Читать книгу Rufe in die Wüste - Gunter Preuß - Страница 10
7. An Unmögliches glauben (1985)
ОглавлениеDa saß ich nun in einem Auto des Kinderbuchverlages, das sich auf dem holprigen Weg von Berlin nach dem mir nur vom Hörensagen bekannten Carwitz befand. Es muss Anfang der Siebzigerjahre gewesen sein. Ich war dreißig Jahre alt, ein erwachsener Mann also, und doch saß ich scheu zwischen zwei Lektorinnen, die heiter und gelassen plauderten und manchmal das Wort an mich richteten, ohne mir mehr als ein "Ja" oder "Nein" entlocken zu können.
Meine Unsicherheit hatte zwei Ursachen. Ich hatte, seit ich lesen konnte, viele Bücher der Trivial- und Weltliteratur verschlungen; aber von Literatur – wie sie denn zu machen sei – hatte ich kaum eine Ahnung. Ich hatte vor einigen Jahren zu schreiben begonnen, weil Fragen mich bedrängten, auf die ich im Alltag keine Antwort fand. Damals hatte ich noch nicht entschieden, ob ich mit dem Schreiben diese Fragen unterdrücken oder aber andere Menschen daran teilhaben lassen wollte.
Die zweite Unsicherheit, die mich bis heute – nach mehreren „Carwitzer Gesprächen“ - nicht ganz verlassen hat, ist die enge Verbundenheit des Ortes mit Hans Fallada. Das Leben des Schriftstellers – so liebenswert mir einige seiner Bücher sind -, das sich so oft auf schmalem Grat über Abgründen bewegte, hat für mich Unbegreifliches, Abstoßendes wie Verlockendes; es erscheint mir als verzweifelter Tanz zwischen Licht und Dunkelheit, als eine Art Sinnbild menschlichen Lebens, das zugleich lächerliche wie heldenmütige Ringen um das Unmögliche. Ich war jung damals. Mein Leben war von Idealen bestimmt, die sich noch nicht als Illusion erwiesen hatten. Der Zweifel, das Düstere, die Niederlage und die Biografie eines Verfalls sollten in meinem Leben keinen Platz finden.
Und nun – Carwitz. Ein Ort der Stille. Wie von einem müden Weisen zu seiner Erholung und Erbauung geschaffen. Sanft ansteigende Wege. Alte, einem einfachen Leben dienliche Häuser. Bäume, deren Kronen der Erde zuwachsen. Seen, die mich in Morgenstunden glauben ließen, dass sie zu begehen wären. Wiesen, in denen man nach alten Träumen hascht. Ein Himmel, weit, aber so weit und tief nicht, dass man sich darin verlieren könnte.
Solche Landschaften bezaubern mich, sie lassen mich träumen von einem Leben hier, zwei, drei Tage lang; dann muss ich erkennen, dass ich in ihnen nicht dauern kann. Ich denke, in solcher Umgebung lebt nur der lange, der sich nicht mehr suchen muss. Das sind entweder sehr einfache Leute – oder eben Weise, die vielleicht auch nur Gleichgültige sind.
Ich kann mir Fallada in dieser Landschaft schwer vorstellen. Er war weder ein unkomplizierter Mensch, noch war er ein Weiser, und ein Gleichgültiger war er schon gar nicht.
Ich weiß nicht wirklich, wie er hier gelebt hat. Ich habe auch bei meinen Carwitzer Aufenthalten keine Einsicht gewonnen. Ich erfuhr dies und das. Menschen erzählen von Menschen. Konturen verdichten sich zu Bildern: in freundlichen und streitbaren Gesprächen unter Kollegen und Lektorinnen in einem der engen Zimmer von Falladas Wohnhaus, auf Spaziergängen durch die Wiesen, bei einer Rast am Ufer eines Sees, auf dem Weg zum Carwitzer Friedhof.
Für zwei Tage und eine Nacht krauche ich unter, und manchmal denke ich, zu Hause angekommen zu sein. Aber immer dann, wenn ich mich einrichten will, tritt einer aus dem Schatten und fragt mich: „Was ist das – zu Hause?“
In Carwitz begegnete mir oft einer der vielen Schatten Falladas. Ich fragte mich: War er denn jemals hier? Aber ja, er war es, er hat hier gelebt, geliebt, geschrieben und gelitten.
Carwitz und Fallada – ich denke, zwischen Unvereinbarkeiten können nur Kinder Brücken bauen, oder eben Menschen, die zwar älter geworden sind, aber nicht das Vermögen verloren haben, an das Unmögliche zu glauben.