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6. Das Ineins von Entzogenheit und Zuwendung als Beitrag zu einer fortdauernden Selbstwerdung

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Die Kombination von privativer Entzogenheit Gottes und assertorischer Gegenwart ist noch charakteristischer für den Beitrag biblischer Aufklärung zur Selbstwerdung Europas als das bloße Primär-Moment einer negativen Denkform. Denn gerade das Zusammen von Gegebenheit und Entzogenheit schickt den Menschen ständig neu auf die Suche nach Wahrheit, die biblisch nicht als Besitz gedacht werden kann, sondern als beständiger Prozess neuer Ent-Deckung. Lessings berühmte Sätze über die Wahrheit, die die Hoch-Zeit der Aufklärung in Deutschland repräsentieren, denken dieses Moment biblischer Aufklärung in treffender Weise weiter: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.“16 Und die fiktive Wahl, die Gott Lessing am Ende anbietet, bezieht die Wahrheit in Gottes zugewandte Entzogenheit ein: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein“.17

1 Vgl. Ansgar Wucherpfennig, „War Paulus ein biblischer Aufklärer? Eine Antwort im Vergleich mit Robinson Crusoe“, in: Martin Frühauf/Werner Löser (Hg.), Biblische Aufklärung – die Entdeckung einer Tradition (Sankt Georgener Hochschulschriften), Frankfurt am Main 2005, S. 25–38.

2 Eckhard Nordhofen, „Biblische Aufklärung – die Entdeckung einer Tradition“, in: Frühauf/Löser, Biblische Aufklärung, S. 9–24, hier 11f. – Nordhofen ist im Begriff, seinen Ansatz in einer Monographie zu entfalten. Vgl. auch Gerhard Lohfink, Ringen um die Vernunft. Reden über Israel, die Kirche und die europäische Aufklärung, Freiburg – Basel – Wien 2016.

3 Heinrich Heine, „Lutetia. Anhang, Paris 8. Juli 1843“, in: Heinrich Heine, Lutetia. Bericht über Politik, Kunst und Volksleben, hg. von Karl-Maria Guth, Berlin 2014, S. 231.

4 Irenäus von Lyon, Darlegung der Apostolischen Verkündigung/Epideixis 21, übers. u. eingeleitet von Norbert Brox (Fontes Christiani 8/1), Freiburg – Basel – Wien 1993, S. 46.

5 Adolf Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1908, 41923.

6 Zur Lichtmetaphorik der Aufklärung vgl. Ulrich Im Hof, „Enlightenment, lumières, Illuminismo, Aufklärung. Die ‚Ausbreitung eines besseren Lichtes‘ im Zeitalter der Vernunft“, in: Maja Slivar (Hg.), Und es ward Licht. Zur Kulturgeschichte des Lichts, Bern – Frankfurt am Main 1983, S. 115–136.

7 Vgl. Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, Göttingen 42005, S. 302; Wolfgang Baum, Negativität als Denkform. Die Konstitution monotheistischer Religion erklärt durch Prolegomena zur Negativen Theologie (Habilitationsschrift 2010), Paderborn 2014, S. 34.

8 Zitiert bei Clemens von Alexandria, Stromateis V 109,3 (Diels-Krantz 21 B 15); VII 22,1 (Diels-Krantz 21 B 16): Xenophanes, Die Fragmente, München – Zürich 1983, S. 43f.; ferner Jaap Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker. Griechisch/deutsch, Stuttgart 1987, S. 222f.

9 Zitiert bei Clemens von Alexandria, Stromateis V 109,1 (Diels-Krantz 21 B 23): Xenophanes, Fragmente, S. 170–172; Mansfeld, Vorsokratiker, S. 224f.

10 Für weitere Beispiele vgl. Eckhard Nordhofen, Texte zur Bildtheologie (Klassiker Theologie, Bd. 2), Limburg 2012.

11 Baum, Negativität als Denkform, S. 23.

12 Vgl. Nordhofen, Biblische Aufklärung, S. 15.

13 Vgl. Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010.

14 Hier und zum Folgenden vgl. John G. Cook, „The Logic and Language of Romans 1,20“, in: Biblica 75 (1994), S. 494–517.

15 Tractatus Tripartitus 54,14–24 (NHC I,5 nach der Übers. von Peter Nagel, Der Tractatus Tripartitus aus N.H. Codex I (Codex Jung), Tübingen 1998, S. 23; eine davon abweichende Übersetzung bietet Hans-Martin Schenke, in: Nag Hammadi Deutsch. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, Berlin 2007, S. 39); vgl. auch Baum, Negativität als Denkform, S. 205.

16 Gotthold Ephraim Lessing, „Duplik (Über die Wahrheit, 1777/8)“, in: Ders., Werke und Briefe. Theologische Schriften I: Werke 1774–1778 (Bibliothek deutscher Klassiker 45), Frankfurt am Main 1989, S. 5104–10).

17 Ebd. (S. 51011–16).

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