierten Kommunikationsverfahren des Wissenschaftssystems zu unterscheiden […]. Fiktionen von wissenschaftlicher Wirklichkeit erzeugen in dem Spektrum kunstvermittelter Wissenschaftskommunikation somit ein Spannungsfeld, das aus den unterschiedlichen Operationsweisen von Wissenschaft und Kunst hervorgeht. (Fücker & Schimank 2018, 50f.)
Diese Vermengung der kategorialen (und durchaus enggeführten) Sphären von Wissenschaft und Kunst wird im Wissenschaftssystem allerdings keineswegs durchgehend als positiv bewertet. „Denn anstatt verlässliche Botschaften auszusenden, wie es von der Wissenschaft erwartet wird, sind fiktionale Vermittlungsformate vielmehr dadurch charakterisiert, kontinuierlich neue und vielfältige Bedeutungszusammenhänge herzustellen“ (ebd., 51). Oft haben sie ein Image degenerierter, defizitärer und unangemessener Kommunikation, da sie eben nicht mehr ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien wie der Verlässlichkeit von Informationen operieren, sondern die Story neben das Faktum stellen bzw. die Fakten durch literarische Rezeptionsprozesse überhaupt erst kontextualisiert werden. Darum relativieren literaturwissenschaftliche, erzähltheoretische und nicht zuletzt didaktische Forschung diese Einschätzung (vgl. Klein & Martínez 2009, 1): Erzählen ist ein grundlegender, anthropologisch begründeter Zugang zur Welt, dem sich auch die Wissenschaft nicht entziehen kann. Diese Einschätzung bestätigt Lyotard, der eine „Rückkehr des Narrativen in das Nichtnarrative“ (Lyotard 2015, 79) gerade im wissenschaftlichen System erkennt:
Ein grober Beweis: Was machen die Wissenschaftler, wenn sie nach irgendwelchen „Entdeckungen“ zum Fernsehen gerufen, in den Zeitungen interviewt werden? Sie erzählen ein Epos eines Wissens, das doch gänzlich unepisch ist. (Ebd.)
Dieses Vorgehen macht sich nicht zuletzt didaktische Vermittlung zunutze. Denn bei der Frage, wie wissenschaftlich erzeugtes Wissen auch pädagogisch und gesellschaftlich wirksam werden kann, spielen Erzählungen eine zentrale Rolle. Auch wenn anzuerkennen ist, dass Wissenschaft und Kunst bzw. Literatur aus unterschiedlichen Systemlogiken heraus agieren, geht es im pädagogischen und gesellschaftlichen Vermittlungskontext nicht nur, wie im Wissenschaftssystem vorgesehen, um die exakte Replikation wissenschaftlichen Wissens. Ziel ist es vielmehr, dieses Wissen in ein pädagogisch-didaktisches Handlungswissen zu überführen und damit „kontinuierlich neue und vielfältige Bedeutungszusammenhänge herzustellen“ (Fücker & Schimank 2018, 51), sodass diese im Leben jedes Individuums anschlussfähig werden. Literarische Texte (und damit auch literarische Repräsentationen wissenschaftlichen Wissens) tragen so aufgrund ihres inhärenten Vermittlungspotenzials „zur Sichtbarmachung von wissenschaftlichen Wissensbereichen […] und damit zur Erweiterung einer allgemein angestrebten ‚scientific literacy‘ bei“ (ebd., 54). Im Wechselspiel zwischen Fakt und Fiktion macht Literatur Wissenschaft also überhaupt erst lesbar und trägt so zur Entwicklung einer zukunftsbezogenen Bildung im Sinne der Futures Literacy bei.