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9. Die Vorstellung von einem kulturellen Bereich

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Was heute unter „Kultur“ verstanden wird, ist etwas, das es in der Alten Welt so nicht gab. Was mit diesem Namen bezeichnet wurde, war Teil eines Ganzen, das wesentlich auch religiöse Elemente umfasste. Zum Beispiel waren dramatische Vorstellungen ein zentrales Element jenes Kultes, der dem Gott Dionysos dargebracht wurde. Sportliche Wettbewerbe fanden im Rahmen von Spielen statt, die Göttern – darunter Zeus in Olympia oder Apollo in Delphi – gewidmet waren. Philosophen wiederum waren in Gilden zusammengeschlossen, die unter dem Patronat eines Gottes oder Halbgottes standen.

So etwas wie eine profane Kultur wurde erst durch das paulinische Christentum ermöglicht.29 Dies bedeutet nun keineswegs, dass Menschen, die niemals die „paulinische Revolution“ erfahren haben, keine Kultur hätten. Dies anzunehmen wäre nicht nur absurd; es bedeutete überdies, dass sie nicht als Menschen zu gelten hätten. Gleichwohl wurde Kultur in dem Sinne, dass sie ausschließlich Kultur ist und nichts anderes – dass sie insbesondere also religiöse Dimensionen ausschließt – erst dadurch ermöglicht, dass die griechische Paideia von ihren religiösen Elementen befreit wurde.

Das paulinische Christentum hat das mosaische Gesetz „hintangestellt“ (ϰαταργεῖν) – wohlgemerkt, nicht abgeschafft, sondern allegorisch gedeutet. Dadurch hat es ein folgenreiches Zurückfluten religiöser Normen verursacht, das den weiten Bereich menschlicher Normen freilegte. Aus genau diesem Grund aber musste es sich mit einem Inhalt füllen, den es von außen zu entleihen gezwungen war. Das Christentum musste in sich aufsaugen, was auf dem Marktplatz der Zivilisationen bereits verfügbar war. Genau das hat es getan – zunächst mit der römischen Kultur, d.h. mit dem römischen System von Recht und Verwaltung, und diese zusammen mit allem, was die römische Welt bereits der griechischen Wissenschaft, Literatur, Philosophie und anderen Errungenschaften entlehnt hatte.

So etwas wie „griechische Kultur“ gibt es erst seit der paulinischen Revolution. Was zuvor zweifelsfrei existierte, das war die griechische Παιδεία. Dabei handelte es sich um eine die damalige Welt umspannende Lebensweise. Keine Frage: Παιδεία beinhaltete alles das, was wir „Kultur“ nennen, d.h. Literatur und Kunst und selbst Körperkultur. Nach Platon sind Gymnastik und Musik untrennbar. Aber das Paket umfasste auch das, was heute „Religion“ genannt wird: einen Götterkult, der für Juden – und deshalb auch für Christen – unverdaulich war.

Die „heidnische“ Kultur durchlief einen Prozess der Neutralisierung. Was immer an einen absoluten Wert appellieren konnte, ohne vom einzigen Schöpfergott der Bibel abzuhängen, musste beschnitten werden. Insbesondere wurden „heidnische“ religiöse Ansprüche eingeklammert. Was immer den Anspruch erhob, sakral zu sein, wurde der letztgültigen Offenbarung unterworfen. Diese Offenbarung gipfelte in Christus; das Wort wurde „Fleisch“, d.h. ein menschliches Geschöpf. Als solches, als gestorben und durch die Auferstehung zu einer neuen Seinsweise erhoben, konnte Christus unmöglich sakral werden. Aber er verfügte über eine andere Gestalt von Sakralität, nämlich die Heiligkeit.

Infolge der Neutralisierung der heidnischen Kultur wurden die europäischen Eliten, darunter die christlichen Kleriker, Jahrhunderte lang dazu ausgebildet, die „klassischen“, nämlich heidnischen Schriftsteller zu verstehen und zu übersetzen. Das Lateinische Mittelalter konnte Homer und Virgil schätzen, ohne die griechischen und römischen Götter zu verehren. Hierfür liefert Dante ein wunderbares Beispiel. Die Renaissance, die in Italien begonnen hatte und sich bald über ganz Europa ausbreitete, konnte es sich sogar leisten, die „heidnischen“ Götter zu bewahren. Ja, sie gab ihnen sogar ein neues Lebensrecht, doch ohne ihrem Anspruch zu genügen, irgendeinen Einfluss auf das menschliche Leben auszuüben. Die heidnischen Götter waren lediglich ästhetische Wirklichkeiten, die Malerei, Skulptur und Musik bereicherten.

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