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8. Alles Lebendige muss sich verändern (1986)
ОглавлениеIm menschlichen Leben gibt es immer wieder Zeitpunkte, an denen durch Betrachtung von Gegenwärtigem in Vergangenheit und Zukunft geblickt werden muss. Meistens stehen wir unverhofft, von Freude oder Schmerz betroffen, weit- oder kurzsichtig, vor solch einem Pfahl, von dem Schilder in alle Richtungen weisen. Und oft wissen wir nicht weiter; denn jedes Schild verspricht uns, wie all den Märchenhelden, die auszogen, das Wasser des Lebens zu finden, das alleinige Glück.
Es gibt aber auch Zeitpunkte des Besinnens, die wir selbst bestimmen, in denen wir befinden wollen und müssen über den gegenwärtigen Zustand in uns selbst, in unserer Familie, in der jeweiligen Gesellschaft und in der Welt. An solch einem Zeitpunkt befinden wir uns.
In jedem Leben kommt der Tag, an dem man an die Stelle der Träume den Gegenstand setzen muss. Das bringt Verantwortung mit sich, und nie durfte einer Kind bleiben, wenn er aus Traumwelten in die Realität hineinwachsen wollte. Nun, wir sind nach der Anzahl der Jahre, auf die wir zurückblicken können, erwachsen geworden. Die Schonzeit ist endgültig vorbei. Unsere Gesellschaft ist den Kinderschuhen entwachsen, die Siebenmeilenstiefel wollen uns nicht mehr passen, und das Fliegen bleibt uns, obwohl wir uns in komplizierten Erfindungen im Weltraum bewegen, ein Kindertraum, der uns nur noch wissend lächeln lässt. Im Verlauf der Geschichte springt man nicht über Länder und Meere, und über Nacht ist kein festes Haus oder ein prunkvoller Palast erbaut und schon gar nicht ein Königreich gewonnen. Um sich vorwärtszubewegen bedarf es gesunder Füße und ausgewogener Schritte, die uns manchmal auf Umwegen, im Kreis oder rückwärts gehen lassen; aber wir sollten doch unserem ausgemachten Ziel folgen, ein Zuhause zu errichten, das unter seinem Dach allen Menschen die Möglichkeit zum friedvollen Zusammenleben einräumt.
Dafür braucht es Zeit, kluge Köpfe, fleißige Hände, Geduld, viel Mut zum Risiko, Toleranz und gegenseitige Achtung. Jeder sollte nur sein eigenes Maß füllen, dann müsste er nicht über die leeren Krüge der anderen klagen, denn wer Welt nicht gestalten kann, der muss sie erdulden, Es gibt noch genügend Zeitgenossen, die halten Stillstand für die ausgewogenste Form der Bewegung.
Deutschland ist nun schon über vierzig Jahre gespalten. Als Student im geteilten Berlin habe ich noch die Grenzen zu Fuß überschritten oder mit der Stadtbahn überquert, ich weiß also, wie es drüben und hüben ausschaut, ich habe bewusst wählen können, für welche Seite der Welt ich mich entscheide. Das ist ein gutes Gefühl, dass jeder Mensch haben sollte.
Ich bin also hier im Osten erwachsen geworden, ich habe hier nach zähen Jahren der Pubertät, des nicht wissen wohin mit mir, ein Zuhause gefunden: Grund unter den Füßen, ein Dach überm Kopf, Arbeit, Kleidung, Essen und Trinken, das ebenso lebensnotwendige Gefühl des Gebrauchtseins und vor allem Menschen, auf die ich nicht verzichten kann, die mir in guten und schlechten Tagen zugeneigt blieben. Das will nicht heißen, dass in mir und um mich herum eitel Freude herrschte. Der Blick in die nächste Nähe und die weite Welt zeigt uns täglich ein Geschehen, das die Sorge nicht kleiner werden lässt. Noch immer sind weit und breit Menschen mit sich selbst und anderen verstritten, noch immer gibt es Krieg, Hass, Hunger, Lüge, Mord- und Totschlag, Vergewaltigung und Unterdrückung. Da fragt man sich, ob wir Menschen überhaupt lernfähig sind? Aus jahrtausendealten Erfahrungen haben wir bis heute nicht gelernt Frieden zu halten, der notwendig ist, um der Freiheit würdige Gesetze zu geben, sie in die Tat umzusetzen und zu erhalten. In den Stunden des Zweifels, die es ja braucht, um nicht zu erstarren, erkenne ich: die Früchte vom Baum der Erkenntnis sind Nüsse, die leicht zu pflücken, aber schwer zu knacken sind. Da erscheinen mir Wirklichkeit und Wahrheit wie Liebende, die wie die Königskinder nacheinander verlangen, aber nicht zusammenfinden können. Meist sind wir ja schon froh, dass wir sind, und wer will sich denn schon mit der Frage belasten, wer und wie wir sind? An der Wahrheit probiert jeder seine Erfindungsgabe, denn in der Tiefe seiner Gedanken ertrinkt man so schnell nicht. Es fällt uns schwer, uns so anzunehmen, wie wir wirklich sind, und dabei nicht zu vergessen, dass wir der Besserung bedürfen.
Ich denke, auf einiges was wir hierzulande geschaffen haben aus dem Gräuel und Chaos faschistischer Hinterlassenschaft können wir stolz sein. Manches müssen wir bedauern und anderes wünschten wir uns vielleicht ungeschehen. Es braucht auch künftig all unsere Kraft, um Gutes aufzubereiten, dass Besseres darauf wachsen kann. Wir sollten nie in den selbstzerstörerischen Glauben verfallen, dass wir jemals „ankommen“ werden. Keine Gesellschaftsordnung wird ein Paradies sein, auch der Kommunismus nicht. Wir werden uns nicht wie der Herrgott am sechsten Tag unserer Schöpfung zurücklehnen und sagen können: Und siehe da, es war sehr gut. Unsere Schöpfungsgeschichte wird von Ewigkeit zu Ewigkeit dauern, und keiner kann sagen, was sie noch an Ideen, Herausforderungen, gegenseitigen Verletzungen, Irrungen und Kämpfen für uns bereithält. Alle unsere Probleme sind ja sozusagen hausgemacht und wären durchaus zu lösen, wenn wir auf neue Grenzen verzichten und alte abtragen würden. Der gegenwärtige feindselige Zustand unserer Welt verlangt nach Einigkeit, eine anzustrebende Diktatur der Vernunft, die einer lebendigen Demokratie innewohnt, braucht den Dialog. Aus aller Welt müssen wir zusammenkommen und miteinander reden, solange bis uns bewusst wird, dass wir bei aller weltanschaulichen, ethnischen und religiösen Unterschiedlichkeit Brüder und Schwestern sind, dass wir ein und derselben Familie angehören.
Ich sagte eingangs, wir seien erwachsen geworden, was auch heißen soll, die volle Verantwortung zu übernehmen und dennoch jung und veränderbar zu bleiben. Denn nichts bleibt, wie es ist. Alles Lebendige muss sich ändern. Oder es stirbt. Nehmen wir uns also in die Pflicht jung zu bleiben. Nur die Hoffnung, die aus dem Tätigsein kommt, verleiht Beständigkeit.