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E. Max Weber und die deutsche Verwaltung im langen 19. Jahrhundert
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Rationale, berechenbare Vielfalt
Schon in den wenigen Perspektiven dieses Beitrags zeigt sich die große Vielfalt und situative Unterschiedlichkeit der Führung und des Arbeitens der deutschen Verwaltungen auf allen Ebenen. Max Weber kam durch sein umfassendes erkenntnisleitendes Interesse an sozial bedingten Ausprägungen der Einstellung der Menschen zum Leben, insbesondere an deren „rationalen“ Formen, immer wieder auch darauf, Ungleichheitsbeziehungen in Herrschaftsverhältnissen zu thematisieren. Er verband die Typen der patrimonialen, bürokratischen und charismatischen Herrschaft stets mit ihren regelhaften Ausprägungen in konkreten Realitäten, und dafür stand besonders die Verwaltung in seiner Zeit. „Die rein bureaukratische, also: die bureaukratisch-monokratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung.“[100] Damit bezog Weber die höchste Rationalität der Institution Verwaltung immer noch auf einen vormodernen, ja patrimonialen „Herrn“. Er vertrat eine abstrahierte Sicht auf einen Idealtypus, dessen Realitäten schon sehr viel unterschiedlicher waren. Zwar sind Verlässlichkeit und Berechenbarkeit unerlässlich auch als Pfeiler einer Rechtsordnung, doch zeigte sich in der Rechtsanwendung des 19. Jahrhunderts ein buntes Bild von Zielen, Verfahrensweisen, Aushandlungen und Wirkungen, in dem es stets auch Freiräume individuellen Handelns auf allen Ebenen gab.
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„Hörigkeit der Zukunft“
In der Zuspitzung der deutschen Politik im Drei-Kanzler-Sommer 1917 engagierte sich Max Weber tagespolitisch in der Frankfurter Zeitung mit sehr kritischen Aufsätzen. Für ihn fehlte in Deutschland eine politische Führung, die wertegeleitet Entscheidungen für die Zukunft treffen konnte. Dabei zeichnete er ein sehr viel düstereres Zukunftsbild bürokratischer Herrschaft als in der klassischen Variante seiner Gedanken. „Eine leblose Maschine [in Fabrik und Arbeitsleben] ist geronnener Geist. […] Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamten-Verwaltung und -Versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll.“[101] Verweist dieses Schreckbild „technisch guter, rationaler Beamtenversorgung“ auf Ernst Forsthoffs Volksgenossen (nicht etwa: alle Menschen) oder überhaupt auf eine Welt voller Daseinsvorsorge, in der die bloße Teilhabe an Leistungen, die das nackte Überleben sichern, zum neu zu organisierenden Ziel von Allem wird?