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1. Staatsrechtslehrertagung 1993 in Mainz
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Vergewisserung und Abrechnung
Zu einer Vergewisserung und Abrechnung, je nach Perspektive, geriet die Staatsrechtslehrertagung 1993 in Mainz.[208] Zu dem Thema „Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – wechselseitige Einwirkungen“ trugen Manfred Zuleeg und Hans-Werner Rengeling vor, die mit ihren Habilitationsschriften[209] wichtige monographische Beiträge mit jedenfalls teilweise pionierhaftem Charakter vorgelegt hatten. Zuleeg, seit 1977 Professor in Frankfurt und zudem seit 1988 Richter am EuGH, vertritt in seinem Bericht eine sehr gemeinschaftsfreundliche Position. Er misst den nationalen Verwaltungsrechtsstrukturen ausdrücklich keinen Eigenwert bei, was in der Aussprache erheblichen Widerspruch auslöste, und sieht ein allgemeines europäisches Verwaltungsrecht erst in allmählicher Ausbildung. Es sei hauptsächlich das besondere Verwaltungsrecht, insbesondere die Regelung der Agrarmärkte, betroffen, man stehe aber vor einer „Europäisierung der Verwaltungsrechtsordnung.“[210] Zuleeg verteidigt, wie kaum anders zu erwarten, die Rechtsprechung des Gerichtshofs, berichtet, wie Kollisionen mit dem nationalen Recht durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, Rezeption, Anpassung, Zusammenwirken, Aufsicht und Sanktionen zu vermeiden seien.[211] Seine Botschaft ist die fortbestehende Notwendigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, solange der europäische Gesetzgeber die Gemeinschaftsrechtsordnung nicht ausgestaltet, um diese „wirksam zum Nutzen der einzelnen zu entfalten.“ Zuleeg ruft die Rechtswissenschaft dazu auf, „sich an diesem Werk zu beteiligen.“[212] Der zweite Bericht ist für das Thema ergiebiger, weil Rengeling die wechselseitige Einwirkung – im Sinne von Bachofs „Merkposten“[213] – resümiert.[214] Er sieht wechselseitige Einwirkungen einerseits im verfassungsrechtlichen Integrationsauftrag mit angelegt, auch die bruchstückhafte Entwicklung eines allgemeinen europäischen Verwaltungsrechts, tritt aber auch für den Erhalt mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume im Rahmen des indirekten Vollzugs ein.[215]
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Kontroverse über den „Eigenwert“
In der Aussprache zu den beiden Referaten wurde die These geteilt, dass Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verwaltungsrecht bislang nur punktuell auszumachen seien.[216] Allerdings wurde auch die Forderung geäußert, die Lehrbücher des Verwaltungsrechts insoweit neu zu schreiben[217] und stärker das „werdende Verwaltungsrecht, das in der Konkretisierung der EMRK in Osteuropa über den Europarat entsteht“, zu beachten.[218] Die Diskussion ist aber aus einem anderen Grund beachtenswert: Sie wirkt nämlich wie eine Abrechnung mit demjenigen Teil der deutschen Staatsrechtslehre, der sich affirmativ der Europäisierung zugewandt hat und diese nach Kräften betreibt. Anknüpfungspunkt ist die auch in einen Leitsatz gebrachte Aussage Zuleegs, die Strukturen des nationalen Verwaltungsrechts besäßen in einer demokratischen Gesellschaft keinen Eigenwert und könnten daher der pflichtgetreuen Übernahme des Gemeinschaftsrechts ins mitgliedstaatliche Recht nicht entgegenstehen.[219] Dabei hat eine Rolle gespielt, dass Zuleeg als amtierender deutscher Richter am Gerichtshof für die Leitentscheidung in den Rechtssachen Francovich und Bonifaci[220] zum gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch in Haftung genommen wurde. Das Staatshaftungsrecht, von Beginn an ein Aufmerksamkeitsfeld der Verwaltungsrechtswissenschaft,[221] wurde durch das Urteil um ein neues, im Wege der Rechtsfortbildung geschaffenes Institut ergänzt, nämlich einen Haftungsanspruch des Bürgers gegen einen Mitgliedstaat, der gemeinschaftsrechtliche Pflichten verletzt. Klaus Vogel stellte in der Aussprache die rhetorische Gretchenfrage, wie es der Referent mit der Subsidiarität und der Proportionalität halte. Die Verwaltungsrechtskultur eines Rechtsstaats sei nämlich durchaus etwas Bewahrenswertes.[222] Christian Starck merkte an, wer klar sehe, der komme zu der Gegenthese, dass die rechtsstaatlichen, verwaltungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten einen Eigenwert hätten, nur die Prinzipien homogen sein müssten.[223] Joachim Wieland fiel auf, dass fast jede von Zuleegs Thesen mit einer Bezugnahme auf den EuGH begonnen habe und schloss die Frage an, ob der EuGH wirklich die richtige Instanz sei, über Ausmaß und Ausgestaltung der Harmonisierung des Verwaltungsrechts zu entscheiden.[224] Juliane Kokott warf die Grundsatzfrage auf, ob wir den Europäischen Bundesstaat im Sinne Zuleegs wollten, was dann „die Zauberformel vom effet utile, von der Effizienz des Europarechts, nahezu jede Auslegung des Rechts“ rechtfertige, oder ob die nationalen Rechtsordnungen, wie von ihr bevorzugt, einen gewissen Eigenwert hätten. Sie seien Attribut der Staatlichkeit der Mitgliedstaaten und außerdem litte unter dem punktuellen Eingreifen des Gerichtshofs in die nationalen Rechtsordnungen die Qualität des Rechts: „Der EuGH schneidet Stücke aus den gewachsenen Kodifikationen heraus. Was verbleibt, sind Torsen nationaler Rechtsgebiete, die in sich nicht mehr stimmig sind. Der EuGH ist eben kein Otto Mayer.“[225] In der Diskussion gab es auch Zuspruch, wie dem Vorschlag von Ingolf Pernice, auf die materielle Einheit von deutscher und europäischer Rechtsordnung abzustellen, die dazu führen könne, „daß der Verwaltungsbeamte und auch der Bürger das europäische Recht und dessen Einflüsse auf das nationale Recht nicht mehr als etwas Fremdes ansieht.“[226] Auffällig ist schließlich auch eine Ungleichzeitigkeit im Wahrnehmen und Verstehen der Integrationsereignisse seit den 1950er Jahren, die ein Teil der Rechtswissenschaftler engmaschig verfolgte, an einzelnen sogar als Akteur beteiligt war, und ein anderer Teil irritiert und fragend zur Kenntnis nahm.[227] Nach der Tagung ist die These Zuleegs, der nach einer Amtszeit als Richter 1994 wieder in die Wissenschaft zurückkehrte, noch einmal von Thomas von Danwitz in seiner Habilitationsschrift unter der Überschrift „Abwägungsimmunität des Gemeinschaftsverwaltungsrechts“ aufgegriffen worden. Er verweist auf die dadurch bewirkte Verfestigung der „Sanktions- und Durchsetzungsperspektive des Gemeinschaftsverwaltungsrechts in dogmatischer Hinsicht“ und zitiert Fritz Werner, der wegen „Hinwendung zum kalten Nützlichkeitsdenken“ vor einer „Brutalisierung des Rechts“ gewarnt hatte.[228]
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Replik und Rechtfertigung
Zuleeg hat auf die Kritik, die auch in der Rezeption der Staatsrechtslehrertagung mit besonderer Aufmerksamkeit registriert worden ist,[229] mit einem Aufsatz reagiert, der eine kritische Besprechung des Maastricht-Urteils und zugleich eine Rechtfertigung der Rechtssachen Francovich und Bonifaci[230] und damit der Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof ist. Er verwahrt sich zunächst gegen ein Fehlzitat des Zweiten Senats, der sich nicht auf seine Kommentierung als Beleg für die extensive Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs habe berufen dürfen.[231] Zuleeg bemüht sich sodann, das kompetenzwahrende Handeln des Gerichtshofs darzulegen, das sich in der Methode der Rechtsfortbildung kaum von der im deutschen Rechtsraum unterscheide, und führt weiter aus, der Gerichtshof sei gewillt, dem Gemeinschaftsgesetzgeber den Vortritt zu lassen, soweit er sich noch nicht für eine Lösung entschieden habe, die hinlänglich deutlich Rechtsfolgen ableiten lasse.[232] Es geht ihm darum, dass die Rechtsgemeinschaft mit Leben gefüllt wird, durch den Dialog der Gerichte und den Beitrag der Individuen als Rechtssubjekte der Gemeinschaft. Die Stellungnahme Zuleegs zeigt noch einmal deutlich, dass die Diskussion über eine Europäisierung des Verwaltungsrechts in den verfassungsrechtlichen Rahmen für die europäische Integration gestellt ist. Wie eine Formulierung gleich zu Beginn seines Beitrages jedoch zeigt, bestehen unüberbrückbare Differenzen im Vorverständnis der Beteiligten über ebendiesen Rahmen für die europäische Integration. Dort heißt es wörtlich: „Die Richter, die über die Rechtsstreitigkeiten Francovich und Bonifaci zu befinden hatten, sind ihrer Verantwortung für das Gemeinschaftsrecht in vorbildlicher Weise gerecht geworden.“[233]