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6. Die innere Verschiedenheit der westlichen Kultur

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Das Problem der Verschiedenheit ist eine Eigentümlichkeit der gegenwärtigen westlichen Kultur. Doch auch andere Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart umfassen unterschiedliche Elemente. So erfand beispielsweise das alte Persien das „Imperium“ als eine politische Form, die später von den griechischen Erben Alexanders des Großen übernommen werden sollte, dann von den Römern und deren Nachfolgern – bis hin zu den Briten in Indien. Darüber hinaus errichteten die Perser ein Imperium, das als der erste multikulturelle Staat gelten darf: ein filigranes Gewebe, das seiner Natur nach überwiegend rechtlich verfasst war. Es überspannte einen buntscheckigen Teppich unterschiedlicher Rassen, Sprachen und Religionen, denen es gestattet war, ihre Sitten und religiösen Überzeugungen zu bewahren. Für die Gegenwart ist auf Brasilien hinzuweisen, ein multiethnischer Staat, in dem Afrikaner, autochthone Indianer und Asiaten mit Weißen zusammenleben, die ursprünglich aus Portugal, Deutschland usw. stammen.

Dessen ungeachtet stellt die westliche Kultur einen Sonderfall dar, und zwar deshalb, weil Verschiedenheit von Anfang an ihr Prinzip war. Verschiedenheit machte die westliche Kultur geradezu erst möglich. Insofern kann sie ein Modell für die Art und Weise liefern, wie mit Verschiedenheit umgegangen werden kann, um zu positiven Erträgen zu gelangen.

Schon die westliche Kultur als solche stellt einen Weg dar, wie eine Kultur Verschiedenheit bewältigt. Und zwar in erster Linie so, dass sie in ihrem Inneren Verschiedenheit in einem Prozess zugelassen hat, den man „Inklusion“ nennen kann.17 Üblicherweise assimilieren Kulturen fremde Elemente durch eine Art Verdauung, so dass sie ihre ursprüngliche Identität verlieren. Die ursprünglich fremden Elemente werden zu Bestandteilen jener Kultur, die sie aufnimmt. Kulturen begegnen auf diese Weise allem, was von außen her einen Einfluss auf sie ausübt. Die westliche Kultur bildet diesbezüglich keine Ausnahme.

Gleichwohl gibt es etwas, das die westliche Kultur einzigartig werden ließ. Es ist die Art und Weise, wie sie mit Andersheit verfährt – eben auf die Weise der „Inklusion“. Das Bild von der „Verdauung“ ist dadurch gekennzeichnet, dass es auf kulturelle Größen einen Prozess bezieht, der dem Bereich des Natürlichen zugehört. Durch Austauschbeziehungen mit der Umwelt ermöglicht er das Leben selbst (metabolismus). „Inklusion“ hingegen ist ein hochgradig künstlicher Prozess. Zu seinen Voraussetzungen zählt Kultur im engeren Sinne. Damit ist gemeint, dass Kultur nicht länger natürliche Phänomene nachahmt, sondern vielmehr in gewisser Hinsicht sich selbst kultiviert.

Die westliche Zivilisation stellt wesentlich eine Synthese dar. Dies ist freilich keine Ausnahme. Athen beispielsweise wurde in dem Augenblick gegründet, als sich verschiedene kleine Gemeinschaften dazu entschlossen, ihre Kräfte zu bündeln und in ein gemeinsames Abenteuer einmünden zu lassen. Von daher rührt auch der Plural des Namens der Stadt: Athenai. Ironischerweise ist auch der Name der anderen paradigmatischen Stadt, nämlich Jerusalem, ein Plural: Yerushalajim – obwohl dies niemand plausibel erklären kann. Von Athen heißt es, dass der schwierige und in keiner Weise selbstverständliche Schritt auf eine Union hin (synoikismos) unter dem Einfluss eines Halbgottes, nämlich Theseus, gewagt wurde. Auf sich allein gestellt wären die Menschen vermutlich der Aufgabe nicht gewachsen gewesen, einen solchen Bund auszuhandeln. Auf jeden Fall aber sprachen die Bürger jener Dörfer, aus denen Athen hervorgehen sollte, dieselbe Mundart des ionischen Dialekts, und sie verehrten gemeinsam die Göttin Athene.

Mit Blick auf die westliche Kultur fällt auf und überrascht zugleich, dass sie eine Synthese von Kräften realisiert, die einander diametral entgegengesetzt sind, ja miteinander im Streit liegen. Ein verbreitetes Bild von dieser Spannung wird durch die Wendung „Athen und Jerusalem“ markiert. Die Wendung ist seit dem Erscheinen eines entsprechend betitelten Buches des russischen Philosophen Lew Schestow einigermaßen abgedroschen. Schestow veröffentlichte sein Buch im Jahr 1937 zunächst in einer eigenen Übersetzung ins Französische, im Jahr 1953 auch in der russischen Originalsprache.18 Erstmals findet sich die Vorstellung von einem Konflikt der beiden Städte in einer rhetorischen Frage des nordafrikanischen Theologen Tertullian (160–220), was Athen und Jerusalem gemeinsam haben. Dabei erwartet er offensichtlich eine negative Antwort.19 Allerdings ist die Vorstellung von einem unversöhnlichen Gegensatz zweier Schicksalspole, zwischen denen die westliche Kultur ausgespannt ist, kaum älter als Schestow. Demnach droht der Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem die westliche Kultur zu zerreißen, gäbe es da nicht eine hilfsbereite Kraft, die beide dazu zwänge, einander zu akzeptieren.

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