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Ein Adventsgottesdienst

Einführung

Im Prolog seines Romans „Wir in Kahlenbeck“ (2012) beschreibt Christoph Peters einen Gottesdienst in dem fiktiven Ort Henneward an der deutsch-holländischen Grenze, an dem auch die Schüler des „Collegium Gregorianum Kahlenbeck“ teilnehmen. Es ist ein katholisches Internatsgymnasium für Jungen – angelehnt an das reale „Collegium Augustinianum Gaesdonck“ (bei Goch), wo Peters selbst Schüler war. Der Roman ist zeitlich in den 1980er-Jahren angesiedelt, die Schüler, die in ihm eine wesentliche Rolle spielen, gehören den oberen Klassen an, der Protagonist Carl Pacher ist knapp 15. Er interessiert sich für Fische, aber auch für Theologie, ist fromm erzogen und leidet unter dem Verhalten seiner Mitschüler in diesem ausführlich beschriebenen adventlichen Gottesdienst, zugleich auch an seiner eigenen Unfähigkeit, dem etwas entgegenzusetzen.

Es ist eine ganze Reihe von Beispielen schlechten Verhaltens der Schüler im Gottesdienst, die in diesem Prolog geschildert werden: lautes Reden miteinander während der ganzen Zeit; Anrempeln und Treten anderer Schüler sogar beim Kommuniongang; Popeln in der Nase und Wegschnippen des Popels; Furzen und Spucken; Kaugummi-Kauen; Verunglimpfen von liturgischen Texten durch Parodieren und Zitieren anderer Lieder; Ablehnen des Mitsprechens der Gebete; lautes Lachen – insgesamt eine sich durchziehende Ehrfurchts- und Rücksichtslosigkeit.

Die Erwachsenen aus dem Ort, die an diesem Gottesdienst teilnehmen, benehmen sich teilweise ebenfalls schlecht: Die Männer stehen überwiegend im Vorraum unter dem Turm, einige gehen während des Gottesdienstes vor die Kirche, rauchen und unterhalten sich dort über Schweinepreise und die Schließung der Molkerei. „Was ihre Söhne tun, haben sie auch schon getan“, schreibt Peters. Selbst der Priester gibt kein gutes Bild ab, er kratzt sich, während er das Evangelium verkündet, mit ausgestrecktem Zeigefinger im Ohr. Und: Keiner der Erwachsenen schreitet bei dem störenden Verhalten der Schüler ein.

Natürlich geschieht das alles nur im Roman und nicht in der Wirklichkeit. Aber von der Wirklichkeit ist diese Beschreibung nicht allzu weit entfernt, wie ich es von meinem eigenen Erleben als Schüler im Internat und später als Präfekt in einem Seminar her weiß. Vielleicht ist es ein bisschen viel für einen Gottesdienst; Christoph Peters hat hier, wie er mir bestätigte, seine eigenen jahrelangen Erfahrungen aus verschiedenen Gottesdiensten während der Internatszeit zusammengetragen und zu dieser Szene komponiert.

Ich habe die Schilderung dieses Gottesdienstes als Einstieg in das Buch gewählt, weil in diesem Prolog nicht nur verschiedene Formen schlechten Benehmens zur Sprache kommen. Es wird vielmehr deutlich, dass die Fragen nach dem angemessenen Verhalten nicht nur die Gemeinde in den Kirchenbänken betrifft, sondern auch die liturgischen Dienste. Und es stellt sich die Frage danach, wer eigentlich zuständig ist, dass es ein dem Gottesdienst angemessenes Verhalten gibt.

Diesen und anderen Aspekten möchte ich in diesem Buch nachgehen. Es ist keine durchgängige Geschichte schlechten Benehmens, die es im Sinne einer Entwicklung nicht gibt. Vielmehr möchte ich einzelnen Phänomenen nachspüren und sie einordnen.

Dabei muss man auch den konfessionellen Kontext berücksichtigen; bisweilen kommen einem die Gebräuche in anderen Kirchen fremd, sonderbar, vielleicht auch unehrfürchtig vor, verglichen mit den eigenen Praktiken. Das ging vor allem Reisenden in früheren Jahrhunderten so, wenn sie Kirchen und Gottesdienste in anderen Ländern besuchten und sich über manche Verhaltensformen wunderten. Die jeweilige theologische Einschätzung des gottesdienstlichen Raumes spielt dabei eine wichtige Rolle und damit die Frage, was in ihm möglich und erlaubt ist und was nicht.

Weiterhin sind die Zeitumstände ein wichtiger Faktor: Ein kirchlicher Raum war allein durch seine Größe im Mittelalter und später noch von ganz anderer Bedeutung in der Lebenswelt der Menschen als heute. In Zeiten, in denen es noch keine Kirchenbänke gab, war eine größere Bewegung in den Räumen möglich, was auch zur Un-Ordnung beitragen konnte. Die katholische Messe wurde jahrhundertelang mit dem Rücken zum Volk zelebriert, was sicher nicht zu dessen Disziplinierung beitrug. Auch die Licht- und Sichtverhältnisse waren früher nicht so wie heute; es gab mehr dunkle Nischen hinter Säulen und in Seitenkapellen, die unangemessenem Verhalten Raum gaben. Schließlich wurde der katholische Gottesdienst bis Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend auf Latein gehalten, die Gläubigen waren gar nicht in der Weise beteiligt, wie das heute der Fall ist. Auch das spielte für das Verhalten eine Rolle.

Wie an dem literarischen Gottesdienst von Christoph Peters gut zu sehen ist, neigen bestimmte Gruppen und Altersstufen vielleicht eher zu schlechtem Benehmen in der Kirche. Auch werden Gottesdienste zu besonderen Anlässen oft von Menschen besucht, die keinen unmittelbaren Zugang zum liturgischen Geschehen haben und sich mit einem angemessenen Verhalten eher schwertun. Allerdings können, wie ebenfalls an dem Beispiel zu erkennen ist, auch die liturgischen Hauptakteure, die Dienste, zu schlechtem Benehmen neigen, was doppelt schwer wiegt, weil sie doch eigentlich anderen ein Vorbild sein sollen. Denn wer gibt Hinweise zum Benehmen im Gottesdienst und in der Kirche und wie werden die Gläubigen oder auch die Besucher einer Kirche denn über angemessenes Verhalten informiert und aufgeklärt? Und welche Folgen, unter Umständen Sanktionen, zieht falsches Verhalten nach sich?

Und es geht natürlich auch um die Frage nach den Hintergründen unpassenden Benehmens: Geschieht es aus Unwissenheit oder religiösem Desinteresse, steckt Auflehnung gegen die (kirchliche) Obrigkeit bzw. gesellschaftliche Normen dahinter oder einfach nur menschliche Schwäche? Inwieweit trägt auch die Liturgie selbst dazu bei, dass Menschen sich nicht der Feier entsprechend verhalten?

Über schlechtes Benehmen im Gottesdienst erfährt man nur selten etwas aus liturgiewissenschaftlicher Literatur – eher aus katechetischen, pastoraltheologischen oder religionspädagogischen Arbeiten, oft aus früherer Zeit, aber auch aus historischen und kulturanthropologischen Darstellungen. Es lässt sich indirekt aus kirchenamtlichen Äußerungen und oberhirtlichen Dekreten sowie Kirchenordnungen ablesen, es wird in Predigten und Katechismen angemahnt und in Beichtspiegeln erfragt. Frühere Verhaltensweisen lassen sich auch aus bildlichen Darstellungen von Kirchenräumen und den in ihnen agierenden Menschen ablesen. In heutiger Zeit geben oft diverse Piktogramme an Kirchentüren und Verhaltenshinweise in den Kirchen Aufschluss über ein (nicht) erwünschtes Verhalten, wie auch zahlreiche Ratgeber zum Verhalten in Kirchen und Gottesdiensten („Kirchen-Knigge“). Über unangemessenes Benehmen kann man auch immer wieder in Zeitungen und anderen Medien lesen.

Angesichts des weiten Feldes schlechten Benehmens in der Kirche und im Gottesdienst über die Jahrhunderte hinweg kann dieses Buch nur einen Streifzug bieten, Phänomene aufzeigen, Hintergründe andeuten, Anregungen geben. Auf Anmerkungen wurde verzichtet, zitierte Literatur wird im Text selbst genannt bzw. im Anhang aufgeführt.

Im Sinne der Illustration sind nicht nur Bilder, sondern gelegentlich auch Zitate aus belletristischer Literatur eingefügt, die mit einem entsprechenden Hinweis gekennzeichnet sind.

Gekennzeichnet sind ebenfalls Zusendungen zum Projekt „Schlechtes Benehmen im Gottesdienst“ des „Instituts für Liturgie- und Alltagskultur“, mit denen die Ausführungen des Textes durch persönliche Schilderungen konkretisiert werden. Für sie bedanke ich mich herzlich.

„Schlechtes Benehmen im Gottesdienst“ gehört zu den Themen aus dem Grenzbereich zwischen Liturgie und Alltag, mit denen ich mich an der Universität Würzburg in den letzten Jahren verschiedentlich befasst habe. Auf das Phänomen des angemessenen Verhaltens stieß ich dabei öfter: im Zusammenhang etwa mit „Heiligabend“, „Fronleichnam“ – besonders aber bei dem Thema „Essen und Trinken im Gottesdienst und in der Kirche“, bei dem es um liturgische Mahlfeiern und Mahlzusammenhänge im Laufe der Geschichte ging. Deshalb soll auch das vorliegende Buch seinen Platz in der Reihe „Liturgie & Alltag“ haben. Für einen Druckkostenzuschuss des Bistums Hildesheim möchte ich mich herzlich bedanken.

Zum Bild auf dem Cover

Das Bild zeigt einen Ausschnitt des Gemäldes von Emanuel de Witte „Das Innere der Oude Kerk in Delft“ (um 1650). Dass die Männer und Knaben Hüte tragen, ist für die Zeit und die Niederlande nicht ungewöhnlich; das war kein schlechtes Benehmen, sondern Ausdruck der anderen Einstellung gegenüber dem Kirchenraum sowie der politischen Freiheit. Auch Hunde waren damals kein seltener Anblick in Kirchen. Der das Bein hebende Hund sowie die an die Säule kritzelnden Buben sind aber womöglich bewusst ins Bild gesetzt worden, um beim Betrachter die Reaktion „So etwas macht man doch nicht!“ hervorzurufen.

Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche

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