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10. Sind alle Lebensweisen gleich lebensfördernd?

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Dieses zweifache Modell, das klassische Rom und das Christentum, lehren uns das Gleiche: es gibt keine Verschiedenheit ohne ein Prinzip, das höher ist als der Markt und der Staat. Und dieses Prinzip wird kein geringeres sein als das Leben selbst.

In seinem berühmten Buch Über die Freiheit prägte John Stuart Mill die Formel von den „Experimenten des Lebens“ (experiments of living).30 Rasch erfuhr diese Formel eine ungeheure Verbreitung. Sie lieferte vielen Leuten eine Legitimation, die darauf aus waren, die eingespurten Pfade zu verlassen und neue Lebenswege zu erkunden. Allerdings können wissenschaftliche Experimente bekanntlich fehlschlagen. Was könnte ihre entsprechenden Gegenstücke im realen Leben vor dem Scheitern bewahren? Irgendwie bewahren selbst die säkularsten Geister noch einen naiven Glauben in die Vorsehung. Von ihr erwarten sie, dass sie ihnen einen Fallschirm reicht, wenn sie sich ohne Seil von einer Klippe in die Tiefe stürzen.

Ironischerweise schrieb Mill seinen provozierenden Essay im selben Jahr 1859, als Darwins bahnbrechendes Buch Über den Ursprung der Arten erschien. Nun gibt es im Bereich des Sozialen ebenfalls eine Art natürlicher Selektion. Eine bestimmte Lebensweise zu wählen, ist eine Sache. Aber das Leben selbst zu wählen, das ist ein dieser Wahl vorausgehender Schritt, den niemand überspringen kann. Dabei ist es freilich so, dass es keine selbstverständliche Haltung ist, das „Leben zu wählen“. Möglicherweise ist genau das der Grund, warum der Gott der Bibel die Wahl des Lebens gebieten muss (vgl. Dtn 30,19).

Jede Gruppe von Menschen ist mit einem Bündel ewiger Probleme konfrontiert, die unlösbar mit der menschlichen Natur verknüpft sind: wie sollen wir uns zu dem verhalten, was über uns ist (das Göttliche), wie zu dem, was unter uns ist (die Natur), wie zu dem, was gegen uns ist (die Feinde), wie zu dem, was neben uns ist (das andere Geschlecht), wie zu dem, was vor uns liegt (der Tod, die Nachkommenschaft, ein Leben nach dem Tod)? Alle Gruppen formulieren hierzu bestimmte Antworten. Diese bringen sie in Gestalt von Mythen, in philosophischer Reflexion oder durch verschiedene Formen des Kultes, aber auch des politischen und sozialen Lebens zur Darstellung.

Doch nicht alle Lebensweisen sind auf lange Sicht überlebensfähig. Einige Lösungsangebote für die genannten Probleme bedrohen das Überleben jener Gruppe, die sie für sich annimmt. Wenn sie nicht rechtzeitig überprüft werden, führen sie womöglich sogar zum Untergang der betreffenden Gruppe. Solche Sackgassen können durch hellsichtige Leute kritisiert werden, durch Philosophen oder Propheten etwa. Eine letzte Sicherheit gibt es aber nicht, und unpassende Antworten eliminieren sich selbst zusammen mit den Gesellschaften, die sie gewählt haben – wie auch ein absterbender Baum die Parasiten zu Tode bringt, die von ihm gezehrt haben.

Eine Stadt wie Sparta beispielsweise forderte nicht nur eine vollständige Militarisierung des Lebens und eine geradezu unmenschliche Härte gegen Sklaven, sondern verlangte von ihren Einwohnern ein solch furchtbares Maß an Einschränkung und Selbstbeherrschung, dass sie nicht länger als wenige Jahrhunderte überleben konnte. Es mag Familienmodelle geben, die es mit sich bringen, dass eine niedrige Geburtenrate angenehm für jene ist, die entsprechend leben. Unvermeidlich aber hat dieses Modell das Verschwinden der Gruppe zur Folge. Möglicherweise wird es durch andere Modelle ersetzt, die das Überleben der Gruppe eher gewährleisten – auch wenn die Familienstrukturen eher altmodisch und insbesondere für Frauen weniger fair erscheinen.

Das Schicksal der frankophonen Kanadier mag hierfür als Beispiel dienen. Ihre Gemeinschaften konnten in einer sprachlich und konfessionell fremden Umgebung nur deshalb überleben, weil ihre Fruchtbarkeitsrate höher war. Dies war nicht zuletzt eine Folge des sozialen Drucks, den die katholische Kirche auf ihre Mitglieder ausübte. Nach dem Verrat eines Teils der adligen Oberschicht, der nach der Niederlage vor den Engländern (1759) das gemeine Volk im Stich ließ und nach Frankreich zurücksegelte, stellte der katholische Klerus die einzig verbliebene Elite dar. Zweifellos sind jetzt die Geburtenkontrolle und die Möglichkeit für Frauen, Küche und Kinderzimmer zu verlassen, um einen Zugang zur höheren Bildung zu erlangen und qualifizierte Berufe zu ergreifen, begrüßenswerte Errungenschaften der Moderne. Gleichwohl tragen sie zur Verminderung der Kinderzahl bei. Letzten Endes können sie zum unaufhaltsamen Verschwinden einer Gruppe beitragen.

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