Читать книгу Pluralistische Identität - Группа авторов - Страница 33

1. „Biblische Aufklärung“ – Entdeckung einer Tradition

Оглавление

Ein Wissenschaftliches Symposion der Hochschule Sankt Georgen widmete sich im Jahr 2003 dem Thema „Biblische Aufklärung“. Bei seiner Einführung führte der Religionsphilosoph Eckhard Nordhofen programmatisch aus: „Wir bekennen freimütig, dass wir […] den Versuch unternehmen, den Begriff Aufklärung aus dem Ausschließlichkeitsanspruch einer historischen philosophischen Strömung des 18. Jahrhunderts herauszulösen und ihn wieder auf seine biblischen Wurzeln zurückzuführen. […] Unsere leicht oxymorontische Formulierung ‚Entdeckung einer Tradition‘ rechnet […] damit, dass das regierende Klischee (gemeint ist der Aufklärung als philosophiegeschichtlicher Epoche) die biblische Aufklärung nicht als solche kennt und daher auch nicht anerkennt“.2

Nordhofen hat den Begriff „Biblische Aufklärung“ im Gespräch mit Jan Assmann und daher mit Blick auf die Entstehung eines charakteristisch biblischen Monotheismus vornehmlich innerhalb des Alten Testaments gewonnen. Seine vielfältigen Anregungen sollen im Folgenden aus der Perspektive des Neuen Testaments mit einer Erwägung zum Römerbrief aufgegriffen und mit einem Gedanken zum biblischen Sprechen von Gott weitergeführt werden.

Dabei kann es nicht darum gehen, die Bibel in Form eines rationalen Kondensats nachträglich zu aufgeklärten Ehren zu bringen. Schon Heinrich Heine hat ein solches Bemühen als vergeblich betrachtet. Orthodoxe Katholiken hatte er „trotz ihrem düstern blutrünstigen Zelotismus“ immer noch lieber als „die toleranten Amphibien des Glaubens und des Wissens, […] die mit den heiligen Symbolen nur liebäugeln, aber keine ernsthafte Ehe eingehen wollen“.3 Zwar scheinen mir düstere und blutrünstige Katholiken keineswegs biblischer Aufklärung entsprungen zu sein; sie sind mir auch nicht lieb, auch dann nicht, wenn sie sich, was häufig der Fall ist, mit der Bibel besonders orthodox geben. Aber die Bibel spricht, wenn sie von Gott spricht, oft vor-reflexiv und in spontaner Metaphorik. Sie lässt viele Bilder nebeneinander stehen, auch wenn sie widerständig bleiben. Es kann kein Interesse der Suche nach einer biblischen Aufklärung sein, die vielen fremden Töne im biblischen Sprechen von Gott mit einer rationalen Hermeneutik wegzuerklären; denn gerade seine Widerborstigkeit für heutiges Verstehen ist ein Grund, warum das biblische Sprechen von Gott bis heute lebendig ist.

Es geht allerdings darum, die Bibel als einen Teil der Identität Europas zu reklamieren, einer Identität, die Europa noch nicht erlangt hat, sondern die es erst noch finden muss. Die unabgeschlossene Identitätsfindung Europas deutet auch die biblische Interpretation der Symbolik der Europaflagge an. Ihre zwölf Sterne vor dem tiefblauen Grund nehmen die Vision der Himmelskönigin in der Mitte der Johannesoffenbarung auf (Offb 12). Der Seher der Offenbarung sieht dabei kein friedliches Bild. Dazu hat es erst die spätere marianische Ikonographie gemacht: Die Himmelskönigin ist mit der Sonne bekleidet, ihre Füße ruhen auf dem Mond als ihrem Thronschemel und um das Haupt trägt sie einen Kranz von zwölf Sternen als Krone. Aber in der Offenbarung schreit die Königin in Geburtswehen und vor Angst vor dem anderen Bild, das sich neben ihr vor dem Seher erhebt: ein vielköpfiger Drache, ein düsteres Komplexmonster, tritt der Himmelskönigin gegenüber und droht, ihr noch nicht geborenes Kind zu verschlingen. Die zwölf Sterne entsprechen der Zahl der Tierkreiszeichen und stellen damit das Urbild einer kosmischen Harmonie dar. In der Vision des Sehers der Offenbarung stehen sie aber auch für die Zwölf Stämme des Volkes Israel, sie sind unter den Lichtkörpern zur Krone der Himmelskönigin geworden, die aber ihren endgültigen Ort noch nicht gefunden hat.

Pluralistische Identität

Подняться наверх