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I. Idee und Gestaltform eines europäischen Verwaltungsrechts
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Prägende Monografie
Zum Ende der 1980er und am Beginn der 1990er Jahre nahm die Idee eines europäischen Verwaltungsrechts konkrete Gestaltform an. Im Jahr 1988 veröffentlichte Jürgen Schwarze die Ergebnisse eines rechtsvergleichenden Forschungsprojekts unter dem Titel „Europäisches Verwaltungsrecht – Entstehung und Entwicklung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft.“[184] Mit dem zweibändigen, mehr als 1.400 Druckseiten umfassenden Werk knüpfte der Autor an seine programmatische Vorarbeit an[185] und schuf einen Referenztext für alle Folgeveröffentlichungen. Schwarze ermittelt rechtsvergleichend in allen Rechtsordnungen der seinerzeit zwölf Mitgliedstaaten gemeinsame verwaltungsrechtliche Prinzipien, deren Existenz im Gemeinschaftsrecht er daraufhin anhand des Primärrechts und der Rechtsprechung überprüft. Für Schwarze besteht das Gemeinschaftsrecht vorrangig aus verwaltungsrechtlichen, insbesondere wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Normen, so dass man es mit einer Verwaltungsrechtsgemeinschaft zu tun habe. Dem EuGH wird die Rolle zugewiesen, das Verwaltungsrecht innerhalb der EG durch Richterrecht maßgeblich entwickelt zu haben, vergleichbar der historischen Entwicklung nationaler Verwaltungsrechtsordnungen.[186] Resümierend kommt Schwarze zu dem Ergebnis, dass die Gemeinschaft bereits über einen Bestand von Verwaltungsrechtsnormen verfüge, der jenen der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen vergleichbar sei.[187] Erwähnung findet auch der rückwirkende Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das allgemeine Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten, bei dem es zu einer „sektoriellen Modifizierung nationalen Verwaltungs- und Verwaltungsverfahrensrechts“ vornehmlich im Rahmen des indirekten Vollzugs gekommen sei.[188] Einer Kodifikation des europäischen Verwaltungs- und Verfahrensrechts widerspricht Schwarze mit dem Argument, dieser Schritt stünde der evolutiven Entwicklung der Gemeinschaft durch eine „behutsam und pragmatisch“ fortgeführte Rechtsprechung des EuGH entgegen.[189]
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Begriffsarbeit
Dass die Zeit der Bilanz zu einem europäischen Verwaltungsrecht gekommen war, zeigt der 1991 von Michael Schweitzer herausgegebene Band, der die Ergebnisse eines Forschungsvorhabens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften versammelte und an dem überwiegend deutsche Staatsrechtslehrer mitgewirkt hatten.[190] Der Herausgeber geht in seiner Einleitung ausdrücklich auf das gut zwei Jahre zuvor veröffentlichte Werk Schwarzes ein, das er als Ausdruck „bester Tradition der Hamburger Gemeinschaftsrechtswissenschaft“[191] einordnet, um den eigenen, Neuland betretenden Forschungsansatz abzugrenzen.[192] Der Begriff „Europäisches Verwaltungsrecht“ wird enger verstanden, begrenzt auf solche Rechtsnormen und -akte, die dem Gemeinschaftsrecht entspringen und den Gemeinschaftsrechtsvollzug in konkreten Situationen regeln.[193] Allerdings kommt auch der Beitrag von Rudolf Streinz in Bezug auf den EuGH zu dem Ergebnis, dass dieser Lücken im Gemeinschaftsrecht durch aus mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abgeleitete Rechtsgrundsätze schließe, der Gemeinschaftsgesetzgeber nachvollziehend reagiere, und dass sich in der Gemeinschaft geradezu ein rechtshistorischer Prozess wiederhole, in dem sich ein allgemeines europäisches Verwaltungsrecht aus dem besonderen Verwaltungsrecht, wie im 19. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland, durch Mitwirkung der Rechtwissenschaft entwickele.[194] Trotz thematischer und konzeptioneller Geschlossenheit der zahlreichen Einzelbeiträge fehlt dem Band die rechtsvergleichende Grundlage, ein Grund, weshalb dieser in deutlich geringerem Umfang rezipiert wurde.
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Zwischenbilanzen
Die Idee eines europäischen Verwaltungsrechts hat zwei Wirkrichtungen: das Entstehen eines Eigenverwaltungsrechts der Gemeinschaften und die Konvergenz der mitgliedstaatlichen Verwaltungsrechtsordnungen, möglicherweise sogar die Kreation eines verwaltungsrechtlichen „ius commune europaeum.“ Im Jahr 1996 gibt Schwarze zu dieser Frage einen Sammelband mit rechtsvergleichenden Beiträgen heraus, in dem er eine skeptische Zwischenbilanz zieht. Unter Zitierung des Aufsatzes von Ulrich Scheuner[195] heißt es in der Einführung, zu groß seien die Eigenarten und Selbstverständnisse der staatlichen Verwaltungsrechtsordnungen und zu wenig einschätzbar die mit einer Ablösung nationalen Rechts verbundenen Gefahren und Nachteile. Gleichwohl schreite die Europäisierung voran, mit zunehmendem Bewusstsein der wechselseitigen Einflussnahmen,[196] auch wenn perspektivisch das „nationale Verwaltungsrecht seine jeweiligen systemprägenden Eigenheiten nicht verlieren“ werde.[197] Eine weitere Zwischenbilanz zieht Schwarze 2005 in der zweiten Auflage seines rechtsvergleichenden Werks,[198] bei der es sich um einen Nachdruck der ersten Auflage mit einer ausführlichen Einleitung handelt. Schwarze sieht seine Grundthese bestätigt, dass sich das europäische Verwaltungsrecht durch die Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze seitens des Gerichtshofs herausbilde, denen mehr Sekundärrecht und ein verändertes Verwaltungsgefüge an die Seite getreten seien. Er plädiert nunmehr für eine Teilkodifikation der allgemeinen Grundsätze für den indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts.[199] Eine letzte Bilanz 2008 bringt wenig Neues, setzt aber den Ton und die Stichworte für die Zukunft und nimmt indirekt den Fortbestand des nationalen Verwaltungsrechts an: Eine zentrale Rolle werde die Herausbildung eines kohärenten europäischen Verwaltungskooperationsrechts haben.[200] In demselben Jahr erschien erstmals eine monographische Gesamtdarstellung des europäischen Verwaltungsrechts, die Thomas von Danwitz vorlegte.[201] Sie beginnt mit einem rechtsvergleichenden Teil und erörtert, nach einem Kapitel über die Grundlagen, das Eigen-, Gemeinschafts- und Kooperationsverwaltungsrecht.[202] Ein Handbuch aus dem Jahr 2011 buchstabiert das europäische Verwaltungsrecht auch in seinem besonderen Teil aus.[203] Der methodische Standard, die Kategorien und die Begriffe sind gesetzt.