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5. Erzählungen als literarische Zukunftswerkstätten

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Erzählen ist, so lässt sich festhalten, eine grundlegende Form des Zugriffs auf die Wirklichkeit und hat dabei orientierende Funktion. Dies gilt auch für die Imagination zukünftiger Szenarien, wie sich am Beispiel des Anthropozäns erkennen lässt, das selbst – wie gezeigt – auch als Narrativ gelesen werden kann (vgl. Hoiß 2019; Horn 2017). Es bündelt eine Vielzahl von Erzählungen, die zwischen dystopischen und eutopischen Zukunftsvisionen changieren und von beispielsweise normativer, präskriptiver, deskriptiver oder prospektiver Art sind.

Das Besondere daran ist im Kontext des Anthropozäns nicht die Tatsache, dass über Zukünftiges oder komplett in oder gewissermaßen aus der Zukunft im Rückblick auf die Gegenwart erzählt wird – im Rahmen einer intradiegetischen Welt ist dies ein gängiges Merkmal für bestimmte Genre wie Science Fiction, Fantasy, Dystopien etc. –, sondern dass dabei auf eine zum Zeitpunkt der Handlung bereits vergangene Zeit referiert wird, die für die Rezipierenden die reale Welt der Gegenwart ist. Erzählungen machen sich eine Erprobungs- und Aushandlungsfunktion von Literatur zunutze und werden zu Spiel- und Denkräumen, in denen ohne Konsequenz und Risiko mit alternativen Modellen der Welt experimentiert werden kann (vgl. Bär 2017, 43). Erzählungen werden so zu literarischen Zukunftswerkstätten.

Ein bekanntes und durchaus erfolgreiches Beispiel einer solchen literarischen Zukunftswerkstatt ist der 2004 erstmals erschienene Roman Der Schwarm von Frank Schätzing. Darin richtet eine intelligente maritime Lebensform (Yrr), die symbolisch für die Natur als Ganzes steht, seine Kraft gegen die menschliche Zivilisation. Es ist eine international vernetzte Wissenschaft, die in der Akkumulation globaler Zwischenfälle wie dem Verschwinden von Fischer*innen, Walangriffen oder bislang unbekannten Wurmkolonien Zusammenhänge erkennt, die – so erfährt man im Laufe der Handlung – von den Yrr im Meer koordiniert werden. Erst im Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik auf globaler Ebene entsteht die Voraussetzung für die Erforschung der Lebensform, ihre Funktions- und Kommunikationsweise. Dies ist die Basis für das weitere politische Vorgehen, die Yrr von der Beendigung der Angriffe auf die Menschen zu überzeugen.

Schätzings Der Schwarm offenbart einen literarischen Ort, an dem wissenschaftliche, ethische, politische und gesellschaftliche Möglichkeiten durchgespielt und reflektiert werden (vgl. zum Folgenden Bär 2017, 43–46). Für den Anthropozändiskurs nicht untypisch ist dabei die Rollenzuschreibung des Menschen als Zerstörer, „der massiv in natürliche Abläufe und Prozesse eingreift, um ökonomische Interessen durchzusetzen, potenzielle Bedrohungen zu minimieren oder sein Leben im Sinne eines von ihm definierten ‚guten Lebens‘ führen zu können“ (ebd., 44). Der wissenschaftliche „Fortschritt“ entpuppt sich in diesem Zusammenhang als zweischneidiges Schwert: Er verursacht viele dieser Zerstörungen und zugleich schafft er durch die Zunahme an Umwelt- und Nachhaltigkeitswissen die Grundlage dafür, überhaupt erst ein Bewusstsein für die ökologischen Schäden und Kriterien für einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund spielt Der Schwarm verschiedene Zukunftsszenarien durch:

• Möglichkeiten in der Beziehung zwischen Mensch und Natur werden diskutiert und anhand verschiedener Protagonist*innen vorgestellt – beispielsweise wird ein anthropozentrisches, die Natur unterwerfendes Weltbild einem systemisch-integrativen Naturverständnis gegenübergestellt, im Rahmen dessen der Mensch Teil der natürlichen Sphäre ist.

• Angesichts einer bedrohlichen natürlichen Kraft werden unterschiedliche Handlungsoptionen präsentiert wie ein militärischer Gegenschlag, die Orientierung an Praktiken indigener Völker, die Erarbeitung eines ökozentrischen Bewusstseins sowie die Anerkennung planetarischer Grenzen.

• Aktuelle lebensweltliche Diskurse werden auf ihre Legitimität und Praktikabilität hin geprüft wie etwa unterschiedliche Visionen von Gesellschaftsformen oder bestehende und neue Paradigmen in Wissenschaft und Politik etc.

In Bezug auf die vorangegangenen Überlegungen zum Verhältnis von Fakt und Fiktion erscheint es zudem von Bedeutung, dass die Präsentation und Erklärung von Phänomenen und Fakten in der Handlung durch Wissenschaftler*innen vorgenommen werden. Diese kommunizieren dabei in einer doppelten Weise: zum einen im Rahmen der inneren Handlungslogik, um anderen (nicht-wissenschaftlichen) Figuren der Erzählung die Erzählwelt zu erklären; zum anderen in der Funktion einer Wissensvermittlung an die Lesenden. So lässt sich etwa aus den

ausführlichen Beschreibungen bzw. Erklärungen geologischer wie biologischer Fakten [...] die Erzählabsicht ableiten, dass [die Leser*innen] Einsicht in komplexe Zusammenhänge einer (maritimen) Natur erhalten und den Einfluss menschlichen und damit auch des eigenen Handelns auf ein sensibles Ökosystem verstehen lernen“ (Bär 2017, 42f.).

Beide Kommunikationsintentionen lassen sich daran erkennen, dass gerade innerhalb der wissenschaftlichen Fach-Community überwiegend auf Fachjargon verzichtet wird bzw. für Lai*innen verständliche Paraphrasen und Erklärungen an dessen Stelle treten.

In solchen erzählenden Formen der Wissenschaftskommunikation entspinnen sich kontingente literarische Zukünfte. Diese Future Fictions (vgl. Hollerweger 2018) können dabei das gesamte Spektrum zwischen Ökotopia, Ökodiktatur und Apokalypse abdecken und bieten so auch ein diskursives Laboratorium für globale gesellschaftliche Herausforderungen.

Als ein „literarisches Laboratorium“ (vgl. Rank 2014) ist beispielsweise die Lyrik-Anthologie All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän (Bayer & Seel 2016) zu betrachten, die in der Folge der Ausstellung „Willkommen im Anthropozän“ im Deutschen Museum in München veröffentlicht wurde. Die Herausgeberinnen Anja Bayer und Daniela Seel sammelten darin literarisch hochwertige Gegenwartsgedichte von rund 125 deutschsprachigen Autor*innen (vgl. etwa Yoko Tawadas Gedicht „Saftige Fehler“ im folgenden Kapitel). Anders als bei Frank Schätzing kann hierbei jedoch von einem deutlich höheren Grad an strategischer Wissenschaftskommunikation ausgegangen werden, handelt es sich bei der Anthologie doch um Auftragslyrik, welche die Möglichkeiten narrativer Sprache jenseits nüchterner Argumentation nutzt, um für die globalen Problemstellungen im Anthropozän (so die Prämisse) zu sensibilisieren.

Motivational ähnlich gelagert sind Phänomene des Storytellings, die für Zwecke der Wissenschaftskommunikation bzw. der Schaffung von Anwendungsvisionen genutzt werden. Dabei geht es oft um mögliche Zukunftsszenarien, die aufgrund einer technologischen Entwicklung eintreten – mit (für bestimmte Menschen) guten wie schlechten Folgen. Erzählungen dieser Art werden aufgrund der ihnen inhärenten kommunikativen Wirkung im Sinne von Storytelling als strategische Texte gelesen und anders als Texte wie Der Schwarm nicht als literarische Erzählungen wahrgenommen, sondern als „Technikzukünfte“5 bezeichnet. Dadurch wird sowohl die enorme Bedeutung der Technik in modernen Gesellschaften als auch die Kontingenz möglicher Zukunftsszenarien betont. Die Erzählungen kombinieren Imaginationen des Zukünftigen mit konkret erkennbarem technologischem Aktionspotenzial der Gegenwart und sind generell (ergebnis-)offen (vgl. Schrögel & Weitze 2018, 27). Typische Elemente solcher Technikzukünfte sind Bereiche wie „zukünftige Mobilität, Energieversorgung, Wassermanagement oder die Steuerung von komplexen technischen, sozialen oder virtuellen Systemen[,] [...] die die Zukunft der Natur des Menschen“ bestimmen (Grunwald 2018, 105). Solche Formen des Storytellings befassen sich also explizit mit dem Verhältnis zwischen Mensch, Technik und Natur.

Die Entwicklung von Technikzukünften ist an sich nicht zwingend im literarischen Bereich anzusiedeln, sondern dient als Methode, in der Erzählungen im Rahmen von wissenschaftlicher Analyse, Reflexion und Kommunikation eingesetzt oder entwickelt werden. Sie stellen beispielsweise Entwicklungsprognosen bzgl. der Verfügbarkeit neuer Technologien dar und geben eine Einschätzung von Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit bzw. Konkurrenzverhältnissen in der Zukunft wieder. Es handelt sich also um „wissenschaftlich erstellte Zukunftsvorstellungen[,] [...] Visionen zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen und Zustände auf Basis heutiger Erwartungen und Extrapolationen, insbesondere im Bereich der neuen Technikfelder“ (Grunwald 2018, 104f.). Die Geschichten speisen sich meist aus modellbasierten Szenarien und nehmen sowohl globale Dimensionen in den Blick – wie etwa auch Klimamodellierungen dies tun – als auch eine regionale und lokale Ebene (vgl. ebd., 105).

Auch im Marketing- und PR-Bereich sowie in der Organisationsentwicklung findet Storytelling seine Verwendung, wenn es um öffentlichkeitswirksame Kommunikation u.a. im Bereich Nachhaltigkeit, Technologie und Gesellschaft geht. Die wissenschaftliche Grundlage und Ausrichtung spielen dabei, anders als bei den beschriebenen Technikzukünften, in der Regel keine Rolle. Beratungsfirmen wie Narratives Management (https://www.narratives-management.de/) nutzen gezielt die Wirkung von Erzählungen, um mit ihren Kund*innen überzeugende Narrative für interne wie externe (Werbe-)Kommunikation zu entwickeln. Von ihnen geleitete Netzwerke wie Beyond Storytelling (https://www.beyondstorytelling.com/) werben damit, dass man strategisches Storytelling erlernen und für die eigenen Zwecke gezielt nutzen kann (Chlopczyk 2017; Chlopczyk & Erlach 2019).

Die didaktische Funktion von Storytelling ist jedoch auch für den Bildungskontext von Interesse. Diese Art von Zukunftswerkstätten gehören im Kontext einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gewissermaßen zum Standardrepertoire (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Sie zählen zu den zukunftsorientierten Lernmethoden und basieren auf einem didaktischen Konzept (vgl. Jungk & Müllert 1981/1995), bei dem davon ausgegangen wird, „dass die Menschen über häufig ungenutzte kreative Fähigkeiten sowie Problemlösungspotenziale verfügen, die aktiviert werden können. Mithilfe der Methode werden diese Ressourcen mit dem Ziel mobilisiert, Perspektiven für die individuelle und/oder gemeinsame Zukunft zu entwickeln und konkrete Schritte zur Erreichung dieser Ziele zu planen“ (Böttger 2001, o.S.). Zukunftswerkstätten durchlaufen dabei typischerweise drei Phasen: eine Kritikphase, in welcher der Ist-Zustand analysiert wird, eine Utopie-Phase, die den Soll-Zustand formuliert, sowie eine Realisierungsphase, in der es um die Fixierung konkreter Handlungsmöglichkeiten zur Erreichung des Soll-Zustands geht (vgl. ebd.).

Der Fokus liegt bei Zukunftswerkstätten deutlich auf der Entwicklung einer positiven Zukunftsvision (vgl. DPJW 2020, o.S.), um nachhaltige Veränderungen anzustoßen und umzusetzen. Sie sind fächerübergreifend einsetzbar, weil explizit Fragestellungen nachgegangen wird, die alle betreffen. Beispiele hierfür sind Fragestellungen wie „Was ist gutes Leben?“, „Was ist gute Bildung?“, „Wie sehen Städte der Zukunft aus?“, „Wie kann sich Ernährung verändern, um nachhaltigen Kriterien zu genügen?“ oder „Wie kann ein alternatives Wirtschaftssystem aussehen und was muss es leisten?“ (vgl. Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Dass dabei Interessenskonflikte entstehen können, liegt auf der Hand. Gleichwohl stellen Zukunftswerkstätten hierfür einen geeigneten Rahmen dar, der für die Teilnehmer*innen die Möglichkeit zum Gespräch über ein ggf. kontrovers diskutierbares Thema entstehen lässt. Die Teilnehmenden erwerben dabei im Sinne einer BNE wichtige Gestaltungskompetenzen, indem sie sich u.a. mit Fragen nach den eigenen Lebens- und Wertvorstellungen auseinandersetzen und im Austausch mit den Einstellungen anderer eine Wertereflexionskompetenz entwickeln.

Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren

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