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3. Realität der Verwaltungspraxis
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Überforderung der (Verwaltungs)Praxis
Anfang der 1970er Jahre gab es in der verwaltungsrechtlichen Literatur einen Hinweis darauf, dass die tatsächliche Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts und das weiterhin begrenzte Engagement der Verwaltungsrechtswissenschaft möglicherweise etwas mit deren begrenzter Empirie zu tun habe.[129] Im Deutschen Verwaltungsblatt 1972 erschien ein Beitrag des Verwaltungsmanns Gerold Schmidt. Der Autor teilt darin mit, dass seit 1962 mit dem Außenwirtschaftsrecht (AWR) beinahe „unbemerkt ein ganzer Bereich des deutschen besonderen Verwaltungsrechts bzw. Wirtschaftsverwaltungsrechts nahezu untergegangen und gleichzeitig neuerstanden“ sei. Aus Anlass des formellen Übergangs der Gesetzgebungszuständigkeit auf die Wirtschaftsgemeinschaft zum 1. Januar 1970 blickte er auf zehn Jahre zurück.[130] Der Aufsatz gibt ein plastisches und anregendes Beispiel für die langsame, zu Beginn der 1960er Jahre unscheinbare Abgabe von Verordnungstätigkeit an den EG-Gesetzgeber, deren nationale Auswirkungen den beteiligten Praktikern erst allmählich deutlich wurden. Für Schmidt schienen sowohl Wissenschaft als auch Praxis überfordert, beim Nachvollzug und der Systematisierung mit der Normgebungstätigkeit der Gemeinschaft Schritt halten zu können: „Wissenschaft und Praxis sind bislang dem scheinbaren Wirrwarr und den fremdartigen Begriffen und Instituten erlegen und haben die Entstehung eines geschlossenen, gemeinschaftlich-deutschen AWR-Systems, das sich aber eben nicht gleich als AWR vorsortiert, kaum erfaßt. Insbesondere die partikulären deutschen Verwaltungen haben große Last, mit den Aufgaben, mit dem Wandel, mit der Weiträumigkeit und dem Geist des neuen Rechtsgebiets fertig zu werden.“[131] Als eine Ursache nennt der Autor die juristisch-fachliche Information der Verwaltungsbeamten, deren Kenntnisse des „geltenden gemeinschaftlich-deutschen Rechts“ er als beklagenswert einordnet und mit einem Vorwurf an die Verwaltungsrechtswissenschaft verbindet: „Die schulmäßige Verwaltungsrechtslehre erzieht geradezu zu dieser Schwierigkeit, wenn sie das geltende gemeinschaftlich-deutsche Verwaltungsrecht systematisch zu „Völkerrecht, Internationales Recht, Recht des Auslandes“ abschiebt, womit sich der Durchschnittsbeamte garantiert nicht befaßt.“[132] Dieser Anekdote entspricht der Befund, dass das Gemeinschaftsrecht zwar seit Anfang der 1960er Jahre an mehreren Universitäten gelehrt und erforscht worden ist, Europarecht aber erst mit der Ausbildungsreform Anfang der 1970er Jahre zumindest als Wahlfach im Staatsexamensstudiengang und seit Mitte der 1980er Jahre im Pflichtfachstoff prüfungsrelevant wurde.[133]
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Interministerielle Uneinigkeit
Eine verwaltungswissenschaftliche Studie vom Beginn der 1990er Jahre, die sich mit der ministerialen Verwaltungsumstellung als Reaktion auf den Schumanplan, die Montanunion und den EWG-Vertrag befasste, entlastete allerdings die Verwaltungsrechtswissenschaft auch; zumal Ausbildungsänderungen sich ohnehin erst Jahrzehnte später in der Praxis juristischer Funktionseliten bemerkbar machen. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass sich der Prozess verwaltungspraktischer und -administrativer Anpassungen und Reaktionen auf den Integrationsprozess aufgrund der Streitigkeiten zwischen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard über Form und Ziel der europäischen Integration[134] innerhalb der Bundesministerien bis in die 1960er Jahre hinein stark verlangsamte und die Aufmerksamkeit von den Europäisierungsprozessen auf interne Angelegenheiten ablenkte.[135]