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Unterschiedliche „Grußriten“

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Der Liturgiewissenschaftler Franz Kohlschein hat sich 1991 in einem Artikel damit befasst, „wie die Gemeinde zusammenkommt“, und das Verhalten der Gläubigen beim Betreten der Kirche in den Blick genommen – auch in den verschiedenen Konfessionen. Es wird aus seiner Darstellung deutlich, dass das Betreten der Kirche zum Gottesdienst mehr ist als ein Hereinkommen. Das Verhalten der Gläubigen wird durch ein ausgeprägtes Brauchtum bestimmt, das sich aus einer Folge von Handlungen zusammensetzt, die vom Betreten der Kirche bis zum Einnehmen des Platzes reicht. „Man kann sie als ‚Grußritus‘ verstehen, der eine doppelte Richtung aufweist. Er wendet sich auf der vertikalen Ebene des Betens Gott zu, auf der horizontalen Ebene des Miteinanders den Anwesenden.“ Zu den überkommenen Formen, die vor allem auf die Verehrung des Heiligen ausgerichtet waren (z. B. Mütze abnehmen, Weihwasser nehmen, sich bekreuzigen, Kniebeuge, Hinknien, stilles Gebet am Platz), kommen heute neue hinzu, die eher kommunikativ sind (Grüßen der Bekannten, Gespräch auch in der Bank, Lesen des Pfarrbriefes o. Ä.). Manche der älteren Verhaltensformen sind nach Kohlscheins Beobachtung im Schwinden begriffen oder haben sich in Richtung der horizontalen Kommunikation verändert. Diese Beobachtung macht auch ein Pfarrer, der in einer E-Mail schrieb:

Nichts dagegen, wenn sich Nachbarn, Freundinnen usw. begrüßen, aber muss man wirklich lautstark den Ratsch, der eigentlich vor der Kirchentüre seinen Platz hätte, bis zum Glockenzeichen ausdehnen? Übrigens: Dass der Herr im Tabernakel von den Hereinkommenden gegrüßt würde (durch eine Kniebeuge und ein kurzes Gebet), ist mehr und mehr rückläufig. […] Setzen Sie sich mal 20 Minuten vor einer Sonntagsmesse an die Emporenbrüstung und schauen Sie den Hereinkommenden zu: Sie werden den Mund nicht mehr zubringen! Was ist da seit den 50er Jahren katechetisch falsch gelaufen? (A. W. – 18. 8. 2019)

Eine Änderung der „Grußriten“ beim Betreten des Gottesdienstraumes konstatiert der Pastoralliturgiker Michael Meyer-Blanck auch für die evangelische Kirche (Inszenierung des Evangeliums, 1997). Das Nehmen von Weihwasser und Sich-Bekreuzigen ist hier ohnehin nicht üblich; hingegen findet man die stille Sammlung im Stehen, bevor man den Platz in der Bank einnimmt. Aber auch das sieht er im Schwinden begriffen, das stille Gebet am Bankplatz (vor dem Hinsetzen) ist nicht mehr selbstverständlich. „Alles Äußere steht im Verdacht, nur äußerlich zu sein, und in der religiösen Erziehung werden äußere Formen vernachlässigt.“ Dies wird auch von anderer Seite her bestätigt; der Verhaltenswissenschaftler Parvis H. Falaturi schreibt über den Gruß in Richtung Altar vor dem evangelischen Gottesdienst: „In manchen Kirchen fällt er ganz weg, und die Gottesdienstbesucher gehen in ihre Bankreihe, setzen sich in die Bank und harren der Dinge, die da kommen“ (Das Geschehen am Altar, 2014).

Tendenziell scheint die Ausrichtung auf das Heilige nicht mehr so sehr im Vordergrund zu stehen, wie es früher noch üblich war und wie es kirchlicherseits gewünscht wird. „Der sündige Mensch, der sich Gott nähert“, wie es Meyer-Blanck zusammenfasst: In diesem Bewusstsein gehen heute viele Menschen nicht mehr zum Gottesdienst. Man nimmt ihn eher als eine fromme Veranstaltung wahr, oder eben, wie es Falaturi ausdrückt: Man harrt der Dinge, die da kommen – ähnlich wie im Theater.

Im orthodoxen Gottesdienst steht ebenfalls die Ausrichtung auf das Heilige im Vordergrund, wie es das genannte „Orthodoxe Glaubensbuch“ in Bezug auf das Verhalten in der Kirche beschreibt: Kreuzzeichen und Verehrung der Ikonen, evtl. auch das Aufstellen und Entzünden einer Kerze gehören dazu. Die Hinwendung zu anderen Menschen ist dennoch nicht ausgeschlossen: „Nachdem Sie die heiligen Ikonen verehrt haben, können Sie Bekannte begrüßen und ihnen zum Festtag gratulieren, wenn gerade kein Gottesdienst stattfindet.“ Nichtorthodoxen Gästen und Gläubigen, die mit den Riten nicht vertraut sind (und dadurch auffallen), wird gern geholfen, wobei man ihnen auch die „korrekte“ Bekreuzigung und Verneigung zeigt.

Kleine Geschichte des schlechten Benehmens in der Kirche

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