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III. Irreführender Schlüsselbegriff „öffentliche Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG
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Begriff der „vollziehenden Gewalt“ und der „öffentlichen Gewalt“ im Grundgesetz
In der ursprünglichen Fassung des Grundgesetzes verwendeten (nur) Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG den Begriff „vollziehende Gewalt“. Hiermit ist im Grundsatz jedes Staatshandeln gemeint, das nicht Gesetzgebung und Rechtsprechung ist.[84] Erst durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 19.3.1956[85] (Wehrverfassung) ist dieser Begriff auch für Art. 1 Abs. 3 GG übernommen worden. Die Ersetzung des bisher von Art. 1 Abs. 3 GG verwendeten Begriffs „Verwaltung“ durch den Begriff der „vollziehenden Gewalt“ sollte klarstellen, dass auch die neu geschaffene Bundeswehr an die Grundrechte gebunden ist.[86] Den Begriff „öffentliche Gewalt“ verwendet das Grundgesetz in seiner ursprünglichen Fassung dagegen ausschließlich in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG.[87] Warum hier – in Abweichung zu Art. 138 Abs. 1 HChE, der von „Anordnung oder Untätigkeit einer Verwaltungsbehörde“ sprach[88] – der Begriff „öffentliche Gewalt“ gewählt worden war, lässt sich den Materialien nicht entnehmen.[89]
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Staatshaftungsrechtliche Wurzeln des Begriffs „öffentliche Gewalt“
Vermutlich ist mit der Wahl des Begriffs „öffentliche Gewalt“ bei Art. 19 Abs. 4 GG jedoch (bewusst oder unbewusst) an den Wortlaut des Art. 131 Abs. 1 S. 1 WRV („Verletzt ein Beamter in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt […]“) angeknüpft worden. Art. 131 Abs. 1 WRV hatte diesen Begriff von Art. 77 EGBGB, dem preußischen Gesetz über die Haftung des Staates und anderer Verbände für die Amtspflichtverletzungen bei Ausübung der öffentlichen Gewalt vom 1.8.1909[90] und dem Gesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten vom 22.5.1910[91] übernommen.[92] Es handelte sich also um einen „gut eingeführten“, der damaligen Rechtsprechung und Literatur geläufigen Begriff. Der Annahme, dass Art. 19 Abs. 4 GG in Anlehnung an den Wortlaut des Art. 131 Abs. 1 WRV formuliert wurde, steht nicht entgehen, dass bei Art. 34 S. 1 GG der Begriff der „öffentlichen Gewalt“ gerade nicht mehr verwendet, sondern durch die Worte „in Ausübung eines öffentlichen Amtes“ ersetzt worden ist. Die Verwendung der Worte „in Ausübung eines öffentlichen Amtes“ sollte bei Art. 34 GG vor allem klarstellen, dass die Staatshaftung nicht nur bei „Befehl und Zwang“, sondern auch bei „Ausübung staatlicher Fürsorge“ eingreifen könne,[93] wie dies das Reichsgericht schon 1928 in Auslegung des Art. 131 Abs. 1 S. 1 WRV angenommen hatte.[94] Zudem sollte mit dieser neuen Formulierung zum Ausdruck zu kommen, dass auch die Ausführung rein tatsächlicher Verrichtungen (schlichthoheitliche Verwaltung) die Haftung nach Art. 34 S. 1 GG auslösen kann, selbst wenn diesen Verrichtungen isoliert betrachtet kein spezifisch hoheitsrechtlicher Charakter anhaftet.[95] Die unterschiedlichen Formulierungen in Art. 34 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sollten dagegen nicht dazu dienen, die Anwendungsbereiche dieser Garantien unterschiedlich zu bestimmen. Die Beratungen zu Art. 34 GG waren mit denen zu Art. 19 Abs. 4 GG nicht abgestimmt[96] und verliefen ungeordnet.[97] Später sind jedenfalls die „Weiterungen“, die das Reichsgericht beim „Gewaltbegriff“ des Art. 131 Abs. 1 WRV vorgenommen hat, auch auf den „Gewaltbegriff“ des Art. 19 Abs. 4 GG übertragen worden.[98] Hierdurch konnte trotz der unterschiedlichen Formulierungen von Art. 19 Abs. 4 und Art. 34 S. 1 GG ein (weitgehender) Gleichlauf der Anwendungsbereiche dieser Bestimmungen hergestellt werden.
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„Öffentliche Gewalt“ und Subordinationsverhältnis
Im vorliegenden Zusammenhang ist nicht entscheidend, welche Bedeutung den Begriffen der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG bzw. der „vollziehenden Gewalt“ in Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 2 und 3 GG „an sich“ zukommt. Entscheidend ist, dass die Verwendung des schillernden Begriffs der „öffentlichen Gewalt“ bzw. „vollziehenden Gewalt“ zum nicht weniger schillernden Begriff des „Hoheitsakts“ führt, der das Besondere des staatlichen Handelns (im Gegensatz zum Handeln Privater) umschreibt und im Verwaltungsrecht eng mit der Idee eines Subordinationsverhältnisses zwischen Staat und Bürger verknüpft ist.[99] Dies zeigt sich in der Diskussion zur Reichweite des Begriffs „hoheitsrechtlich“ in Art. 33 Abs. 4 GG, bei dem nur insoweit Einigkeit besteht, dass eine Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse jedenfalls dann vorliegt, „wenn Befugnisse zum Grundrechtseingriff im engeren Sinne […] ausgeübt werden, die öffentliche Gewalt also durch Befehl oder Zwang unmittelbar beschränkend auf grundrechtlich geschützte Freiheiten einwirkt“.[100]
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„Gewaltbegriff“ und BVerfG
Die Verwendung des „Gewaltbegriffs“ in Art. 1 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG ist jedenfalls auch ein Grund, weshalb sich in Rechtsprechung und Verwaltungsrechtswissenschaft erst sehr spät – letztlich erst seit den 2000er Jahren – die Erkenntnis durchsetzen konnte, dass die Verwaltung auch dann vollumfänglich an die Kompetenzordnung und allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsätze gebunden ist, wenn sie nicht mit Befehl, (unmittelbarem) Zwang oder in hoheitlicher „Ausübung staatlicher Fürsorge“ handelt, sondern zur Erfüllung ihrer Aufgaben in einer Art und Weise agiert, die dem Handeln Privater ähnelt, und auf Formen zurückgreift, die an sich auch Privaten zur Verfügung stehen.[101] Noch heute beschränkt das BVerfG den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG auf die Fälle „wo der Einzelne sich zu dem Träger staatlicher Gewalt in einem Verhältnis typischer Abhängigkeit und Unterordnung befindet“. Dies sei nicht gegeben, wenn der Staat als Nachfrager am Markt tätig werde, um seinen Bedarf an bestimmten Gütern oder Leistungen zu decken. Hier unterscheide er sich nicht grundlegend von anderen Marktteilnehmern. Auf seine übergeordnete öffentliche Rechtsmacht greife er bei einer Vergabeentscheidung nicht zurück, sodass kein Anlass bestehe, seine Maßnahme als Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG einzuordnen.[102] Indem so noch 2006 (!) der Begriff „öffentliche Gewalt“ eng verstanden und für die Eröffnung der Rechtsschutzgarantie letztlich ein Subordinationsverhältnis vorausgesetzt wurde, „erinnern [die Ausführungen des BVerfG] an ein Staatsverständnis, das schon als überwunden gelten durfte.“[103]
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Verlustliste des „Gewaltbegriffs“
Der „Gewaltbegriff“ des Art. 19 Abs. 4 GG verleitete die Verwaltungsrechtswissenschaft damit wohl dazu, sich bis heute auf die Bereiche klassischer Eingriffsverwaltung[104] zu fokussieren und sich mit der Leistungsverwaltung[105] vor allem insoweit zu befassen, wie dort die typischen Handlungsinstrumente der Eingriffsverwaltung – insbesondere der Verwaltungsakt – zum Einsatz kommen. Es besteht also nach wie vor eine starke Fixierung auf die Handlungsfelder der Verwaltung, die traditionell als von einem „Subordinationsverhältnis“ geprägt angesehen werden, auch wenn heute dieser Begriff vermieden wird. Diese Tendenz wird zudem auf die ebenfalls auf diesen Bereich fokussierten Verwaltungsverfahrensgesetze verstärkt[106] sowie dadurch, dass i. d. R. nur dasjenige Verwaltungshandeln in den Blick genommen wird, das der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte unterliegt.[107] Aufgrund dieser Perspektivenverengung sind bis heute ganze Felder des Verwaltungshandelns nur unzureichend rechtswissenschaftlich erschlossen.[108] Dies betrifft zunächst die Fälle faktischer staatlicher Leistungserbringung durch Bereitstellung von Informationen, Infrastrukturen, Einrichtungen oder die Organisation von Veranstaltungen. Diese Tätigkeiten werden selten als spezifische Form staatlicher (daseinsvorsorgender) Aufgabenerfüllung und damit als Fall der gestaltenden Verwaltung betrachtet. Sie geraten allein als Problem (öffentlich-rechtlicher) Abwehransprüche von Nachbarn, Mitbewerbern und anderen Betroffenen in den Blick von Rechtsprechung und Literatur und werden vor allem als Problem der rechtlichen Eingrenzung faktischer und mittelbarer Grundrechtseingriffe[109] und von Abwehr- und Folgenbeseitigungsansprüchen gesehen. Die Fälle, in denen die Verwaltung ihre Ziele auf Grundlage privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher gesetzlicher Ansprüche mittels einer Leistungsklage verfolgen will, werden – wenn überhaupt – allein unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Probleme der „Bürgerverurteilungsklage“ und der Frage nach dem Vorrang eines Handelns durch Verwaltungsakt untersucht.[110] Als besondere Handlungsform der Verwaltung zur Durchsetzung von Rechtspflichten des Bürgers werden sie selten verstanden.[111]
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„Gewaltbegriff“ und Grundrechtsbindung privatrechtlichen Verwaltungshandelns
Der von Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG verwendete „Gewaltbegriff“ hat vor allem aber auch zu einer sehr späten Anerkennung der umfassenden Grundrechtsbindung der öffentlichen Hand auch bei Verwendung privatrechtlicher Handlungsformen geführt.[112] Erst seit der Fraport-Entscheidung des BVerfG vom 22.2.2011[113] kann als gesichert gelten, dass jegliche Form verwaltender Tätigkeit, einschließlich der erwerbswirtschaftlichen und rein „fiskalischen“ Tätigkeit, umfassend an die Grundrechte gebunden ist. Hieraus folgt auch eine Bindung an die Zuständigkeitsordnung, das Haushaltsrecht und alle anderen öffentlich-rechtlichen Pflichten, die für den Staat und andere Verwaltungsträger unabhängig davon gelten, ob sie zusätzlich aus privatrechtlichen Vorschriften berechtigt und verpflichtet werden.[114] Erst seit der Fraport-Entscheidung ist damit letztlich anerkannt, dass es sich also auch bei der erwerbswirtschaftlichen und rein „fiskalischen“ Tätigkeit um Verwaltung handelt, die nicht Ausdruck einer staatlichen „Privatautonomie“, sondern der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben ist.[115] Dennoch hat das BVerfG die Konsequenz der Ausweitung des Begriffs der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 19 Abs. 4 GG auf alle Fälle auch privatrechtlichen Verwaltungshandelns bisher noch nicht gezogen.[116] Die seit den 1950er Jahren bestehende Unterscheidung zwischen „Fiskalverwaltung“ und „Verwaltungsprivatrecht“ mit (ursprünglich) unterschiedlichen Graden der Grundrechtsbindung[117] wird zudem begrifflich bis heute „fortgeschleppt“[118] und spielt auch in der einschlägigen Rechtsprechung der Fachgerichte noch eine erhebliche Rolle.[119] Dem entspricht, dass der privatrechtliche Verwaltungsvertrag trotz seiner immensen praktischen Bedeutung nach wie vor fast ausschließlich unter dem Blickwinkel der Abgrenzung der Anwendungsbereiche von öffentlichem Recht und Privatrecht[120] und nicht als besondere Handlungsform der Verwaltung verstanden und dementsprechend auch in den gängigen Lehrbüchern zum Verwaltungsrecht i. d. R. – wenn überhaupt – nur ganz kursorisch behandelt wird.[121]
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Ausweitung des „Gewaltbegriffs“
Die sich aus dem „Gewaltbegriff“ ergebende Fixierung der Verwaltungswissenschaft auf hoheitlich geprägte „Subordinationsverhältnisse“[122] führte in der jungen Bundesrepublik zu dem Paradox, dass bestimmte Verwaltungsrechtsverhältnisse, die vor 1949 nicht als Subordinationsverhältnisse verstanden worden waren, nach 1949 gleichsam in Subordinationsverhältnisse umdefiniert wurden, um so den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG und der besonderen materiellen und verfahrensrechtlichen bürgerschützenden Gewährleistungen zu eröffnen. Auch dies wirkt – trotz aller Kritik hieran in Teilen der Literatur – bis heute fort. Bereits in der etwas verlegen wirkenden Wortwahl von der „schlichthoheitlichen Verwaltung“ zur Bezeichnung faktischen und informalen Verwaltungshandelns kommt das zum Ausdruck.[123] In diesem Kontext ist aber die Entwicklung der Zwei-Stufen-Theorie[124] ebenso zu nennen wie die Diskussion über die Notwendigkeit, die Geschäftsführung ohne Auftrag der öffentlichen Hand gegenüber Privaten allein deshalb einzuschränken, weil die Behörde andernfalls die besonders bürgerfreundlichen Schutzvorschriften des Verwaltungsvollstreckungsrechts umgehen könne.[125] In eine ähnliche Richtung geht die Tendenz, die Probleme des vertraglichen Verwaltungshandelns vor allem darin zu sehen, dass der Bürger vor Machtmissbrauch durch die Verwaltung als überlegener Vertragspartner geschützt werden müsse.[126] Bis heute zeigt sich dies in dem vielfach verfolgten Bemühen, das für die sog. „subordinationsrechtlichen“ öffentlich-rechtlichen Verwaltungsverträge geltende besonders restriktive Regime des § 56 VwVfG und des § 59 Abs. 2 VwVfG durch eine weite Auslegung des § 54 S. 2 VwVfG auf (weitgehend) alle öffentlich-rechtlichen Verträge zwischen Staat und Privaten auszuweiten[127] und ihre Rechtsgedanken zudem auch auf privatrechtliche Verwaltungsverträge zu erstrecken.[128] Letztlich liegt auch der „traditionellen“ Lehre vom Verwaltungsprivatrecht, so wie sie in der Rechtsprechung praktiziert wird, dieser Gedanke zugrunde: Sie entwickelt über die zivilrechtlichen Generalklauseln für privatrechtliche Verwaltungsverträge ein „Sonderprivatrecht“, das der Verwaltung gegenüber ihren privaten Vertragspartnern nicht nur besondere Pflichten auferlegt, sondern sich auch zu Lasten des Privaten auswirken kann. Gerade damit wird die privatrechtliche formale Gleichordnung der Vertragspartner in diesen Fällen in Frage gestellt.[129]