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E. Die Schlussfolgerungen

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Neusetzung des verwaltungsrechtswissenschaftlichen Bezugspunktes

Die Europäisierung ist heute Allgegenwart, der Prozess ist Status geworden. Die in ihrem Ton integrationsfreundliche Verbundsemantik[270] markiert einen Verflechtungszustand des nationalen und des europäischen Verwaltungsrechts, in dem zwar weiterhin „Europa“ auf die Verwaltungsrechtsordnungen der Mitgliedstaten einwirkt, dies jedoch seinen Neuigkeitswert verloren hat und der Veränderungsdruck nicht mehr überrascht oder sogar verschreckt.[271] Mehr noch, die Verbundsemantik hat die synthetisierende Kraft, den Konflikt zwischen EU und Mitgliedstaaten – und ihrem jeweiligen Rechtswissenschaften – zu entschärfen.[272] Dieser Zustand ist nicht das Ergebnis einer erst in den 1980er Jahren erwachten Verwaltungsrechtswissenschaft, die – wie andere Teilfächer der Rechtswissenschaft – das organisierte Europa bis dahin mehr oder minder ignoriert und erst allmählich dessen Bedeutung erkannt hatte. Die Zunahme der verwaltungsrechtlichen Literatur, die sich mit europäischen Einflüssen beschäftigt, den Transfer dogmatischer Figuren beschreibt und dieses auch in Lehrbüchern und Forschungsfragen abbildet, ist ein empirisch zutreffender Befund, der jedoch andere Gründe hat. Die Vertreter der Verwaltungsrechtswissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren, deren Zahl verglichen mit der heutigen personellen Stärke des Faches deutlich geringer war, nahmen wahr, dass mit Gründung der Montanunion auch im Recht „etwas passiere“.[273] Einzelne, auch aus der älteren Generation, haben dazu aus ihrem bisherigen Erfahrungshorizont heraus veröffentlicht, wenngleich „an der Materie“ noch vielfach Völkerrechtler saßen und keineswegs ausgemacht war, ob es sich bei den Gemeinschaften nicht doch um modernisierte Formen der internationalen Staatenkooperation handelt. Dass das Gründungsjahrzehnt der Gemeinschaften, besonders der Montanunion, zudem eine Zeit des ausgedehnten Verwaltungsrechtsvergleichs durch die beteiligten Völkerrechtswissenschaftler, Praktiker und ihre Doktoranden war, ist bislang nur am Rande wahrgenommen worden. Die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft war in diesen Jahren neben dem Zustand des Faches in der Sache überwiegend mit dem Wiederaufbau des Rechtsstaates befasst. Die Montanunion und die Gemeinschaften insgesamt hatten, das wird heute in anachronistischen Rückprojektionen häufig übersehen, bis in die 1970er Jahre nicht die beherrschende, repräsentative Stellung als Ausdruck des organisierten Europas, sondern standen neben zahlreichen weiteren Organisationen. Dass in der ersten Hälfte der 1960er Jahre noch keine Vorlagen deutscher Gerichte an den EuGH bekannt waren[274] und Beiträge zur Sekundärrechtsflut und der Vollzugsteilung zwischen Gemeinschaftsbehörden und nationalen Behörden veröffentlicht wurden,[275] die die Arbeitslinien überhaupt erst erfassbar machten, verdeutlicht, dass es noch nicht an der Zeit war, dies „gesetzt“ in Lehrbüchern und Curricula abbilden zu können. Die stark europäisierten Sachgebiete, wie das Landwirtschafts- und das Außenwirtschaftsrecht, hatten für die universitäre Lehre zudem keine Bedeutung, das Kartellrecht wurde von der Zivilrechtswissenschaft bearbeitet und es gab darüber hinaus kein lehrfähiges Referenzgebiet. Entscheidend für den Umschwung war der Wechsel des konstitutionellen Bezugspunkts der Verwaltungsrechtswissenschaft, die ihre strenge Akzessorietät zu demokratisch legitimierten Grundrechten und zur Rechtsstaatlichkeit des Grundgesetzes in dem Augenblick relativieren konnte, in dem sich in den Gemeinschaften theoretisch wie dogmatisch ein Grundrechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit in Gestalt allgemeiner Grundsätze herauszubilden begannen. Die zweite Hälfte der 1970er Jahr ist hierfür eine wichtige Zäsur. Dabei bestand bis dahin noch nicht einmal Einigkeit darüber, ob die Gemeinschaften überhaupt einer demokratischen Legitimation und eines rechtsstaatlichen Rahmens für ihre europäische öffentliche Gewalt zwingend bedurften, oder ob die Gemeinschaftsgewalt in anderen Form konsentiert werden könne, denn „wo […] letztlich nicht entschieden, sondern erkannt wird, herrscht die Kompetenz des Sachverstandes, nicht die Mehrheit.“[276] Diese Frage ist bis heute noch nicht vollständig beantwortet, denn was die EU sein will und sein soll, definiert auch die Funktion des Verwaltungsrechts und seine notwendigen Breite. Die Europäisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft ist heute nicht mehr eine Konfliktlinie, sondern eine der Klammern der Verwaltungsrechtswissenschaft.[277]

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Europäisierung als Fortschrittsmetapher

Die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft bemüht sich, ihr Denken in die Evolution des Unionsrechts einzubringen, den Systemgedanken zu entfalten,[278] und ist – teilweise – auch um die Kodifikation zumindest von Elementen des europäischen Verwaltungsrechts bemüht.[279] Kritik an der „Europäisierung“ wird heute systemimmanent geäußert. Obwohl die Gemeinschaften seit ihrer Gründung auch Verwaltungsrechtsgemeinschaften waren,[280] haben sich die europarechtlichen Rahmenbedingungen über das Verfassungsrecht hinaus durch den Vertrag von Lissabon weiter in Richtung auf die Kooperation verändert. Für die „offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung“, auf die sich die EU bei der Ausübung ihrer Aufgaben stützt, kann Sekundärrecht erlassen werden (Art. 298 Abs. 2 AEUV). Ein eigener Titel im AEU-Vertrag regelt die Verwaltungszusammenarbeit der Union und der Mitgliedstaaten, die noch einmal auf die effektive Durchführung des Unionsrechts verpflichtet werden und Verwaltungshilfe der Union in Anspruch nehmen können (Art. 197 AEUV). Die Grundrechte-Charta kennt ein Recht auf gute Verwaltung und wirksamen Rechtsschutz (Art. 41, 47 GRC). Werden die Vertreter der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft also zu Vertretern einer europäischen Verwaltungsrechtswissenschaft oder sind sie das möglicherweise bereits? Es scheint Einigkeit zu bestehen, dass das Trennungsprinzip, d. h. der im Grundsatz bei den Mitgliedstaaten liegende Vollzug des Unionsrechts, der Regelfall und die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen ausgeschlossen ist. Das ist nicht wenig, jedoch bleibt viel Raum für Veränderung und Umgestaltung, für Innovation und Reflexion über Inhalte und Methoden, den verschiedene Denkströmungen auszufüllen suchen.[281] Möglicherweise bietet es sich deshalb an, die „Europäisierung“ aus der Gegenwartsperspektive als Teil und Chiffre zugleich für die Bemühungen um eine modernisierende Veränderung des Verwaltungsrechts, also als eine Fortschrittsmetapher zu verstehen.[282] Im Grunde aber ist die Staatsrechtslehre noch immer mit den Fragen befasst, die ganz am Anfang der europäischen Integration erkannt und formuliert worden sind: Welches Schicksal haben die nationalen Verfassungen mit ihrer demokratisch legitimierten, rechtsstaatlichen Bindung hoheitlicher Gewalt und welchen Maßstäben muss die europäische öffentliche Gewalt genügen? Auf der Staatsrechtslehrertagung in Speyer 2015, auf der sich die Vertreter der Staatsrechtslehre zuletzt über diese Fragen vergewisserten und nach Antworten suchten, kam einer der mit diesem Thema betrauten Referenten zu dem Ergebnis, dass ein europäisierungsbedingter Bedeutungsverlust des Grundgesetzes nicht von der Hand zu weisen sei, das Grundgesetz sich gleichwohl behaupten könne.[283] Ein Widerspruch in der Aussprache ist nicht verzeichnet.

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