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|46|Einführung

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Hildegard von Bingen (1098–1179) ist eine der bekanntesten Frauengestalten der christlichen Tradition, vielleicht sogar die bekannteste. Ihr Leben wurde verfilmt, in den Supermärkten gibt es nach ihr benannte Dinkelplätzchen zu kaufen, und Menschen gestalten ihren Kräutergarten nach dem Vorbild der Benediktinerin. Und seit einigen Jahrzehnten beschäftigen sich auch endlich Theologinnen und Theologen ausführlicher mit ihren Visionsschriften. Papst Benedikt XVI. erhob sie 2012 schließlich zur Heiligen und Lehrerin der Kirche. Doch dass Hildegard von Bingen als Äbtissin des Benediktinerinnenklosters auf dem Rupertsberg bei Bingen auch „ganz normal“ gepredigt hat, ist vielen unbekannt. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass erst 2008 ein kritischer Text ihres Predigtwerks erstellt und in der Reihe „Corpus Christianorum“1 herausgegeben wurde, in der auch das übrige Werk Hildegards auf Latein vorliegt (überliefert ist Hildegards Gesamtwerk in einer Handschrift, die noch zu ihren Lebzeiten auf dem Rupertsberg entstanden ist, dem sog. Riesenkodex, heute aufbewahrt in der Landesbibliothek Wiesbaden). Es hängt zum anderen aber auch daran, dass wir gemeinhin ein Bild vom Mittelalter haben, in das die Tatsache, dass eine Frau gepredigt hat, nicht recht hineinpasst. Hildegards Leben und Werk ist daher geeignet, dass wir dieses Bild korrigieren. Die Klöster des Hochmittelalters boten Frauen, zumal in leitenden Positionen, sehr große Freiheiten und damit auch die Gelegenheit, ihrem Umfeld die eigene Prägung zu geben. Hildegard tat dies durch die regelmäßige Predigt im Konvent. Sie ist freilich darin eine Ausnahme, dass sie, wie aus ihrem Briefwerk hervorgeht, nicht nur ihren Schwestern, sondern auch in anderen Städten, vor Mönchen, vor dem Weltklerus und dem Volk gepredigt hat. Diese großen, oft aus bestimmten kirchenpolitischen Absichten heraus vorgetragenen Predigten sind uns allerding nicht als solche, sondern nur als nachträglich in Briefform gefasste Texte überliefert.

Hier ist bewusst eine ganz alltägliche Expositio Hildegards ausgewählt, die Nr. 53 der insgesamt 58 Expositiones Evangeliorum – das sind Auslegungen zu den Evangelien des Kirchenjahres in lateinischer Sprache für ihre Mitschwestern; sie geben uns einen repräsentativen Einblick in Hildegards Theologie. Solche Expositionen waren eine gängige theologische Gattung mit ihrem festen Sitz im liturgischen Leben der Klöster. Hildegard selbst führt allerdings in ihrer Vita ihre Fähigkeit zur Auslegung der Schrift auf göttliche Inspiration zurück und grenzt ihre Auslegungen so explizit von |47|denen der (männlichen) Theologen ab, die sie aber kennt und benutzt. Die vorliegende Predigt ist hier erstmals ins Deutsche übertragen. Ihre Entstehungszeit ist schwer zu bestimmen, da Hildegard quasi nebenher, also neben der Arbeit an ihren Hauptschriften, gepredigt hat.2

Lk 21,25–33 ist eine Passage, welche das bei Jesaja vorausgesagte Kommen des Menschensohnes aufgreift. Hildegard legt diesen Bibeltext insgesamt viermal aus (in ihrem Literalsinn, allegorisch, moralisch und anagogisch, d.h. im Hinblick auf den Weg des Menschen zu Gott). Da sie sonst keine Perikope so häufig bearbeitet, muss Lk 21 von besonders hoher Bedeutung für sie gewesen sein. Die hier vorliegende Expositio erläutert die literale, also wörtliche, Bedeutung. Wer einmal etwas von Hildegard von Bingen gelesen hat, wird sofort ihre Autorschaft erkennen.

Bei Lukas (und auch in den Parallelen bei Markus und Matthäus) spricht Jesus, im Bewusstsein, dass seine Botschaft von den meisten Menschen abgelehnt wird, und mit dem eigenen gewaltsamen Tod rechnend, über das bevorstehende Weltende, das aber, so seine Überzeugung, den endgültigen Sieg des Reiches Gottes, des Reiches der Gerechtigkeit und der Liebe einleiten wird. Hildegard gibt, dem Vorbild der monastischen Predigt folgend, lediglich erläuternde, stilistisch relativ unspektakuläre Bemerkungen zu jedem Satzteil (der biblische, aus der Vulgata zitierte Text ist jeweils kursiv gedruckt). Doch die sparsamen Erläuterungen sind ganz von der Thematik und den Begriffen geprägt, die für Hildegards Theologie wesentlich sind. Das Kommen der Endzeit interpretiert sie als einen dramatisch-kosmischen Prozess der Verwandlung hin zum Sieg des Lebens – an diesem Prozess beteiligt sind die Kräfte Gottes, des Universums, der Natur und des Menschen. Der dynamische Zusammenhang und die Wechselwirkung dieser Größen sind auch zentrales Thema ihrer expliziten Visionswerke; es macht sie zugleich zur Prophetin auch noch und gerade für unsere Zeit.

Hildegard versteht die Wirklichkeit als fragile Struktur. Alles in der Welt ist aufeinander angewiesen – und wenn ein einzelnes Element (sei es in geistiger, moralischer, seelischer oder materieller Weise) aus der Reihe gerät, hat das Konsequenzen für das Ganze. Die Gesundheit der Menschen ist abhängig vom Lauf der Gestirne. Umgekehrt wird auch der Lauf der Gestirne, und, so Hildegard, werden sogar die Engel betroffen vom Tun der Menschen (und erheben ebenso Klage gegen sie wie das Meer mit seinem Donnern). Gottes haltende, kräftigende Liebe trägt dieses fragile Gleichgewicht des Lebens – eine lebenspendende, schöpferische Liebe, welche die Elemente |48|des Kosmos, die Lebewesen sowie Körper, Seele und Geist der Menschen wie ein Netzwerk aus feinen Fäden durchzieht und untereinander und mit sich verbindet. Ohne diese ausgleichende Tätigkeit Gottes, die jedem seinen spezifischen Ort gibt, würden die widerstreitenden Kräfte einander zerstören. Aber der Mensch ist frei, er kann anderes von seinem Platz verdrängen, wenn er sich selbst zu sehr in den Mittelpunkt stellt; sein Mangel an discretio, die benediktinische Grundtugend, die in das richtige Maß des Lebens hineinführt, äußert sich in Neid, Zorn und Hass. Sie gefährden das Leben des Menschen und das Leben insgesamt – modern formuliert: Wenn der Mensch die Natur ausbeutet, dann läuft sie nicht mehr in den für sie vorhergesehenen, richtigen Bahnen und gerät außer Kontrolle. In diesem Sinn erläutert Hildegard in ihrer Predigt auch Jesu Rede vom Ende der Welt.

Sonne, Mond und Sterne zeigen normalerweise den Rhythmus des Lebens an, in ihrem Angesicht kann der Mensch beruhigt leben. Aber weil die Menschen die Botschaft Jesu ablehnen und „verkehrt“ handeln, zeigen auch diese plötzlich ungewohnte, nicht mehr ordnungsgemäße, sondern ganz und gar verkehrte und besorgniserregende Zeichen, die eine Veränderung des Gesamtgleichgewichts ankündigen. Wir können diese Verkehrung heute durchaus auf die Klimaerwärmung und das Schmelzen der Pole übertragen.

Hildegard wusste davon freilich noch nichts, sie mahnte vielmehr das Verhalten ihrer eigenen Zeit an. Der Anfang des 12. Jahrhunderts ist eine Reformzeit. Sektiererische Umkehrbewegungen wie die leibfeindlichen Katharer entstehen, ihnen steht Hildegard genauso kritisch gegenüber wie dem Prunk- und Machtstreben des Klerus, beide sind ihres Erachtens den Versuchungen des Teufels erlegen. Für viele weisen die Zeichen der Zeit auf Verfall, ja auf Untergang hin. Die Frauen, die sich für ein Leben im Kloster Hildegards entschieden hatten, werden auch darüber gesprochen haben. Ihnen sagt Hildegard: Ihr müsst keine Angst haben; wenn Menschen es zuwege bringen, die Welt zu zerstören, so bedeutet das auch die Zerstörung ihres zerstörerischen Tuns und somit: die Möglichkeit der Verwandlung und Erfüllung des Lebens durch die Gerechtigkeit Gottes.

Ein, wenn nicht das Zentralwort der Weltsicht Hildegards ist viriditas – Grünkraft. Ihr Gegenteil ist ariditas – Dürre. Viriditas bezeichnet die dynamische Lebendigkeit der Schöpfung durch ihre Beziehung zu Gott, ihrem Schöpfer, also eigentlich den Geist Gottes bzw. Gott selbst in seiner Schöpfung. Er verbindet alles Lebendige innerlich miteinander, vom Wasser unten |49|im Boden bis zu den Sternen oben am Himmel, sie sorgt im Menschen für Freude und in der Natur für Wachstum. Mit dem Zitat von Gen 1,2 im ersten Teil der Predigt weist Hildegard auf diesen schöpferischen Zusammenhang hin: Die Grünkraft Gottes ist bereits der Ursprung der Schöpfung. Aus diesem grundsätzlich positiven Zusammenhang folgt für Hildegard aber zugleich die hohe Verantwortung des Menschen, daher die harte Mahnrede über dessen verkehrtes Tun. Sie zielt auf Verhaltensänderung. Doch gerade weil der Zusammenhang von Mikrokosmos und Makrokosmos den Einzelnen strukturell in das Ganze einbindet, ist er auch vom Ganzen mitbestimmt: Wie das Ganze wird auch er trocken und mutlos; es fehlt ihm mehr und mehr die Energie, das Ganze noch zum Guten wenden zu können. Auch diese Mutlosigkeit kennen wir Heutigen nur zu gut angesichts wachsender globaler Probleme. Hildegard mahnt daher nicht nur, sie macht auch Mut und betont: Erhebt euer Haupt und vertraut darauf, dass die belebende Macht Gottes, die sich bereits in Christus gezeigt hat, größer ist als die eure. Vertraut darauf, dass die Worte Jesu sich erfüllen werden, dass der Zustand der Dürre vergeht und neues, beständiges Leben entsteht. Hildegard vergleicht diese Wandlung, angeregt durch das Gleichnis vom Feigenbaum im biblischen Text, mit dem Kommen des Sommers, jener Jahreszeit, die für die volle Blüte des Lebens steht.

Es handelt sich um eine Predigt zum ersten Adventssonntag, also jenem Sonntag, der den Blick auf das Kommen Jesu Christi und der mit ihm beginnenden Wandlung der Geschichte lenkt.

Christine Büchner

Große Predigten

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