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II. Die Umgestaltung des verwaltungsrechtlichen Erbes durch das Grundgesetz – insbesondere durch die unmittelbare Geltung der Grundrechte
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Grundrechte als unmittelbar geltende Verwaltungsrechtsquelle
Die von Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete unmittelbare Geltung der Grundrechte machte diese zu einer der wichtigsten Rechtsquellen des Verwaltungsrechts und führte zu einer weitgehenden Verrechtlichung des Verwaltungshandelns, vor allem durch zunehmende Bestimmtheitsanforderungen und Begrenzung behördlicher Entscheidungsspielräume.[54] Damit trat nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die bürgerschützende Funktion des Verwaltungsrechts in den Vordergrund rechtswissenschaftlicher Wahrnehmung: Die Allmacht der Verwaltung zu begrenzen und zugleich klarzustellen, dass „[d]er Staat […] um des Menschen willen da [ist], nicht der Mensch um des Staates willen“ (Art. 1 Abs. 1 HChE),[55] wurde als primäres Anliegen des Verwaltungsrechts verstanden, wobei Art. 19 Abs. 4 GG eine Schlüsselrolle zugesprochen wurde. Bis heute wird daher oft als zentrale Aufgabe des Verwaltungsrechts gesehen, die Verwaltung zum Schutz des Bürgers vor staatlicher Willkür (gerichtlich durchsetzbaren) Bindungen zu unterwerfen (und darüber hinaus ihre Tätigkeit zu legitimieren und zu rechtfertigen).[56]
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Funktionen des Verwaltungsrechts
Die dem Verwaltungsrecht unbestritten ebenfalls zukommende ermächtigende Funktion geriet hierdurch teilweise aus dem Blick.[57] Hierbei handelt es sich um die Funktion, einen rechtlichen Rahmen für die Erfüllung der verfassungsrechtlich, gesetzlich und regierungsseitig definierten Verwaltungsaufgaben zu bilden und die Verwaltung in einer Weise zu organisieren und mit Befugnissen und rechtlichen Instrumenten auszustatten, die sie in den Stand setzt, diese Aufgaben im Gemeinwohlinteresse zu erfüllen.[58] Insbesondere das Besondere Verwaltungsrecht lässt sich aber letztlich nur von seiner ermächtigenden Funktion her verstehen. Gerade hier wirken daher Traditionen aus der Zeit vor 1933 fort, etwa beim Polizei- und Ordnungsrecht,[59] beim Beamtenrecht,[60] beim Kommunalrecht,[61] beim Straßen- und öffentlichen Sachenrecht,[62] beim Gewerberecht[63] und beim Steuer-[64] und Sozialversicherungsrecht.[65]
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Subjektivierung des Verwaltungsrechts
Auch wenn die Traditionen aus der Zeit vor 1933 gerade in den genannten Bereichen des besonderen Verwaltungsrechts fortwirken, löste die unmittelbare Geltung der Grundrechte unter dem Grundgesetz jedoch sehr schnell aus, dass dieses besondere Verwaltungsrecht nicht mehr nur als die Summe von Regelungen verstanden werden konnte, welche die notwendigen Ermächtigungsnormen, Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen zur Erfüllung gesetzlich festgelegter Verwaltungszwecke bereitstellten.[66] Schon früh wurden seine Regelungen in erheblichem Umfang unter Rückgriff auf die Grundrechte in dem Sinne „subjektiviert“, dass Individualansprüche auf eine bestimmte Art und Weise der Aufgabenerfüllung gewährt und diese über Art. 19 Abs. 4 GG für gerichtlich durchsetzbar erklärt wurden.[67] Grundlegend war insoweit die Entscheidung des BVerwG vom 24.6.1954 zu dem aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip hergeleiteten Grundsatz, dass das damalige Sozialhilferecht (Armenfürsorgerecht) so zu verstehen sei, dass dort, wo das Gesetz dem Träger der Fürsorge zugunsten des Bedürftigen Pflichten auferlege, der Bedürftige entsprechende Rechte habe und daher gegen ihre Verletzung den Schutz der Verwaltungsgerichte anrufen könne.[68] Auf derselben Linie lag es, dass schon in den 1950er Jahren anerkannt war, dass sich ein Anspruch auf Erteilung einer berufszulassenden (ggf. gewerberechtlichen) Genehmigung jedenfalls aus Art. 12 Abs. 1 GG auch dann ergibt, wenn – wie im Gewerberecht üblich – das Gesetz lediglich die Gründe für eine Genehmigungsversagung aufführt, jedoch keinen expliziten Genehmigungsanspruch gewährt.[69] Revolutionär war auch das Urteil des BVerwG vom 18.8.1960, das erstmals einen Anspruch auf polizeiliches Einschreiten aus den Grundrechten herleitete und damit auch die Grundlage für die Bewältigung der Probleme mehrpoliger Verwaltungsrechtsverhältnisse legte.[70] Die praktische Relevanz der „Subjektivierung“ des Subventionsrechts durch die Rechtsprechung des BVerwG zu dem aus Art. 3 Abs. 1 GG hergeleiteten Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung ist ebenfalls erheblich: Sie führte zu Ansprüchen auf Gleichbehandlung nach den Vorgaben zuvor festzulegender Zuwendungsrichtlinien, obwohl aus der bloßen Bereitstellung von Fördermitteln im Haushaltsplan für sich allein keine Rechte der Subventionsempfänger folgen.[71]
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Neuausrichtung des Verwaltungsrechts der Bundesrepublik
Die unmittelbar anwendbaren und nach Art. 19 Abs. 4 GG „garantiert“ gerichtlich durchsetzbaren Grundrechte des Grundgesetzes setzten den Rahmen für die spätere Verwaltungsrechtsentwicklung der Bundesrepublik in einer Weise, die sich als umfassende Neuausrichtung des deutschen Verwaltungsrechts verstehen lässt. Es wurden bestehende verwaltungsrechtsdogmatische Institute (erheblich) umstrukturiert und neue Institute an das überkommene Verwaltungsrechtssystem auf- und angebaut, insbesondere neue Rechte des Bürgers gegenüber der Verwaltung anerkannt bzw. aus den unmittelbar geltenden Grundrechten (Art. 1 Abs. 3 GG) hergeleitet.[72] Dies alles baute jedoch auf den bereits vor 1933 anerkannten Instituten des Verwaltungsrechts auf. Entsprechendes gilt für die nach 1949 entwickelten Rechtsstaatsanforderungen sowie die Vorgaben für die demokratische Legitimation der Verwaltungstätigkeit. Wenn etwa der Vorbehalt des Gesetzes zunehmend ausgeweitet und verdichtet wurde, so geschah dies zwar zur Stärkung der demokratischen Legitimation der Verwaltung,[73] änderte aber nichts daran, dass der Vorbehalt des Gesetzes als „Rechtsfigur“ nach wie vor als „klassisches Produkt“ der konstitutionellen Monarchie erkennbar ist. Damit stammen wichtige Eckpfeiler des aktuellen deutschen Verwaltungsrechts auch aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie und des „obrigkeitsstaatlichen“ Denkens.[74] Diese Eckpfeiler tragen aber das heutige Gebäude immer noch erstaunlich sicher, sodass sie mangels tragfähiger Alternativen nicht vorschnell als obsolet gekennzeichnet werden sollten.[75] Öffentlich-rechtliche Institute können einen Funktionswandel erleben, der ihre Brauchbarkeit auch bei einem verfassungsrechtlichen Systemwechsel nicht in Frage stellt.[76] Von einer „veritablen Neugründung“ des deutschen Verwaltungsrechts nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zu sprechen,[77] ist daher nur dann zutreffend, wenn dieses Bild so verstanden wird, dass das bestehende Verwaltungsrecht auf das neue Fundament des Grundgesetzes „umgesetzt“ wurde.
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Systementscheidung für den subjektiven Rechtsschutz
Nicht zu verkennen ist jedoch auch, dass die angesprochene „Subjektivierung des Verwaltungsrechts“ durch die Art. 19 Abs. 4 GG entnommene „Systementscheidung für den subjektiven Rechtsschutz“[78] schon in den Anfangsjahren der Bundesrepublik zu einer starken Rechtsschutzzentrierung der Verwaltungsrechtswissenschaft führte: Das Verwaltungsrecht wurde „aus einem primär an die Verwaltung gerichteten exekutiv (und gubernativ) orientierten Recht (Recht der Verwaltung) zu einem individual- und zugleich gerichtsorientierten Recht“[79] und damit (auch) zu einer „Verwaltungsgerichtswissenschaft“.[80] Das Verwaltungsrecht wurde immer mehr auf das reduziert, was der Einzelne gerichtlich durchsetzen kann. Damit trat nicht nur das gestaltende Element jeder Verwaltungstätigkeit in den Hintergrund, obwohl gerade dieses Schwerpunkt der Regelungen der Verwaltungsverfahrensgesetze ist, die letztlich ein „Entscheidungsfindungsprogramm“ aufstellen.[81] Auch der objektive Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung scheint jedenfalls in der Wahrnehmung der Verwaltungsrechtswissenschaft ebenso an Bedeutung zu verlieren wie die zu seiner Sicherung existierenden Instrumente der Rechtsaufsicht,[82] des öffentlichen Dienstrechts (insbesondere des Remonstrationsrechts) und letztlich auch des Strafrechts. Bis heute wird vielfach eine Rechtsbindung der Verwaltung nur noch dort als gewährleistet angesehen, wo sie gerichtlich durchgesetzt werden kann. Nicht immer mitgedacht wird, dass subjektiv-öffentliche Rechte unabhängig von ihrer (drohenden) Durchsetzung durch den Rechtsinhaber Bestandteil des objektiven Rechts und daher – wie das objektive Recht schlechthin – von der Verwaltung von Amts wegen zu beachten sind.[83]