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1. Beobachtungen und Rechtfertigungen

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Aufmerksamkeitsfelder

Der Blick auf verschiedene, mit Inkrafttreten des EWG-Vertrags kompetenziell abgegebene, aber erst durch Sekundärrechtsetzung zum Vollzug angegangene Themen verdeutlicht, dass die Aufmerksamkeit weniger aus der Verwaltungsrechtswissenschaft an sich kam, als von Rechtswissenschaftlern und Praktikern, die zuvor schon mit einem speziellen Themenkreis befasst waren. Von Interesse sind daneben besonders Fundstücke von Verwaltungsrechtlern, die die Europäisierung nur peripher erwähnen und einordnen, zeigen sie teilweise doch ein klares Bewusstsein von der Betroffenheit des „eigenen Fachs“. Während auf der Beobachtungsebene vergleichbare Wahrnehmungen vorliegen, werden daran sehr unterschiedliche Folgerungen geknüpft, die auch davon abhängen, welcher Alterskohorte die Verwaltungsrechtler zuzuordnen sind. Mit Blick auf den zu jener Zeit immer noch überschaubaren Umfang der Literatur[96] kam man als Vertreter der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht mehr umhin, die Wirkung des Gemeinschaftsrechts im deutschen Öffentlichen Recht wahrzunehmen.

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Bewusstes Ausblenden der Europäisierung

Für eine verwaltungsrechtswissenschaftlich folgenlose Beobachtung steht beispielhaft der 130 Seiten umfassende Bericht Arnold Köttgens 1962 im Jahrbuch des öffentlichen Rechts mit dem Titel „Der Einfluß des Bundes auf die deutsche Verwaltung und die Organisation der bundeseigenen Verwaltung“. Der Autor erklärt, warum das Gemeinschaftsrecht inhaltlich keine Rolle spielt und weshalb er dieses außer Acht gelassen hat. Im Rahmen seiner Überlegungen zu Umfang und Gegenstand des Berichts fragt Köttgen, ob der Bund eines Tages die Länder mit dem Vollzug europäischer Rechtsvorschriften beauftragen könne. Er hält dies nur über eine Verfassungsänderung für möglich und fährt dann selbstreflexiv fort: „Es mag sein, daß unter diesen Umständen über kurz oder lang ein Bericht, der sich auf die ‚Einflüsse des Bundes auf die deutsche Verwaltung‘ beschränkt, nur noch als ein antiquierter Torso erscheint, der die eigentlich treibenden Kräfte unberücksichtigt läßt. Dies gilt umso mehr, als sich das auch sonst zu beobachtende Phänomen einer alle abgezirkelten Zuständigkeiten überspielenden Interdependenz gerade auf der europäischen Ebene als höchst wirksam erwiesen hat.“ Im Ergebnis bleibt er aber dabei: „Trotzdem muß sich dieser Bericht auf eine Darstellung der innerdeutschen Entwicklung beschränken, obwohl diese durch die europäische Politik bereits heute erheblich präjudiziert wird.“[97]

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Nationaler Charakter des Verwaltungsrechts

Ein anderes, prominenteres Beispiel ist Ulrich Scheuners[98] Aufsatz aus dem Jahr 1963 zum Einfluss des französischen Verwaltungsrechts auf die deutsche Rechtsentwicklung. Die Überlegungen beginnen mit der Feststellung, dass das „Verwaltungsrecht zu denjenigen Rechtsmaterien gehört, in denen die nationale Eigenart eines Volkes und Staates sich am stärksten ausprägt.“ Es weise deshalb, anders als das Verfassungsrecht, verhältnismäßig wenig Verflechtungen auf.[99] Der Aufsatz steht für den Standpunkt eines führenden Vertreters der deutschen Staatsrechtslehre, dass der nationale Charakter des Verwaltungsrechts im Grunde äußere Einwirkungen – nicht nur französische, sondern auch europäische – kaum zulasse. Der Befund ist auch deshalb bemerkenswert, weil diese Zuschreibung von Scheuner als einem Rechtswissenschaftler kommt, der dem Internationalen an sich aufgeschlossen und kenntnisreich gegenüberstand. Es ging deshalb vermutlich seinerzeit weniger um eine empirische, als um eine normative Aussage.[100] Möglicherweise, darauf deutet der Schluss des Aufsatzes hin,[101] ging es Scheuner jedoch darum, nach den Erfahrungen mit der Genese des Montanrechts[102] einer dominanten Rezeption französischen Verwaltungsrechts durch das Gemeinschaftsrecht entgegen zu treten, um es indirekt für den Einfluss des deutschen Verwaltungsrechts offen zu halten. Mehr noch, sein Standpunkt könnte auch der Denkströmung zuzuordnen sein, die das „Eindringen“ des Gemeinschaftsrechts in das wiederaufzubauende verwaltungsrechtliche System ablehnte.[103]

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Werdendes europäisches Verwaltungsrecht

Dagegen steht etwa der zum selben Zeitpunkt veröffentlichte Beitrag von Ernst Wohlfarth, dem späteren Generaldirektor des Juristischen Dienstes im Ministerrat,[104] aus dem Juristen-Jahrbuch 1962/63. Unter dem Titel „Anfänge einer europäischen Rechtsordnung und ihr Verhältnis zum deutschen Recht“ äußerte sich Wohlfahrt gezielt dazu, dass die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen sich unter dem EWG-Vertrag verändern würden. Er erkannte das Problem auseinanderfallender Verwaltungspraxis, sprach aber auch zahlreiche Fragen, wie die zur Errichtung einer gemeinschaftseigenen Verwaltung als noch unbeantwortet an. Gleichwohl zeichneten sich „die Umrisse eines werdenden europäischen Verwaltungsrechts [...] schon ab“.[105]

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Landwirtschaftsrecht als unerkanntes Referenzgebiet

Doch auch in der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft war man zu diesem Zeitpunkt, ohne Erfahrung als Praktiker und dessen Sonderwissen, auf die Entwicklung aufmerksam geworden, wie das sehr früh europäisierte, praxisrelevante Teilrechtsgebiet des Landwirtschaftsrechts zeigt.[106] Im Jahr 1963 beschreibt Volkmar Götz, seinerzeit Habilitand in Frankfurt, später Professor in Göttingen, wie das „1962 in über einhundert Verordnungen des Rates und der Kommission der EWG geschaffene Recht der europäischen Agrarmarktorganisationen [...] neue Aspekte der EWG-Rechtsordnung“ hervortreten lässt und ein „ausgedehntes Netzwerk europäischen Wirtschaftslenkungsrechts“ neben die bisherigen Kernbereiche, die Zollunion der EWG und den Kohle- und Stahlsektor der EGKS, tritt. Der Rat handele als europäisches Gesetzgebungsorgan, während die Kommission mit Durchführungsverordnungen konkretisiere.[107] In einem kurz darauf erschienenen Folgebeitrag schichtet Götz anhand einzelner Verordnungen ab, welche Aufgaben in die unmittelbare Verwaltungskompetenz der Kommission fallen und für welche Aufgaben nationale Umsetzungsgesetzgebung notwendig ist, die die Grundlagen für ein nationales Verwaltungshandeln im Sinne des dezentralen Vollzugs schafft.[108] Die Entwicklung im Landwirtschaftsrecht ließ später, Mitte der 1970er Jahre, einen Rechtsberater der Kommission fragen, ob es aufgrund der gewachsenen Agrarmarktordnung, der Regelungsfülle und des unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Vollzugs nicht langsam an der Zeit sei, ein allgemeines europäisches Verwaltungsrecht zu entwickeln.[109] Götz selbst bilanziert 1986, am Ende des hier behandelten Zeitabschnitts, dass vom EuGH entwickelte allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts nationales Recht nicht verdrängten, sondern als unmittelbar anwendbare Maßstabsnormen auf die Anwendung dieses Rechts beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts einwirkten.[110]

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