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4. Verfassungsmaßstab und allgemeine Rechtsgrundsätze
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Wahrnehmungswechsel
Ein in der Rückschau prägender Zeitraum reicht vom Ende der 1960er bis in die zweite Hälfte der 1970er Jahre, die die erwähnte Zäsur für die Europäisierung markiert.[136] Die Sekundärrechtsetzung der Gemeinschaften und die Vorlageersuchen nationaler Gerichte an den EuGH waren erst seit Mitte der 1960er Jahre überhaupt in Gang gekommen.[137] Es erschienen Monographien, die nicht nur für eine andere Befassung von jüngeren Vertretern der Verwaltungsrechtswissenschaften mit dem organisierten Europa, sondern auch für einen Wahrnehmungswechsel stehen, der in der Referentenauswahl für die Staatsrechtslehrervereinigung im Jahr 1993 gespiegelt wird.[138] Im Wintersemester 1967/68 nahm die Kölner Fakultät die Habilitationsschrift Manfred Zuleegs[139] an.[140] In der Schrift befasst sich Zuleeg mit der Systematisierung des Verhältnisses von europäischer und deutscher Rechtsordnung, im neunten Kapitel speziell auch mit dem „Verwaltungsvollzug durch nationale Behörden“, was insgesamt als „bedeutende Leistung“ eingeordnet wurde.[141] Zuleegs Überlegungen zeigen deutlich die Verknüpfung des europarechtlichen Geltungsgrundes mit den Anwendungsfragen auf, wobei die Antwort auf letztere von der Grundlagenkonzeption abhängen. Für den Autor bestehen auf staatlichem Territorium zwei selbständige Rechtsordnungen nebeneinander, die zwar auf mannigfache Weise verzahnt seien, aber doch bei ihrer Verwirklichung unterschiedlichen Regeln gehorchten. Der alleinige Geltungsanspruch staatlichen Rechts sei nicht mehr aufrecht zu erhalten.[142] Hier argumentiert ein Rechtswissenschaftler vom föderativ-konstitutionellen Standpunkt,[143] der sich zudem auf integrationsfreundliche Autoritäten berufen kann. Der deutsche Generalanwalt am EuGH, Karl Roemer, schloss sich der von Carl Friedrich Ophüls, Konrad Zweigert und Hans Peter Ipsen vertretenen These vom unbedingten Vorrang des Gemeinschaftsrechts an, den er für diejenigen, die einer Autonomie mit verfassungsrechtlicher Qualität nicht folgen wollten, zusätzlich auf eine extensive Auslegung von Art. 24 Abs. 1 GG stützte.[144] Die zitierte These wurde von Ipsen mit der Gesamtakttheorie unterfüttert, wonach die im Abschluss der Gemeinschaftsverträge liegende Willenseinigung mit ihrer an sich auf die Vertragschließenden beschränkten Rechtswirkung eine von einem Gemeinwillen getragene Rechtserzeugung „außer sich selbst“ zum Ausdruck bringe. Ipsen entfaltete diesen, in die Debatte bereits eingeführten Gedanken in seiner 1972 erschienenen Monographie „Europäisches Gemeinschaftsrecht“, die auch als Lehrbuch oder als Handbuch eingeordnet werden könnte.[145] Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1967, die erste nähere Befassung Karlsruhes mit dem Gemeinschaftsrecht, lässt Deutungsspielräume, die von Ipsen im Sinne der Gesamtakttheorie genutzt wurden.[146]
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Monitum Grundrechtsschutz
Welchen Standpunkt man als zeitgenössischer Akteur und zeithistorischer Beobachter auch einnimmt, aus den tatsächlichen Einwirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht entsteht die Folgefrage, wie es mit den rechtsstaatlichen Maßstäben für dieses europäische Handeln aussieht, die bereits ausführlich auf den Staatsrechtslehrertagungen in Erlangen (1959) und Kiel (1964) mit unterschiedlichem Akzent diskutiert worden waren.[147] Die bereits früh, bei der Errichtung der Montanunion gesehene Grundrechtsfrage[148] führte 1970 zu einer rechtswissenschaftlichen Kontroverse, die sich aus den Vorverständnissen erklärt. Hans Heinrich Rupp[149] verwies in der Neuen Juristischen Wochenschrift auf das Fehlen von Grundrechtskatalogen in den Gemeinschaften und schlussfolgerte daraus die Bindung aller Gemeinschaftsorgane an die nationalen Grundrechte. Er argumentiert gegen die These vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts, zu der auch Zuleeg sich im Sinne einer Grundrechtsverdrängung im Einzelfall positioniert hatte,[150] und wirft der „deutschen Verfassungslehre“ vor, das Problem der fehlenden demokratischen Bindung einer „verselbständigten Herrschaft von Vertragsorganen […] behend zu überspringen.“[151] Rupp fordert eine schrittweise Anpassung des Gemeinschaftsrechts an diejenigen Standards, „die eine freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie europäischer Nation besitzen muß, um von allen ihren Bürgern aus innerer Überzeugung erhofft und erstrebt zu werden.“[152] Diese Generalkritik wird bei ihren Adressaten in der Rechtswissenschaft verstanden und umgehend beantwortet. Hans Peter Ipsen bescheinigt Rupp in seinem Vortrag vor der Berliner Rechtswissenschaftlichen Gesellschaft, der Bundesstaatskonzeption des 19. Jahrhunderts nachzuhängen und die Erkenntnis der funktionalen Teilintegration unberücksichtigt zu lassen. Die Verfassungsstrukturen der Mitgliedstaaten, jenseits der Wirtschaftsordnung und Sozialgestaltung, und die Rechtspositionen der Bürger als Marktbürger in ihren Konstitutionsprinzipien würden nicht angetastet, während die nationalen Verfassungsordnungen „nach den Erfahrungen der Gemeinschaftsverfassung und ihres Vollzuges“ überprüfbar werden würden.[153] Die Kontroverse ging bekanntlich anders aus, als von der deutungsmächtigen Hamburger Schule des Europarechts gedacht: mit dem Paukenschlag aus Karlsruhe, dem Solange I-Beschluss des Zweiten Senats im Jahr 1974. Die Entscheidung enthielt nicht nur den Prüfvorbehalt für Gemeinschaftsrechtsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte, sondern wies indirekt auch die Gesamtakttheorie zurück, weil Art. 24 GG keine völkerrechtlichen Verträge tragen könne, „die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde.“[154] Der Gerichtshof setzte seine Bemühungen um die Gemeinschaftsgrundrechte fort; weil der geplante Beitritt der Gemeinschaften zur EMRK scheiterte, erklärten die Organe 1977 ihre Selbstbindung an die als allgemeine Rechtsgrundsätze geltenden, ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte.[155]
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Habilitationsschriften
Ein wichtiger Merkposten für die Thematik der verfassungsrechtlichen Bindung an Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Dazu erscheint 1977 eine weitere Habilitationsschrift. Der Autor, Hans-Werner Rengeling, hatte bereits zuvor in einem Aufsatz zum nationalen Verwaltungsvollzug von Gemeinschaftsrecht die von Hans Peter Ipsen 1968 eingeführte Formulierung von der „Öffnung“ der nationalen Verwaltungen aufgenommen und das „Eindringen“ des Gemeinschaftsrechts in den Bereich der nationalen Infrastruktur durch den Verwaltungsvollzug als zu wenig beachtetes Thema identifiziert.[156] Nun folgte eine ausführliche Untersuchung des Verwaltungsvollzugs, den er detailliert in verschiedene Spielarten differenzierte.[157] Im Mittelpunkt steht die Funktion von Rechtsgrundsätzen, deren Anwendung in den Mitgliedstaaten Rengeling vergleicht und an die sich eine Analyse der Existenz und Anwendung von Rechtsgrundsätzen im Gemeinschaftsrecht und eine Verhältnisbestimmung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Rechtsgrundsätze anschließt. Methodisch bewegt er sich also auf dem für das Verwaltungsrecht vor den Gesetzeskodifikationen vertrauten Terrain, auf dem Verwaltungsgerichte und die -rechtswissenschaft die Grundsätze als Rechtsquelle verstehen. Bereits ein Jahr zuvor erschien die Freiburger Habilitationsschrift von Jürgen Schwarze, in der er die Rolle des EuGH als „Gesetzgeber“ im „unvollkommen geregelten Gemeinschaftsrecht“ anhand der bisher ergangenen Entscheidungen untersuchte und damit methodisch den Schritt machte, dass der Gerichtshof berechtigt sei, etwa über die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die fehlenden Grundrechte durch Rechtsfortbildung zu schaffen und Normdefizite zu überwinden.[158]