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7. Rom als Synthese und Spannung
ОглавлениеEine dritte Stadt, gleichfalls mit großem Symbolwert ausgestattet, nämlich Rom, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Dabei geht es nicht um die historische Größe dieser Stadt in Latium, die sich erfolgreich das gesamte Mittelmeerbecken unterwarf. Vielmehr ist Rom das Symbol für eine bestimmte Kulturpolitik, einen bestimmten „Weg“.20 Bisweilen wird Rom so wahrgenommen, als sei es die einigende Kraft, welche die Synthese zwischen jenen Elementen hervorgebracht oder doch wenigstens befördert hat, die durch die anderen beiden Städte – Athen und Jerusalem – repräsentiert sind. Zweifellos liegt darin ein gehöriges Stück Wahrheit. Aber man muss doch einen Schritt weiter gehen.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Synthese keineswegs auf friedliche oder harmonische Weise zu Stande gekommen ist. Ganz im Gegenteil: als eine historische Macht hat Rom die Griechen zunächst auf dem Schlachtfeld besiegen müssen. Ungefähr dreihundert Jahre später musste es die Aufstände des jüdischen Volkes niederschlagen. Hierbei kam es zu fürchterlichem Blutvergießen und zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels – mit denen, die gegen sie revoltierten, gingen die Römer alles andere als zimperlich um.
Auf einer anderen, einer tieferen Ebene hingegen bezwangen sowohl die Griechen als auch die Juden ihre vormaligen Eroberer. Eine Zeile von Horaz wurde diesbezüglich zu einem geflügelten Wort: „Das bezwungene Griechenland bezwang den wilden Sieger“ (Graecia capta ferum victorem cepit). Und in einem Werk, von dem wir allein etwas wissen, weil der heilige Augustinus daraus zitiert, sagt Seneca Ähnliches über die Juden: „Die Besiegten haben den Siegern die Gesetze gegeben“ (victi victoribus leges dederunt).21 Dabei ist der Subtext weit weniger positiv als die anerkennenden Worte des Horaz über die Griechen; Seneca nennt die Juden ein „höchst verbrecherisches Volk“ (sceleratissima gens).
Im Übrigen war die Synthese zu keiner Zeit eine konfliktfreie und friedvolle Mischung. Niemals hatte „Rom“ die Macht zu erzwingen, dass „Athen“ und „Jerusalem“ mit der gleichen Stimme sprachen. Man mag sich sogar fragen, ob es überhaupt so etwas wie eine Synthese je gegeben hat. Ganz im Gegenteil war es so, als ob das Römische Prinzip darum bemüht wäre, die Spannung zwischen „Athen“ und „Jerusalem“ aufrecht zu halten. Dadurch zwang es beide Pole, ihre je eigene Originalität ausdrücklich und je neu zu bekräftigen. Der Konflikt zwischen beiden wurde auf diese Weise auf die Spitze getrieben. Dies freilich erwies sich als fruchtbarer als eine allzu leichte Versöhnung.
Die griechische Philosophie („Athen“) entwickelte sich zu einer Wissenschaft von der Natur, die keinerlei Bezugnahme auf göttliche Dinge erforderte – und schon gar nicht auf den personalen Gott der Bibel. Das Christentum („Jerusalem“) wurde unter dem Einfluss Roms zu einer Religion. Das ist dann keine Selbstverständlichkeit, wenn man beachtet, dass keine andere – nichtchristliche – Religion eben genau das ist: eine Religion und sonst nichts. Die griechische oder die römische Religion war eine Religion, zuzüglich einer Stadt. Das Judentum ist eine Religion, zuzüglich eines Volkes und seiner Geschichte. Der Islam ist eine Religion, zuzüglich eines Rechtssystems. Der Buddhismus ist eine Religion, zuzüglich einer Weisheitslehre. Schinto ist eine Religion, zuzüglich einer Nation, usw. Das Christentum ist die einzige Religion, die von sich beansprucht, ausschließlich eine Religion zu sein. Zumindest prinzipiell lässt es die anderen Bereiche menschlichen Bemühens hinter sich.
Im Besonderen lässt das Christentum die Wissenschaft hinter sich. Die Konflikte, die mit dem neuen kopernikanischen Weltbild entstanden, sind nichts anderes als Missverständnisse. Dies gilt für den „Fall Galilei“ ebenso wie für den heutzutage in bestimmten evangelikalen Kreisen verbreiteten sogenannten „Kreationismus“. Es gibt keine christliche Kosmographie in dem Sinne, dass sie die Strukturen des materiellen Universums beschriebe.22 Zwar gab es beispielsweise sehr ausgefeilte gnostische und manichäische Kosmographien; doch Augustinus konnte sich über diese, mit denen er ja aus erster Hand vertraut war, einfach nur lustig machen.