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7. Gewissensbisse: Erzählerische Zugänge zum Ressourcenverbrauch von Avocados, Mangos und Melonen
ОглавлениеStoffgeschichten bieten Zugänge aus einer ungewohnten Perspektive und erhellen Aspekte, die sonst verborgen bleiben. Angesichts der globalen Herausforderungen im 21. Jahrhundert kann so ohne Moralisierungen mit Blick auf den menschlichen Umgang mit den Ressourcen der Erde eine Sprache der Vermittlung entstehen, die nachhaltiges Konsumbewusstsein und ein Verständnis für komplexe Zusammenhänge erzeugt. Dies lässt sich am Beispiel unterschiedlicher Fruchtkonsumgüter verdeutlichen: Beispielsweise hat die Avocado als Konsumgut im letzten Jahrzehnt in Deutschland einen wahren Boom erlebt. Nicht nur für Veganer*innen gilt sie als Superfood, da sie trotz ihres hohen Fettgehalts gesund ist und aufgrund dessen von vielen als Ersatz für tierische Produkte wie Butter oder Eier genutzt wird (vgl. auch zum Folgenden Anselm, Hoiß & Köppel 2021). Gleichwohl wird der Genuss von einem – im übertragenen Sinne – bitteren Beigeschmack begleitet, auf den in einer Bildreihe der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Dieses Gemüse ist gemein“ (Glotzmann 2019) verwiesen wurde. Denn die Avocadoproduktion in Mittel- und Südamerika trägt enorm zu sozialen Spannungen und ökologischen Schäden bei: Für die Produktionsflächen werden oft illegal Wälder abgeholzt, der starke Import setzt lokale Kleinbäuer*innen unter Druck und der wasserintensive Anbau von Avocados führt in den Anbauregionen zu Wassermangel für die einheimischen Gemeinden. Dazu kommen die CO2-Emissionen für den Transport der Früchte nach Europa. Allerdings gilt es dies sogleich zu relativieren, denn 100g Avocado (pro Frucht etwa 0,05kg) verursachen weniger CO2-Emissionen als 100g Ei (pro Stück etwa 0,2kg) (vgl. Winterer 2021). Die ethische Bewertung des Avocado-Konsums ist also durchaus komplexer, als man meinen möchte. Erschwert wird die Bewertung zusätzlich dadurch, dass Avocados in unterschiedlichen Ländern der Erde angebaut werden, sodass nicht alle oben genannten Aspekte, die in Chile oder Mexiko gelten, auch auf den Anbau in Spanien zutreffen. Diese teils kontroversen Informationen gilt es mit Blick auf den eigenen Konsum zu reflektieren (vgl. Winterer 2021, o.S.), um sie entsprechend in die eigenen Konsum- und Handlungsentscheidungen einfließen lassen zu können.
Zur Reflexion dieser komplexen Zusammenhänge kann die Grafik von Stefan Dimitrov (Abb. 1) anregen.
Abbildung 1: SZ-Grafik von Stefan Dimitrov, aus: „Dieses Gemüse ist gemein“, SZ.de vom 09.06.2019, ©Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).
Das Bild kann gedeutet werden als eine Avocado, deren Kern eine Weltkugel ist. Zu sehen sind Wasseradern, die sich in die Avocado hineinverästeln und möglicherweise auf den hohen Wasserbedarf der Pflanze verweisen. Die Komposition des Bildes ist erklärungsbedürftig, was didaktische Möglichkeiten eröffnet, etwa als Impuls für eine gemeinsame Sinnerschließung des Rätselbildes. Nach und nach offenbart sich, dass diesem Bild eine Stoffgeschichte eingeschrieben ist, die sich im weiteren Unterrichtsverlauf aufschlüsseln lässt.
Auf den gleichen bzw. einen ähnlichen Zusammenhang verweisen auch Abbildung 2 und 3:
Abbildung 2: Cover des prämierten Greenpeace Magazins (Heft 4.19/Enver Hirsch). Abrufbar unter: https://www.cover-des-monats.de/cover-des-monats-juni-2019-gomagazin-punktet-mitder-henne-ei-frage (letzter Abruf am 10.04.2021). Mit freundlicher Genehmigung des Greenpeace Magazins.
Das Cover des Greenpeace Magazins mit dem Titel Gewissensbisse spielt auf die ethischen Implikationen globaler Produktions- und Lieferketten am Beispiel der Avocado an. Hier können Lernende ebenfalls über einen gemeinsamen Prozess der Sinnerschließung den stoffgeschichtlichen Gehalt des Bildes herausarbeiten: Der Biss in die halbierte Avocado samt Schale dürfte dabei – ohne die Nennung des Titels – anfänglich für Irritation sorgen. Im Unterrichtsgespräch sollte darum besonders auf die Kombination mit der Überschrift hingewiesen werden, denn erst durch die sprachliche Verknüpfung des sichtbaren Bisses in der Avocado mit dem per se nicht sichtbaren Gewissen entfaltet sich die ethische Problematik. Beim Abgleich mit Abbildung 1 könnten im Anschluss auch gestalterische Unterschiede und Schwerpunkte herausgearbeitet werden. In Abbildung 2, so suggeriert das Bild, liegt die Verantwortung wohl eher bei der konsumierenden Person, die den Biss beim Verzehr der Avocado tätigt und so als einzige Instanz entlang der Stoffgeschichte sichtbar ist. Diese Prozesse können darüber hinaus auch um weitere Obst- und Gemüsesorten ergänzt werden. Dadurch entsteht ein ganzheitlicheres Bild. Auch die Grafik des fluter-Artikels Avocadogate (Frisse 2016) enthält eine mahnende, wenn nicht sogar abschreckende Botschaft für die Leser*innen.
Abbildung 3: Avocadogate – Grafik aus einem Online-Artikel des Magazins fluter (Titelbild: David Dörrast) abrufbar unter: https://www.fluter.de/avocados-aus-mexiko-abholzung-kiefernwaelder (letzter Abruf am 10.04.2021).
Der in die Avocado hineingeschnitzte Totenkopf symbolisiert die Umweltschäden in Ländern wie Mexiko, die mit dem Avocado-Anbau einhergehen. Zudem wird im Artikel auf die Teilhabe mexikanischer Drogenkartelle verwiesen, die finanziell am Dünger- und Pestizideinsatz beteiligt seien und zusätzlich am Avocado-Export verdienten (vgl. ebd.). Auch darauf dürfte der Totenkopf anspielen.
Die „Flugmangos“ (Abb. 4) verlagern die konsumethischen Fragen am Beispiel der Mangos speziell auf Überlegungen zum hohen Emissionsausstoß und Energieverbrauch beim globalen Transport.
Abbildung 4: Flugmangos. SZ- Grafik von Stefan Dimitrov, aus: „Dieses Gemüse ist gemein“, SZ.de vom 09.06.2019, ©Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content (www.sz-content.de).
Die Auseinandersetzung mit Stoffgeschichten wie diesen kann im Deutschunterricht auch durch die Beschäftigung mit lyrischen Texten fortgesetzt werden. So lässt sich beispielsweise das Gedicht „Saftige Fehler“ von Yoko Tawada auch als Stoffgeschichte lesen.7 Wie bei den Gewissensbissen fordert bereits die mehrdeutige Überschrift „Saftige Fehler“ zum Nachdenken auf: Zum einen geht es um die im Saft der Melone enthaltenen Herausforderungen und zum anderen auf die verborgenen ethisch-moralischen Probleme bei der Risikoabwägung, der Verteilungsgerechtigkeit oder dem Konsumverhalten der (wohlhabenden) Menschen. Das Gedicht changiert in der Bedeutung der Melone: Einerseits ruft es Assoziationen einer realen Melone hervor, die man vor dem Konsum „halbiert“, die ein „rosa Fleisch“ hat und „saftig“ ist, durch zunehmende Züchtung teilweise sogar „kernlos“ wurde und unter künstlichen Bedingungen das ganze Jahr im „Polyesterklima“ produziert – „Die Züchtung braucht keine Sonne“ – und auch konsumiert wird.
Saftige Fehler
Wer hat die Wassermelone halbiert
Ihre nördliche Hälfte schwitzt
Wie ein kremiger Urlauber
Gewissen ins rosa Fleisch
Gestoßen auf eine Ader der verblassten Samen
Kernlos sollte sie werden
Manipuliert in der frisch gepressten Freiheit
Die Schatten winziger Samen
vermehren sich in einem
Polyesterklima
Viel zu klein, um den Satz zu beenden
Die Züchtung braucht keine Sonne
Der Winter liegt vor mir
Jedes Mal erneut
lauwarm und tödlich
Yoko Tawada (2016, 98)
Andererseits fungiert die Melone als Symbol für die Erde, deren nördliche Hälfte, der Globale Norden, wie der Rest der Welt nicht nur unter steigenden Temperaturen „schwitzt“, sondern auch aus Furcht vor den Folgen des Klimawandels. Diese werden mit zunehmend „lauwarm“ werdenden Wintern beschrieben, die letztlich für Menschen und bestimmte Tierarten „tödlich“ enden werden. Zugleich verweist die Zweiteilung der Melone auf zwei Welten: den reichen, ausbeuterischen Norden, der durch exzessiven Lebensstil – angedeutet durch den in Sonnencreme gehüllten „Urlauber“, der sein „rosa Fleisch“ vor der Sonne schützt und in Urlaubsländern „schwitzt“ – die Erdsysteme ins Wanken bringt; und dem armen Globalen Süden, der so unterprivilegiert ist, dass von der südlichen Hälfte gar nicht erst die Rede ist. Dass für diese „saftigen Fehler“ die Schuld und die Verantwortung bei den Ländern des Globalen Nordens zu suchen ist, daran lässt dieses Gedicht keinen Zweifel.
Neben spezifisch deutschdidaktischen Kompetenzen können im Rahmen einer stoffgeschichtlichen Beschäftigung speziell auch Gestaltungskompetenzen im Rahmen einer BNE gefördert werden. Die Schüler*innen erkennen globale Zusammenhänge, indem sie am Beispiel der Avocado den Einfluss des eigenen Nahrungsverbrauchs und Konsumverhaltens auf das Leben anderer Menschen, landwirtschaftliche Nutzflächen sowie die lokalen Märkte im Globalen Süden nachvollziehen. Dabei diskutieren sie gemeinsam über die ethische Bewertung des Konsums von Avocados, Mangos oder Melonen, wobei die Argumentation stets an die impulsgebenden Texte und Bilder rückgebunden wird. Auch Vorschläge, wie man zu einem sinnvollen Umgang in diesem – wie auch anderen – Nachhaltigkeitsdilemmata gelangen kann, sodass Situationen, die zu „Gewissensbissen“ führen, zunehmend vermieden werden, lassen sich in diesem Zusammenhang ebenso fachübergreifend entwickeln. Letztlich ist es im Bereich der Persönlichkeitsbildung grundlegend wichtig, die individuellen und kollektiven Leitbilder zu reflektieren. Daher beleuchten die Schüler*innen den eigenen und gesellschaftlichen Lebensmittelkonsum hinsichtlich sozialer, ökologischer, ökonomischer und ethischer Aspekte im weltweiten Kontext kritisch und lernen, nachhaltige und nichtnachhaltige Entscheidungen zu differenzieren. Die Schüler*innen erkennen darüber hinaus auch die negativen Auswirkungen des eigenen Konsumverhaltens auf die Lebenssituation von Menschen im Globalen Süden und berücksichtigen künftig diese sozialen Aspekte bei ihrer Konsumentscheidung aus einer Haltung der Solidarität heraus.