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Biblische Aufklärung als Beitrag zur Selbstwerdung Europas ANSGAR WUCHERPFENNIG SJ
ОглавлениеVon „biblischer Aufklärung“ zu sprechen mag überraschen. Denn nicht selten wurde die Bibel im geraden Gegensatz zur Aufklärung gelesen – war es doch offenbar die Verbundenheit mit biblischen Schöpfungsvorstellungen, die die katholische Kirche lange Zeit geradezu in einer Fundamentalopposition zu den in der Neuzeit aufkommenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen hielt. Die seltsamen Unterscheidungen zwischen „rein“ und „unrein“, dem Gottesvolk und den Heiden, die Eingrenzung des Bundes auf ein kleines Nationalheiligtum und sein Volk, das nicht viel größer als eine bayerische Wallfahrtskirche und deren pilgernde Umgebung war, das soll zur Aufklärung gehören? Wie sollte die Bibel mit dieser Erwählungsvorstellung eines Volkes im Nahen Osten zur Selbstwerdung Europas beigetragen haben? Und selbst die Reden Jesu, in denen Augen ausgerissen und Hände abgehackt werden (vgl. Mt 5,29f. par.), oder die bluttriefenden Visionen der Johannesoffenbarung: die Bibel scheint auf den ersten Blick unaufgeklärt, und das gilt für das Alte wie für das Neue Testament.
Diesem Problem hat sich in Bezug auf das Alte Testament schon ein Tora-Ausleger wie Philo von Alexandrien gestellt. Um die Zeitenwende bediente er sich einer ausgefeilten Auslegungsmethodik, um in den biblischen Texten jenseits ihrer literalen Bedeutung einen allegorischen Gehalt aufzuspüren, der als solcher dann universalisierbar wäre. Aber dieses Exegese-Instrumentarium ist gerade nicht der Bibel, sondern der zeitgenössischen hellenistischen Philosophie entlehnt. Auch Paulus hat, wenn auch auf ganz anderen Wegen, der Tora und den Propheten eine Bedeutung abgewonnen, die das Gesetz als universalisierbar und den Menschen von Christus her neu verstand: „Es gibt nicht mehr Jude oder Grieche, nicht mehr Sklaven oder Freien, nicht mehr männlich und weiblich, wir alle sind einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Philo und Paulus mögen als erste biblische Aufklärer1 gelten – aber die Bibel selbst?