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|14|Einführung

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Die im Matthäusevangelium in Kapitel 5 bis 7 überlieferte „Bergpredigt“ Jesu hat über die Jahrhunderte eine reiche Wirkungsgeschichte entwickelt: Armutsbewegungen wie die des Franz von Assisi, Friedenskirchen wie die Mennoniten oder Quäker und auch die politische Friedensbewegung der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts bezogen sich besonders auf diesen Bibeltext. Auch unser Sprichwortschatz ist durch die Bergpredigt bereichert: Das Licht, das man nicht unter den Scheffel stellt (vgl. 5,15), dass man nicht zwei Herren dienen kann (6,24), die Rede vom „Balken im eigenen Auge“ (7,3), vom Haus, das auf Sand gebaut ist (7,26), die „Lilien auf dem Felde“ (6,28) und die „Wölfe im Schafspelz“ (7,15) – all das ist über die Lutherübersetzung des griechischen Textes in unseren Sprachschatz eingegangen. Auch das die weltweite Christenheit verbindende Gebet „Vater unser“ ist uns durch die Bergpredigt überkommen (6,9–13).

Die so genannte Bergpredigt ist allerdings nicht eigentlich eine „Predigt“ und geht auch nicht in dieser Form auf Jesus zurück, den jüdischen Lehrer, der gegen 30 n.Chr. in Jerusalem gekreuzigt wurde. Es ist vielmehr eine Rede, die etwa fünfzig Jahre später aus Worten Jesu, die durch seine Anhängerinnen und Anhänger überliefert wurden, sorgfältig komponiert wurde. Verfasser ist ein uns unbekannter, jüdisch geprägter Schriftgelehrter, den wir mit der Tradition Matthäus nennen; vielleicht war es auch eine Gruppe von Theologinnen und Theologen. Jedenfalls spiegelt das Evangelium die Erfahrungen von Christusgläubigen etwa 80 n.Chr., die Verfolgung um ihres Glaubens willen erlebten (vgl. 5,10), vermutlich in Syrien.

Auch wenn „Matthäus“ als Verfasser gilt, nimmt man an, dass die meisten dieser Worte auf Jesus selbst zurückgehen und bei verschiedenen Gelegenheiten seiner Wanderschaft durch Israel als Reaktion auf konkrete Situationen für die Menschen seiner Welt formuliert wurden. Es waren einfache, durch das agrarische Leben geprägte Menschen, die in der seit 100 Jahren von den Römern besetzten und von jüdischen Klientelkönigen regierten Region Palästina, vor allem in Galiläa, ein Leben in Armut und ohne die Möglichkeit politischer Einflussnahme führten. Jesu in der aramäischen Volkssprache geäußerten Lebensweisheiten, Aphorismen und Gleichnisse wurden zunächst mündlich tradiert, dann ins Griechische übersetzt, gesammelt und dabei auch immer wieder aktualisiert.

Die „Bergpredigt“ ist also nicht wie Predigten sonst Auslegung eines Textes oder Kommentierung einer aktuellen Problematik. Vielmehr hat der |15|Evangelist Lebensanweisungen und Verheißungen der Jesustradition ringförmig um das Vaterunser gelegt, die die Situation der Jesusrede transzendieren. Ihr gemeinsames Anliegen ist es zu zeigen, wie der Mensch diejenige Gerechtigkeit im Leben umsetzt, die Gott und seinem Willen entspricht. Schlüsselworte sind „Gerechtigkeit“ (dikaiosyne; 5,6.10.20; 6,1.33) und „Reich Gottes“ bzw. „Himmelreich“ (basileia ton ouranon; 5,3.10.19.20.; 6,33; 7,21). Unter ihnen verbinden sich die Zusage, an diesem Reich Gottes teilzuhaben, und hohe Forderungen an ein gerechtes Ethos, das zur Teilhabe an Gottes Reich Voraussetzung ist. Die Spannung zwischen Zusagen und Forderungen eröffnet verschiedene Lektüren des Textes und macht ihn so reich, dass er immer wieder religiöse Aufbrüche inspirieren konnte.

Matthäus hat diesen Jesusworten in der Komposition seines Evangeliums eine besondere Bedeutung gegeben: Er situiert die Rede auf einem Berg in Galiläa (5,1). Berge sind Orte besonderer Gottesoffenbarung, wie schon die Gabe der Tora an Mose auf dem Berg Sinai geschah. Nach dem Matthäusevangelium ist es die erste, umfassende Lehre Jesu, die maßgeblich wird auch für alles, was die späteren Missionarinnen und Missionare „alle Völker“ lehren sollen (28,19f.). So betont Mt 7,28f. den großen Eindruck, den die Rede gemacht hat. Und er gibt dem Geforderten Nachdruck, indem er scharfe Gerichtsworte ans Ende stellt (7,13–27), die wohl nicht auf Jesus zurückgehen. Sie sollen einschärfen, dass es nicht reicht, diese Worte nur zu hören oder Jesus als „Herrn“ anzurufen. Man muss diese Worte auch tun, weil sie den Willen Gottes darstellen. Sonst ist man wie ein törichter Mensch, dessen auf Sand gebautes Haus im Sturm des Gottesgerichts weggeschwemmt wird (7,24–27).

Die Rede beginnt mit neun Seligpreisungen, die auf paradoxe Weise gerade die Menschen glückselig preisen, denen es im jetzigen Leben schlecht geht (5,3–12): Die „geistlich Armen“ (der Ausdruck ist unterschiedlich verstehbar, meint aber nicht, wie oft angenommen, die „geistig Behinderten“), die Leid Tragenden und die um der Gerechtigkeit willen jetzt Verfolgten. Er preist aber auch die selig, die sich jetzt anderer erbarmen und Frieden stiften. Hier klingt bereits ein zentrales Anliegen der Jesusethik an: Eine Lebensweise, die auf Frieden mit allen anderen ausgerichtet ist, auch mit den „Feinden“, und dies unter Verzicht auf eigene Interessen. Wenn es hier heißt, diese „werden Gottes Kinder heißen“, so wird damit ein Gedanke vorabgebildet, der später expliziert wird: Wie die Kinder im (antiken) Ideal ihrem Vater nacheifern, so gilt es Gott, den Vater, als seine Kinder nachzuahmen. „Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute |16|und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ – so motiviert die Bergpredigt mit dem Vorbild Gottes zur Feindesliebe. Mit „lieben“ (agapan) beschreibt das frühe Christentum nicht Emotionen, die man kaum einfordern könnte, sondern tätige Hinwendung.

Die Seligpreisungen mischen so also bereits in die Verheißung einen Anspruch. Auch die anschließenden metaphorischen Prädikationen „Ihr seid das Salz der Erde!“ (5,13) und „Ihr seid das Licht der Welt!“ (5,14) verbinden diesen Zuspruch mit der Forderung nach sichtbarem Wirken in der Welt: „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen“ (5,16).

Der Hauptteil der Bergpredigt (5,17–7,12) beginnt mit den sogenannten „Antithesen“, die durch einen Vorspruch (5,17–20) und eine Summe (5,48) gerahmt sind. Die Bezeichnung als „Antithesen“ nimmt Bezug auf die antithetische Formulierung, die in Variationen sechs Mal wiederkehrt „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist … Ich aber sage euch …“ (5,21f. u.ö.). Sie ist oft so gedeutet worden, als löse Jesus hier das jüdische Gesetz ab durch die Aufrichtung einer neuen Ordnung. Aber das wäre missverstanden, wie schon die Einleitung zu diesen Mahnungen, die wir besser „Kommentarworte“ nennen sollten, bezeugt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (5,17). Der Jesus der Bergpredigt will nicht das Gesetz abschaffen, sondern bekräftigen und auslegen, indem er eine besonders ernsthafte Praxis verlangt. Sie ist letztlich eine Auslegung des Liebesgebots: Nicht erst die physische Auslöschung des anderen Menschen ist Tötung, sondern bereits der Zorn ihm gegenüber (5,22); Ehebruch beginnt bereits bei dem begehrenden Blick (5,28). Besonders eindrücklich ist das fünfte dieser Kommentarworte (5,38–42), das in drei Beispielen aus dem Leben einer bedrängten Minderheit deutlich macht, wie die Gewalt unterbrochen wird. Nicht soll nach der alten Talionsformel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, die bereits die Gewaltspirale begrenzen sollte, Gleiches mit Gleichem vergolten werden. Sondern dem, der auf die eine Wange schlägt, soll man auch die andere darbieten; die, der das Untergewand gepfändet wird, soll auch den Mantel reichen; und wer von Soldaten gezwungen wird, eine Meile Marschbegleitung zu leisten, soll eine weitere mitgehen. Diese offensive Selbstaussetzung, diese überraschende Gastfreundschaft unterbricht nicht nur den Zirkel der Gewalt, sondern zeigt beispielhaft, wie aus unterdrückten Objekten Subjekte werden können. Die paradoxe Intervention entwindet dem physisch Überlegenen die |17|Deutungshoheit und interpretiert die ehedem feindliche Situation neu. Dieses Kommentarwort zeigt beispielhaft, dass vielen der Jesusworte eine besondere Evidenz auch ohne Argumente innewohnt.

In die Forderungen, die Frömmigkeitspraxis (Almosengeben, Beten und Fasten) nicht um des frommen Augenscheins willen, sondern nur im Gedanken an Gott zu üben (6,1–18), ist das Vaterunser eingefügt. Seine je nach Zählung sechs oder sieben Bitten stehen hier als ein Beispiel dafür, wie kurz und vertrauensvoll man zu Gott beten soll. Es bedarf nicht vieler Worte, denn Gott weiß, wessen die Menschen bedürfen.

In diesem Gebet wird das Gottesbild der Bergpredigt besonders deutlich: Gott wird als der fürsorgende Vater verstanden, der das nötige Brot gibt, der denen vergibt, die selbst vergebungsbereit sind, der bewahrt vor der Versuchung, vom Glauben abzufallen. Die Vatermetapher steht für das große Vertrauen, dass sich Gott wie Eltern ihren Kindern gegenüber den Bitten der Menschen öffnet (vgl. 7,7–11). Dieses Vertrauen in Gott als Schöpfer liegt auch der Mahnung zugrunde, nicht zu sorgen (6,25–34). Wenn Gott die Vögel des Himmels, die nicht säen und ernten, und die Lilien auf dem Feld, die nicht spinnen, nährt und kleidet – hier spielt Jesus auf die Arbeitswelt der Männer und Frauen an –, wird er nicht erst recht für die Menschen sorgen?

Wer sich angesichts der Not vieler Menschen zu allen Zeiten fragt, ob das nicht naiv ist oder eine Vertröstung, sollte gewahr sein, dass in der dritten Vaterunserbitte, „dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“, die Menschen gleichermaßen gefordert sind, der gerechten Welt Gottes Wirklichkeit zu verschaffen. Wenn die zweite Bitte „dein Reich komme“ hingegen die drängende Hoffnung ausspricht, dass Gott seine gerechte Welt endgültig durchsetzt, wird deutlich, dass auch die Bergpredigt die Verwirklichung des Himmelreiches nicht Menschen (allein) zutraut.

Lebensweisheit liegt in der scharfen Kritik Jesu am Reichtum und Horten von Schätzen, die sich anschließt (6,19–24). Wer sein Herz an kostbare Stoffe, an Silber hängt, liefert es Motten und Rost aus. Man kann nicht Gott und Besitz, dem „Mammon“, zugleich loyal sein.

Die Aufforderung, auf das Richten über andere zu verzichten (7,1–5), fordert nicht nur zu Barmherzigkeit mit anderen auf, sondern auch zur Selbsterkenntnis. Erst wer sich mit dem „Balken“, der den eigenen Blick verstellt, auseinander gesetzt hat, könnte anderen helfen, den Splitter in ihrem Auge zu ziehen.

|18|Der Hauptteil schließt mit der „Goldenen Regel“: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (7,12). Wir kennen dies als Lebensweisheit aus allen Religionen, aber hier steht die Regel nicht zufällig in einer „nach oben hin offenen“ Formulierung: Es gibt kein Genug an Zuwendung zu den anderen. Darin klingt noch einmal das Liebesgebot an, das als Erfüllung von Gesetz und Propheten im Mittelpunkt der Ethik steht.

So wie das Vaterunser zu einem christlichen Identitätstext wurde, so die ganze Bergpredigt in ihrer Wirkungsgeschichte. Umso bemerkenswerter ist, dass das sich hier äußernde Vertrauen in Gott und das hohe ethische Ideal mitnichten spezifisch christlich sind, sondern ganz in der jüdischen Tradition stehen, die Jesu Lehren und Wirken wie die frühchristliche Theologie geprägt haben. Der Vergleich mit den „Pharisäern und Schriftgelehrten“ in 5,20, die in Mt 23 zu Exponenten der Heuchelei werden, hat zu einer antijüdischen Lektüre beigetragen. Doch weder von ihrer Tradition noch von ihrem Inhalt her gibt die Bergpredigt Anlass zu Überlegenheitsgefühlen oder zur Abwertung der Anderen. Vielmehr bleiben die hohen Forderungen der unbegrenzten Liebe zu den Anderen, den Verfolger, die Feindin mit eingeschlossen.

Mit der Bergpredigt könne man nicht „Politik“ machen, soll schon Bismarck gesagt haben. Und in der Tat: Die Forderungen „Richtet nicht!“ (7,1), „Liebt eure Feinde“ (5,44), „Sorgt nicht für morgen“ (6,34) sind keine Maximen für einen Staat, der das Gewaltmonopol hat und die Verantwortung für die kommenden Generationen trägt. Und doch kann die Radikalität der Forderungen wachrütteln, hat die Idee von der Gerechtigkeit des Reiches Gottes (6,33) Menschen immer wieder motiviert, Politik zu machen, um auf gerechte Verhältnisse unter allen Menschen hinzuwirken.

Doch ist die Bergpredigt überhaupt „erfüllbar“? So wird oft gefragt. Im Sinne der Bergpredigt als ganzer geht es nicht darum, perfekt zu sein. Denn im Mittelpunkt der Bergpredigt steht das Vatergebet mit der Zusage der Vergebung für die, die selbst vergeben (6,12.14). „Die Bergpredigt geht also mit ihren Leser/innen einen Weg, der sie von den radikalen Forderungen Gottes hineinführt in den ‚Innenraum‘ des Glaubens, in dem sie die Nähe des Vaters im Gebet erfahren, und von dort wieder zurück in die Praxis des Besitzverzichts und der Liebe“1.

Christine Gerber

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