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B. Verwaltung und Reichsverfassung
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Verwaltung und Freiheit
Das Lob der Verwaltung gegenüber der Verfassung findet sich auch im deutschen Kontext. Dass „Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung“ beruht, ist der Schlusssatz der 1868 erschienenen „Betrachtungen über die Verfassung des Norddeutschen Bundes“ des Staatsrechtlers Ferdinand von Martitz,[18] der sich auf den Bonner Historiker Barthold Georg Niebuhr bezog. Diese Aussage war ihrem Sinn nach im gesamten 19. Jahrhundert verbreitet. Martitz hatte korrekt Niebuhrs Vorrede zu der „Darstellung der inneren Verwaltung Großbritanniens“ des preußischen Oberpräsidenten Ludwig Freiherr von Vincke zitiert.[19] In seinen Bonner Vorlesungen im Sommer 1829 hatte Niebuhr erklärt, dass Freiheit von der „Administration […] weit mehr als von der Gesetzgebung abhängt.“[20] Auch bei Otto Mayer ist die Rolle der Verwaltung als Garant der Freiheit immer mitzulesen, der hier eigene Erfahrungen einbringen konnte. „Frankreich hat in einem Jahrhundert drei- bis viermal seine großen kirchenpolitischen Systeme gewechselt“, stellte 1929 Wilhelm Kahl etwas arrogant fest.[21] In Elsass-Lothringen, wo Mayer von 1872 bis 1903 lebte und auch in der Verwaltung der evangelischen Landeskirche engagiert war,[22] war im Deutschen Reich das napoleonische Religionsrecht der articles organiques vom 18. germinal an X (8. April 1802) in Geltung geblieben. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte der spätere Marschall Joseph Joffre aus propagandistischen Gründen angekündigt, das elsass-lothringische Religionsverfassungsrecht auch nach einem Sieg unangetastet zu lassen, was auch geschah und 1925 durch Édouard Herriot als Regierungschef feierlich bestätigt wurde.[23] Insofern war die Aussage von Mayer aus einer doppelten Straßburger Perspektive heraus getroffen worden.
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Unitarisierung und „Verreichlichung“
Im Vorfeld der Entstehung der WRV wurde parteiübergreifend ein Verfassungswechsel über die (ohnehin nicht mehr revidierbare) Änderung der Staatsform hinaus mit Auswirkungen auf die Verwaltung gewünscht.[24] Der Föderalismus hatte nach verbreiteter Ansicht mit der Monarchie seine wichtigste Grundlage verloren, sodass „Unitarisierung“ und „Verreichlichung“ ersterbt wurden.[25] Ein Merkmal der Verfassung von 1871, formal ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen souveränen Fürsten, war die schwache Reichseigenverwaltung. Verwaltung war im Wesentlichen Sache der Länder, die Reichsministerien, die offiziell „Ämter“ hießen, waren klein und überschnitten sich mit preußischen Ministerien. Das tatsächliche und durch die Verfassung sanktionierte Übergewicht Preußens galt als weiterer Mangel.[26] Nicht nur der zeitweilige Reichsinnenminister Hugo Preuß hatte die Abschaffung Preußens zugunsten einer Aufwertung seiner Provinzen bei staatsrechtlicher Herabstufung der Länder gefordert. Für den Erhalt Preußens wurde von nichtpreußischen Stimmen die Leistungsfähigkeit seiner Verwaltung aufgeführt, wäre doch, so der Leipziger Staatsrechtler und Otto-Mayer-Schüler Erwin Jacobi 1919, „der preußische Staat als einziger Großstaat mit den vollen Traditionen einer großen Verwaltung den übrigen Ländern viel zu sehr überlegen.“[27] Nüchterner, aber keineswegs weniger nachhaltig, hatte der preußische Justizminister Wolfgang Heine (SPD) am 19. März 1919 im Verfassungsausschuss formuliert: „Der jetzige Zeitpunkt des Zusammenbruchs ist der ungeeignetste für große politische Experimente.“[28] Die WRV vom 11. August 1919 war gegenüber der RV weniger föderal, von einem Zentralstaat aber weit entfernt; die Ländergrenzen waren mit Ausnahme der Gebietsverluste fast unverändert geblieben, selbst eine nach dem Suizid des letzten Großherzogs von Mecklenburg-Strelitz im Februar 1918 beabsichtigte Vereinigung beider Mecklenburg blieb aus.[29] Mit dem Freistaat Coburg war kurzzeitig sogar ein weiterer Staat hinzugekommen, da die Personalunion von Sachsen-Gotha und Sachsen-Coburg ohne Monarchie ihre Grundlage verloren hatte. Zwar hatte Art. 18 Abs. 1 WRV („Die Gliederung des Reichs in Länder soll unter möglichster Berücksichtigung des Willens der beteiligten Bevölkerung der wirtschaftlichen und kulturellen Höchstleistung des Volkes dienen“) eine territoriale Neugliederung als Ziel abgesteckt, doch diese war in die Zukunft verschoben worden. Allerdings waren die Verhandlungen der thüringischen Kleinstaaten fortgeschritten, sodass der „Gemeinschaftsvertrag“ zur Bildung des neuen Landes „Thüringen“ zwischen dem 22. September und 5. November 1919 von den Landtagen ratifiziert werden konnte.[30]
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Reich und Länder
Im Kern blieb der Dualismus von Reichs- und Länderverwaltung bei grundsätzlicher Landesverwaltung unverändert. Art. 14 WRV bestätigte pointiert die RV: „Die Reichsgesetze werden durch die Landesbehörden ausgeführt, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmen.“[31] Fritz Stier-Somlo fasste die an sich eindeutige Bestimmung zusammen: „Somit ergibt sich, daß die Verwaltung auf Grund der Landesgesetze ebenso Landessache ist wie die Verwaltung auf Grund der RVerf., soweit nicht Ausnahmen vorgesehen sind.“[32] Auch Art. 15 Abs. 2 WRV, eine Ermächtigung der Reichsregierung „allgemeine Anweisungen“ an die Landesbehörden zur Ausführung der Reichsgesetze zu erlassen und zu überwachen, bestätigte die RV.[33] Neu war die Soll-Bestimmung Art. 16 WRV, für die „unmittelbare Reichsverwaltung in den Ländern“ „in der Regel Landesangehörige“ einzusetzen und „Beamte, Angestellte und Arbeiter der Reichsverwaltung“ grundsätzlich „in ihren Heimatgebieten“ zu verwenden „soweit dies möglich ist.“ Das war kein subjektives Recht, aber aufschlussreich; bei der „Verreichlichung“ sollten den süddeutschen Staaten Bayern und Württemberg, um die es faktisch ging, „preußische Beamte“ erspart werden.[34] Eine echte Neuerung im Sinne der Unitarisierung war der sechste Abschnitt „Reichsverwaltung“; der RV hatte ein vergleichbarer Abschnitt gefehlt, was der Intention Otto von Bismarcks entsprach, die Reichseigenverwaltung auf wenige Bereiche (Auswärtige Beziehungen, Kolonien, Reichspost, Marine) zu beschränken. Faktisch hatte diese aber kontinuierlich zugenommen,[35] neue Reichsbehörden wie das Kaiserliche Patentamt waren entstanden.[36] Art. 78 WRV erklärte „Beziehungen zu den auswärtigen Staaten“ zu ausschließlichen „Sache des Reichs“, Art. 79 WRV die „Verteidigung des Reichs“ zur „Reichssache“ bei einer mit Art. 16 WRV korrespondierenden Klausel zur „Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Eigenheiten.“ Art. 80 WRV, der das „Kolonialwesen“ zur alleinigen Reichssache erklärte, entsprach der RV, war aber in Ermangelung von Kolonien „gegenstandslos“ geworden;[37] die Bestimmung war bezeichnend für die Verfassungsberatungen im „Traumland der Waffenstillstandsperiode.“[38] Die wichtigste Zäsur der Verwaltung zwischen Kaiserreich und Republik markierte Art. 83 Abs. 1 WRV: „Die Zölle und Verbrauchssteuern werden durch Reichsbehörden verwaltet.“ Entsprechende Behörden waren im Abs. 2 vorgeschrieben, zudem Einrichtungen, „die den Ländern die Wahrung besonderer Landesinteressen auf dem Gebiete der Landwirtschaft, des Handels, des Gewerbes und der Industrie ermöglichen.“ Das sollte den entmachteten Ländern „weitreichende Garantien gegen eine einseitig zentralistische, berechtigte partikulare Interessen mißachtende Handhabung der Reichsfinanzverwaltung“ geben.[39] Ergänzend ermächtigte der „infolge eines Irrtums stehengebliebene“[40] Art. 84 WRV das Reich, durch Reichsgesetz Vorschriften über „Einrichtung und Befugnisse der mit der Beaufsichtigung der Ausführung der Reichsabgabengesetze betrauten Behörden“ zu treffen. Art. 88 WRV erklärte „Post- und Telegraphenwesen samt dem Fernsprechwesen“ zur ausschließlichen Reichssache, wobei die RV konsequent fortgeschrieben wurde, indem bayerische und württembergische Postreservate fortfielen. Sprachlich mehrdeutig normierte Art. 89 WRV die „Aufgabe des Reichs“, die „dem allgemeinen Verkehre dienenden Eisenbahnen in sein Eigentum zu übernehmen und als einheitliche Verkehrsanstalt zu verwalten“, Art. 97 WRV entsprechend für „die dem allgemeinen Verkehre dienenden Wasserstraßen“ und Art. 101 WRV für „Seezeichen, insbesondere Leuchtfeuer, Feuerschiffe, Bojen, Tonnen und Baken.“ Stichtag war der 1. April 1921.
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Der zweite Hauptteil
Auch der zweite Hauptteil der WRV[41] enthielt Bestimmungen zur Verwaltung. Art. 113 WRV, wonach die „fremdsprachigen Volksteile des Reichs“ nicht im „Gebrauch ihrer Muttersprache“ auch „bei der inneren Verwaltung“ benachteiligt werden dürfen, gewährte kein subjektives Recht und war auch mangels Anwendungsfällen kaum relevant.[42] Die Sorben in der sächsischen und preußischen Lausitz, deren Sprache offiziell nur in Schule und Kirche begrenzt Verwendung finden durfte, galten nicht als „fremdsprachiger Volksteil“;[43] doch überwachte sie eine eigene Behörde, die 1920 eingerichtete „Wendenabteilung“ bei der Kreishauptmannschaft Bautzen.[44] Art. 126 WRV normierte das Petitionsrecht jedes Deutschen, „sich schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständige Behörde oder an die Volksvertretung zu wenden.“ Ein in Art. 127 WRV für „Gemeinden und Gemeindeverbände“ normiertes „Recht der Selbstverwaltung innerhalb der Schranken der Gesetze“ wurde zunächst nur deklaratorisch verstanden.[45] Art. 129 bis 131 WRV regelten die Rechte der Beamten unter besonderer Akzentuierung ihrer „wohlerworbenen Rechte“ (Art. 129 Abs. 1 WRV); damit wurde letztlich auch Kontinuität der Verwaltung normiert. Art. 137 WRV beseitigte letzte Reste des Staatskirchentums, indem jeder „Religionsgesellschaft“ selbstständige Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten garantiert wurde; andererseits sollten die Religionsgesellschaften „Körperschaften des öffentlichen Rechtes“ bleiben, „soweit sie solche bisher waren.“ Die bis heute unverändert gültige Bestimmung war paradigmatisch für die „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche und schuf die Grundlage einer öffentlichen Tätigkeit der Kirchen.[46] Art. 143 Abs. 1 WRV schrieb zur „Bildung der Jugend“ ausdrücklich „öffentliche Anstalten“ vor und enthielt Vorgaben zur staatlichen Schulaufsicht (Art. 144 WRV) und der akademischen Vorbildung der Lehrer sowie ihrem Rechtsverhältnis als Beamte (Art. 143 Abs. 3 WRV), mithin ein Rahmenprogramm der staatlichen Bildungsverwaltung, die in die Zuständigkeit der Länder fiel. Art. 144 WRV schrieb eine Schulaufsicht durch „hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte“ vor. Nicht immer waren im zweiten Hauptteil Konsequenzen für die Verwaltung auf den ersten Blick zu erkennen. Das galt für Art. 161 WRV, der zur „Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens“ dem Reich auch „ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten“ vorschrieb. Im Art. 165 WRV, der „Verankerung der Räte in der Verfassung“,[47] hätte der Kern einer Wirtschaftsbürokratie liegen können; verwirklicht wurden die nur bedingt der Verwaltung zuzurechnenden Betriebsräte mit dem Betriebsrätegesetz 1920[48] und der Reichswirtschaftsrat.[49] 1919 wurde eine „bürgerliche“ Verwaltung bestätigt und sozialistischen Experimenten eine Absage erteilt.