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2. Ipsens „Kieler Welle“ – der Eigenstand des Gemeinschaftsrechts
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Supranationale Wirtschaftsverwaltung
In die Aufbaujahre der Gemeinschaften fiel auch die Staatsrechtslehrertagung 1964 in Kiel. Joseph H. Kaiser[111] und Peter Badura berichteten über die „Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in den internationalen Gemeinschaften.“ In seinem bis in die Gegenwart beachteten Referat geht Peter Badura der Frage nach, ob demokratische und rechtsstaatliche Verfassungsstruktur durch die Internationalisierung der öffentlichen Gewalt modifiziert werde. Er stellt zunächst die Inhalte und Formen der internationalen Verwaltungen dar, die nichtstaatliche und -nationale öffentliche Gewalt in Europa ausüben, worunter er ausdrücklich auch die der europäischen Wirtschafts- und Militärverwaltung nennt. Badura nimmt also die Kategorisierung des internationalen Verwaltungsrechts auf,[112] verlässt diese jedoch und diagnostiziert etwas Neues. Die Montanunion wie die Wirtschaftsgemeinschaft seien su pranationale Wirtschaftsverwaltung.[113] Die von der EWG ausgeübte öffentliche Gewalt sei bis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs materiell Regierung und Verwaltung, die in rechtsetzenden und vollziehenden Akten verwirklicht werden würden.[114] Im weiteren Argumentationsverlauf, der sich der demokratischen Legitimation jener europäischen öffentlichen Gewalt zuwendet, kommt Badura zu dem Ergebnis, dass die „Aufgaben und Befugnisse der europäischen Wirtschaftsverwaltung […] somit nicht über das hinaus[gehen], was der moderne Staat für seine Wirtschaftspolitik in Anspruch nimmt und nehmen darf. Das Problem der bürgerlichen Freiheit in der europäischen Wirtschaftsverfassung erweist sich als ein Aspekt der allgemeineren Frage, wie Freiheit im Wohlfahrtsstaat möglich ist.“[115] Das Referat wirkt im zweiten Teil wie eine Wiederaufnahme der Diskussion in Erlangen,[116] nur mit durchweg europarechtsfreundlichen Standpunkten, die die beim Rechtsschutz diskutierten, verwaltungsrechtlichen Probleme, wie sie etwa Carl Hermann Ule aufgeworfen hatte,[117] mit der Erkenntnis löste, dass „den ohne weitere Anfechtungsmöglichkeit entscheidenden deutschen Gerichten die Gerichtsbarkeit über Akte der europäischen öffentlichen Gewalt fehlt“ und insoweit die supranationale an die Stelle der nationalen Rechtsprechung getreten sei.[118] Wenn die drei Gemeinschaften gegenüber den Mitgliedstaaten und Bürgern „selbständige Hoheitsbefugnisse in Gestalt eigener Zuständigkeiten zur Rechtsetzung, zu Regierung und Verwaltung und zur Rechtsprechung“ haben, dann wäre es nur konsequent, diesem Hoheitsträger auch ein eigenes Verwaltungsrecht zu verordnen. Schließlich liegt in der ungeformten Handlungsmacht der Gemeinschaften deren rechtsstaatliches Strukturproblem – diesen Schritt geht Badura jedoch nicht.
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„Emanzipation des Gemeinschaftsrechts“
Die Kieler Staatsrechtslehrertagung wird als Wendepunkt in der Wahrnehmung des Gemeinschaftsrechts in der Staatsrechtslehre und damit auch in der Verwaltungsrechtswissenschaft gedeutet. Hans Peter Ipsen hat dafür das Bild der „Kieler Welle“ erfunden,[119] das sich festgesetzt hat und mit ihm seine These, dass diese Staatsrechtslehrertagung „eine Entwicklungsbewegung zur Emanzipation des Gemeinschaftsrechts aus einer grundgesetzintrovertierten Haltung“,[120] eine Zäsur gewesen sei, ab der sich die deutsche Wissenschaft des Öffentlichen Rechts dem Gemeinschaftsrecht zugewandt habe.[121] Die Referate und deren Rezeption mögen so empfunden oder auch im wissenschaftlichen Eigeninteresse so gedeutet worden sein. An dieser Stelle der Überlegungen ist jedoch deutlich, dass bereits mit Gründung der Montanunion vereinzelt verwaltungsrechtliche Kernfragen formuliert worden waren, dass die Erlanger Staatsrechtslehrer 1959 sich, wenn auch mit anderem Zungenschlag, ausführlich mit „Europa“ beschäftigt hatten und dass Anfang der 1960er Jahre eine größere thematische Durchdringung einsetzte.[122] Hinzu kommt, dass sich auch nach 1964 eine literarische Befassung mit dem Gemeinschaftsrecht in der Breite empirisch nicht nachweisen lässt.[123]
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Deutungsdominanz
So sagt die Deutung der „Kieler Welle“ möglicherweise mehr über ihren Schöpfer, Hans Peter Ipsen, aus, als über den Europäisierungszustand der Verwaltungsrechtswissenschaft insgesamt. Ipsen beginnt in dieser Zeit, seine bereits gefestigte Stellung in der Staatsrechtslehre weiter auszubauen und eine debattenbeherrschende Deutungsdominanz in allen Fragen des Europarechts, besonders seines gleichberechtigten Selbststandes neben nationalem öffentlichen Recht und Völkerrecht aufzubauen.[124] Auf der Staatsrechtslehrertagung in Graz 1966 referierte er selbst zum Spezialthema „Verwaltung durch Subventionen“. Für die Bereiche der Grundstoffindustrie, des Agrar- und des Verkehrsmarktes unterstreicht Ipsen eine vollständige Determinierung durch das Gemeinschaftsrecht. Er fügt an einer Stelle seines Referats eine als „europarechtlich[e] ‚Tortenverzierung‘“ bezeichnete, über drei Seiten reichende Fußnote hinzu, in der er vertieft darauf eingeht, auf welchen Rechtsgrundlagen und wie sich der Integrationsgrad der jeweiligen Märkte gestaltet und wie die Kontrolle der Gemeinschaftsorgane, vor allem der Kommission, erfolgt. Das deutsche Subventionsrecht sei „im Zustand zunehmender gemeinschaftsrechtlicher Verwandlung oder einer Art Rechts-Osmose“.[125] Es lohnt bei diesem Thema und dieser Herangehensweise ein Vergleich zu der Habilitationsschrift von Volkmar Götz aus demselben Jahr, in der er das „Recht der Wirtschaftssubventionen“ als Querschnittsgebiet von Zivilrecht, öffentlichem Recht, Verfassungsrecht und unter breiter analytischer Inbezugnahme von EGKS- und EWG-Recht entwickelt.[126]
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Einwirkungen auf deutsches Verwaltungsrecht
Zwei Jahre später veröffentlichte Ipsen einen Aufsatz zum Thema „Deutsche Verwaltung und europäische Wirtschaftsintegration“. Darin beschreibt er systematisch den Unterschied des Einwirkungsgrades auf die innerstaatliche Verwaltung durch supranationales Gemeinschaftsrecht im Unterschied zu internationalen zwischenstaatlichen Organisationen und verteidigt nüchtern die „‚Öffnung‘ der deutschen Verwaltung“ gegen zweifelnde Stimmen.[127] Ipsen kritisierte, dass die deutsche Politologie und Soziologie sich bislang nicht für eine Bestandsaufnahme interessieren, „in welcher Zahl und Intensität deutsches Verwaltungspersonal am Integrationsprozeß aktiv beteiligt ist.“ Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Ipsen, der die intensivierende Einwirkung auf die Verwaltung im Großen und Ganzen abstrakt beschreibt, an einer Stelle konkret wird. Das Einwirkungsausmaß sei auch erkennbar an der „seit 1964“ wachsenden Zahl von deutschen Vorlagebeschlüssen zum EuGH. Das Adverb „seit 1964“ ist deshalb aufschlussreich, weil Ipsen in einer Fußnote vermerkte, dass im Herbst 1964, soweit ersichtlich, noch kein Vorlagebeschluss eines deutschen Gerichts ergangen gewesen sei.[128] Er richtete das Auge hier genau auf die Praxis und bemerkte eine Veränderung im Prozess des Anlaufens des indirekten Vollzugs.