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6. Da ich ein Suchender bin, darf ich ein Irrender sein (1983)
ОглавлениеDas Gespräch führte: Wolfgang Tittel
Du bist „alteingesessener“ Leipziger, arbeitetest nach dem Besuch der Grundschule und einer Lehre als Fernmeldemechaniker als Transportarbeiter und Lagerist, warst Leistungssportler im Judo, besuchtest Ende der Fünfzigerjahre die Artistenschule, kehrtest danach als Fernmelderevisor in deinen Lehrberuf zurück. Seit Mitte der Siebzigerjahre bist du als frei schaffender Schriftsteller tätig. Mich interessiert, wie du zum Schreiben gekommen bist. Gibt es einen Zusammenhang dabei mit bestimmten Stationen deines Lebens? Was bedeutet für dich das Schreiben?
Ich bin ein Kriegs- und vor allem ein Nachkriegskind. An den Krieg gibt es kaum konkrete Erinnerungen. Und doch sind seine Schattenbilder in mir lebendig geblieben. Er ist etwas im Dunkeln Lauerndes, ein Ungeheuer, das mir selbst jetzt noch, einigermaßen erwachsen geworden, Angst macht. Bei Kriegsende war ich fünf Jahre alt. Erst hier setzt meine Erinnerung ein. Eigenartig ist, dass die konkreten Bilder meinem Gefühl widersprechen. Wenn ich an meine Kindheit denke, da ist es Frühling, Ostern, Sonntag, die Menschen haben ihre guten Sachen angezogen und verlassen ihre Wohnungen in Richtung Stadtwald. Da ist eine warme Sonne am Himmel, feste Erde unter den Füßen, und ganz nahe ist frisches Grün, das die Menschen lächeln und tief atmen lässt. Es ist ein Bild der Hoffnung, eines Neubeginns, des Osterspaziergangs. Es widerstrebt mir, genauer hinzusehen. Tue ich es dennoch, sehe ich die häusliche Enge einer Arbeiterfamilie, eine Welt in der Welt, von meiner absolutistischen Mutter beherrscht, der die Kriegserlebnisse Vertrauen und Glauben an eine gerechte und ihrer Familie wohlgesinnte Welt genommen haben.
Die Mutter hatte die Zeit für das „Draußen“ uns Kindern und auch ihrem Mann knapp bemessen. Für jedes Wetter lag die passende Kleidung bereit, auf jede mögliche Gefahr wurden wir mit eindringlichen Worten vorbereitet, die uns sagten, wie ihr am sichersten aus dem Weg zu gehen sei. Aber das Draußen, diese andere geheimnisvolle und gefahrvolle Welt lockte unwiderstehlich. In ihr wollte und musste ich leben. Mein Vater zeigte mir den Kompromiss. Er, ein lebenskräftiger und tüchtiger Mann, mit Ambitionen zur Sangeskunst, von Beruf Fleischer, brach immer wieder aus Mutters Welt aus, kehrte dann am nächsten Morgen - nachdem er in einer Kneipe gezecht und all die Tenorarien aus Opern und Operetten gesungen hatte - sanft und Reue zeigend zurück. Nach so einer Nacht, in der mein Vater weggeblieben war, erschien er mir wie ein Abenteurer, ein Weltreisender, einer, der auf Cooks Schiffen gefahren war. Ich verstand es und verstand es auch nicht, wie er hatte zurückkommen können in eine Welt ohne Wunder.
Eines Tages dann bestand ich meiner Mutter gegenüber auf die mir unendlich erscheinende Welt da draußen. Dem Tüchtigen und Begabten versprach der Leistungssport schnelle und gute Möglichkeiten, sich Freiräume zu verschaffen. Ich wählte mir die in Europa junge Sportart Judo aus, wo der Kämpfer Körper und Geist gleichermaßen braucht. Aber bald musste ich erleben, dass der Leistungssport nichts mit dem ersehnten befreienden Spiel und mit Lebensfreude zu tun hatte, auch sein Lebensraum war knapp bemessen, er versetzte mich in einen neuen Zwang: Siegen zu müssen. Nach den Sportlern selbst, nach ihrem Denken und Fühlen, wenn es denn nicht mit dem Sport zu tun hatte, wurde nicht gefragt. Alles war dem Erfolg, dem Sieg also, untergeordnet. Nur der Sieger galt was und wurde gefeiert, der Verlierer wurde fallen gelassen. Sensibilität, das Nachfragen und hinter die Dinge kommen wollen, war unerwünscht, es wurde der Zielstellung als hinderlich angesehen. Die Liebe, das Wunderbarste, was uns Menschen passieren kann, war von den Sportfunktionären am meisten gefürchtet, sie konnte von heute auf morgen all ihre Arbeit zunichtemachen und ihre Schützlinge aus der Siegerbahn werfen. Wir hatten nur eins zu denken und zu tun: Kämpfen. Und Kämpfen hieß siegen. Das konnte ich einfach nicht durchhalten. Ich wollte ja kämpfen. Und auch siegen. Aber es war ein anderer Kampf und ein anderer Sieg, den ich meinte.
Was ich eigentlich wollte, wusste ich damals noch nicht. Eines hatte der Leistungssport dennoch geschafft: er hatte mich aus Mutters Welt befreit, und aus der neuen Anhängigkeit löste ich mich jetzt schneller. Ich war von Zuhause losgegangen und musste nun weitergehen. Ich spürte intensiv wie nie zuvor, weil bewusster: Ich lebe. Für Leben lassen sich viele Synonyme finden. Eines davon - ich glaube eines der Wichtigsten - ist Suchen, ins Dunkel Licht bringen, um mit den Dingen sich selbst erkennen zu können. Ja, leben wollte ich endlich aus eigener Erfahrung, eingreifen in dieses schmerzlich-lustvolle Spiel um das Geheimnis des Daseins, das wir bei aller Fortschrittsgläubigkeit wohl nie völlig lösen werden. Der Leistungssport hätte mich doch nur einem Bild gleichgemacht, das nicht mein eigenes war.
Angelockt von der Weite und vom Abenteuer - eigentlich wollten wir ja auf Jack Londons Spuren in die Südsee - blieb ich mit einem Freund in Ostberlin an der „Fachschule für Artistik“ hängen. Mit der vielgestaltigen Bewegung lockten Glanz und Flitter von Zirkus und Varieté, der Salto mortale, die große Geste, der dankbare Beifall. Aber es ging um viel mehr in dieser Zeit. Ich war in das gespaltene Berlin wie in einen Vulkan hineingeraten. Der Mutterwelt entkommen, war mir das Draußen plötzlich zu groß und zu verwirrend geworden. Und es gab nicht nur diese eine Welt, es gab zwei Welten, eben das hüben und drüben, den Osten und den Westen, die so gegensätzlich waren und sich befeindeten. Es galt für uns junge Menschen, sich zu entscheiden, für die eine oder die andere Seite. Ein gesellschaftliches Zuhause musste gefunden werden. Wir pendelten hin und her, uneins mit uns und diesen beiden Lagern, die ja auch die Spaltung der gesamten Welt anzeigten, und von der uns jedes sein Glück versprach. Lange konnte man in dieser Spannung nicht unbeschadet leben, es war wie ein Balancieren zwischen Feuer und Wasser auf dünnem Seil - ich musste endlich Boden unter den Füßen gewinne. Es gab also Hier und Drüben, und mancher von uns hatte sich für das Drüben entschieden. Meine Entscheidung für das Hier entsprach nicht einer ausgeprägten politischen Überzeugung, ich war ja gerade so achtzehn Jahre alt und in vielerlei Hinsicht noch unfertig.
Es war mehr eine Entscheidung des Gefühls als des Verstandes. Ich entschied mich für die Welt, die ich kannte; sie war mir zwar zu eng geworden, aber sie hatte mir auch Sicherheit und Geborgenheit gegeben. Ich glaubte, mich schuldig zu machen, wenn ich sie verlassen würde. Hüben hatte ich meine Freunde und Bekannten. Drüben wäre ich trotz aller Verlockungen allein gewesen, das scheute ich. Hier wollte ich weitersuchen. Der Spielraum der Artistik konnte nur den Körper bilden; ich fragte mich bald, ob denn das mit Trick und Geschick Sich-selbst-zur-Schau-stellen schon alles sei, was ich gewollt hatte? Eine schöne Form hatte ich gefunden, aber der Inhalt war doch nur eitler Tand.
Ein solches Gefühl des Unbefriedigtseins und des Sich-in-Frage-Stellens kennt wohl jeder, doch nicht jeder kommt zum Schreiben...
Suchen heißt für mich: Auf ein Ziel hin in Bewegung sein. Dabei erkennt mancher erst sein Ziel, wenn er sich schon geraume Zeit bewegt hat. Am Anfang meines Weges war da nur so eine Art Instinkt, eine Ahnung, ein Drängen auf etwas hin. Das musste erst aus dem Unterbewusstsein durch Bewegung ins Bewusstsein geholt werden. Nicht jeder, der sucht, fängt an zu schreiben. Aber er wird Mittel und Wege finden müssen, um in diese Bewegung zu kommen, die ihn seinem Ziel näher bringt. Dabei spielen die Künste und Wissenschaften als Wegbegleiter eine große Rolle. Sie eröffnen dem Sucher unendlich viele Spielräume, dass er manchmal Gefahr läuft, sich darin zu verlieren. So ist der Sucher auch immer ein Gefährdeter, weil er auch Wege gehen muss, die noch niemand vor ihm gegangen ist. Und wenn er in die Irre geht oder seine Wege nicht bald zu grünen und Früchte tragenden Inseln führen, hat er alle gegen sich, die ihm vielleicht gefolgt sind, weil sie selbst zu schwach, zu träge, zu feig oder auch behindert waren, um auf eigenem Weg zu gehen.
Das Suchen scheint mir der Menschen Bestimmung zu sein. Es ist unsere Chance, unser Dasein wahrzunehmen, in flüchtigen Augenblicken Glück zu spüren, um wieder an sich glauben zu können und Mut für Neues zu haben. Eine sozialistische Gesellschaft muss den Menschen das Suchen ermöglichen, dass sie aufkommen von ihren sicheren Stühlen, Gleichgültigkeit und Furcht überwinden. Die Verantwortung ist nicht wegzudelegieren, ohne sich selbst, ohne die Gesellschaft aufzugeben. Es geht immer wieder ums Besinnen auf die einmaligen Ich und Du, die das Wir ausmachen, das mit seiner revolutionären Kraft und seinen Möglichkeiten der Umgestaltung oft schon ins Vergessen geraten ist. Wir alle haben unsere Enttäuschungen und vielleicht auch Verletzungen erfahren; aber es erscheint mir ein katastrophaler Irrtum, das Suchen an „die da oben“ abgeben zu wollen. Denn „die da oben“ sollen „die da unten“ sein und umgekehrt, so sind wir doch angetreten; das sollte keiner vergessen, dem es ums Suchen, ums Erfahren und Erkennen, dem es um Sozialismus geht.
Und wie ging es mit dir weiter? Wie kam es, dass du zur „Feder“ griffst?
Im Artistenberuf fühlte ich mich alleingelassen, dabei körperlich über- und geistig unterfordert. Und die geteilte Stadt, ihr beiderseitiges Werben, ihr überfallartiges Anziehen und Abstoßen, diese zwei Schreie nach Leben, diese immer mehr ins Böse hineinwachsende Wunde inmitten Deutschlands, das es ja so nicht mehr gab, hatte bei mir Wirkung gezeigt. Die Probleme häuften sich für mich, ich konnte sie nicht mehr ordnen und durchschaute sie nicht mehr. Das führte zu Depressionen und Ängsten, die mich in ärztliche Behandlung und schließlich zur Aufgabe des Artistenberufes zwangen. Ich kehrte nach Leipzig zurück und arbeitete wieder in meinem erlernten Beruf als Fernmeldemechaniker, der mich in ein funktionierendes Kollektiv brachte. Wir waren zehn Kollegen mit unterschiedlichsten Denk- und Verhaltensweisen, die uns aber nicht auseinander, sondern einander nahe brachten, weil wir immer im Gespräch miteinander blieben. Hier habe ich Mut und Sicherheit zu den ersten Schreibversuchen gefunden. Am Anfang war da nur ein Wust an unverarbeiteten Gefühlen, die mich zu erdrücken drohten. Das brachte ich erst einmal „unverarbeitet“ zu Papier. Schreiben schafft Distanz zu sich selbst und zu den Dingen. Später kristallisierten sich Fragen heraus, die auf Antwort drängten. Fragen nach meinem Standort und meinem Befinden in der Welt. Losgegangen war ich ja schon früher, aber jetzt war ich ein Suchender geworden und hatte (vielleicht) einen Weg gefunden, der mich mir selbst und den anderen näher bringen würde. Und ich glaubte leidenschaftlich an mich, wie man wohl nur mit Anfang zwanzig an etwas glauben kann.
Heute, unterwegs in den Vierzigern, muss ich manchmal über diesen Zwanzigjährigen lächeln, über sein Stürmen und Drängen, eine glückvollere Welt aus eigener Kraft über Nacht zu erschaffen. Inzwischen weiß ich manches besser; aber ich habe ihn gern diesen jungen Freund, und ich freue mich, wenn ich ihm in den heute Zwanzigjährigen wiederbegegne.
In einem Gespräch polemisiertest du einmal mit einem deiner Kollegen, der gesagt hatte: Wer sich selbst in den Mittelpunkt der Welt stellt, wird die Welt nie erkennen. Du hieltest dagegen, dass man sich gerade in den Mittelpunkt der Welt stellen müsse, um die Welt erkennen zu können. Darüber nachdenkend scheinen mir die beiden Positionen so konträr nicht zu sein, denn sicher hast du nicht gemeint, sich selbst zum Maß aller Dinge zu machen, sei eine für die Wahrheits- und Erkenntnisfindung notwendige Bedingung für das Schreiben. Was heißt für dich heute konkret „sich in den Mittelpunkt der Welt stellen“, welche Konsequenzen und Verantwortlichkeiten ergeben sich daraus für deine schriftstellerische Arbeit?
Als Wesen, das sich denkend und fühlend in der Welt bewegt, nehme ich Mittelpunkte mit, wohin ich auch gehe. Ich empfinde Welt und nehme sie auf. Und ich gebe auch wieder von ihr ab. Wo gelebt wird, da sind ständiges Geben und Nehmen. Der Künstler nimmt das wohl nur bewusster wahr, da er in seiner Arbeit auf sein Weltempfinden angewiesen ist. Das ist sein Material, damit muss er verantwortlich und zugleich poetisch umgehen. Aus solcher Auffassung ergibt sich natürlich eine Konsequenz: Trage ich meinen Mittelpunkt in die Welt, dann muss ich die sich ergebenden vielen Beziehungen aufnehmen, ich muss selbst aktiv werden, kann nicht nur fordern, muss selbst etwas tun, Stellung beziehen. Stehe ich also immer im Mittelpunkt der Welt, bin ich auch immer in der Verantwortung. Ich bin nie entschuldigt. Muss meine Augen und Ohren immer offen halten. Kann nie meine Seele verschließen. Das ist schwer. Das zehrt an der Lebenskraft; das lässt aber auch neue erschließen. In diesem Sich-in-den-Mittelpunkt-stellen liegt das ganze weiträumige und engmaschige Beziehungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Nennen wir es das gegenseitige Voneinander-betroffen-sein. Die Gesellschaft ist der Körper, der auf das Ich, die Seele und den Geist reagiert. Und natürlich reagieren Seele und Geist auch auf den Körper. Sie streben nach Einheit. So entsteht individuelles und gesellschaftliches Leben. Es wird sich immer auf der Stufe befinden, auf der Individuum und Gesellschaft, also Geist und Körper, eine Einheit bilden oder nicht. Und die Aufgabe der Künste ist es, diesen Stand herauszufinden und vielleicht einen Weg zu weisen zu größerer Einheitlichkeit.
Nun ist es mit der Literatur ja so, dass sie einesteils engste Berührung mit der Zeit, mit der sie sich einlässt, verlangt, andernteils aber größtmögliche Distanz zur ihr benötigt. Hier muss die Literatur für das Leben das richtige Maß finden, um wahrhaftig und gerecht zu sein als Geschichten- und Geschichtsschreiber. Mit dieser notwendigen Distanz, die Souveränität bringt, habe ich oft meine Schwierigkeiten. Oft klebe ich zu nahe am Geschehen, bin zu betroffen, um der Sache, um Menschen und Dingen gerecht werden zu können. Aber allein an mir liegt das wohl auch nicht. In unserem gesellschaftlichen Leben ist die Literatur zu oft angesprochen, wo es gar nicht ihr Amt ist, zu reagieren. Sie muss sich mit Problemen beschäftigen, die sie klein machen und sich schnell verbrauchen lassen. Das liegt mit an unseren Medien, die nicht in ausreichendem Maß aufarbeiten, was sich täglich an Problemen aufdrängt. Die Ängstlichkeit vorm „Klassenfeind“ ist übergroß. Wir wollen uns nicht in den Topf gucken lassen und drücken dabei so fest auf den Deckel, dass uns die eigene Suppe anbrennt, die wir schließlich irgendwann auch auslöffeln müssen. Die Literatur ist kein Kulturbetrieb und der Schriftsteller ist kein Funktionär, und selbst wenn sie sich dazu machen lassen, sind sie hoffnungslos überfordert. Da muss sich schon manch anderer auch in den Mittelpunkt der Welt stellen.
Ich sehe hier zwei Probleme äußerst unterschiedlicher Wertigkeit. Angesichts der Schärfe der gegenwärtigen Klassenauseinandersetzung, der mit ganzer Härte und Konsequenz auf der Tagesordnung stehenden Frage Krieg - Frieden, der Tatsache, dass die sozialistische Gesellschaft ihre weitere Entwicklung unter außenpolitischen Bedingungen wachsender Erschwernisse vollziehen muss, scheint mir die Kritik an der von dir als Bild gebrauchte Ängstlichkeit die Gefahr zu bergen, am Kern des Problems vorbeizugehen. Zum anderen - und hierauf zielt wohl deine Äußerung - gibt es sicher Erscheinungen, die sich auf ein subjektiv begründetes, nicht ausreichendes Wahrnehmen eigener Verantwortung gründen und im Einzelnen das Entstehen eines literarischen Werkes nicht fördern. Ich gebe aber zu bedenken, ob solche Erscheinungen tatsächlich so gewichtig sind, dass sie allein die Aufgaben für Literatur und die Verantwortlichkeit des Schriftstellers in unserer Zeit bestimmen? - Ich denke nicht. Damit also erschöpft sich das Problem noch nicht. Es stellt sich die Frage nach dem Mitteilenswerten und vor allem dem Mitteilenwollen, danach, an wen du dich mit welcher Absicht und auch Hoffnung wendest, was du für dich und für andere bewirken willst?
Ich will noch einmal zum Schreibanlass zurückkommen und versuchen, diesen genauer zu benennen. Die Frage ist: Wenn ich mich in den Mittelpunkt der Welt stelle, wie sieht es dann mit meiner Weltbefindlichkeit aus? Diese Frage führt wieder zur Gefährdung. Das Schiff, das sich im Zentrum eines Sturmes befindet, wird schwerer mit diesem zu kämpfen haben, als das, welches an dessen Randzone fährt oder gar im sicheren Hafen vor Anker liegt. Sprechen wir von dem Schiff, das im Sturmzentrum um seine Existenz kämpft. Seine Besatzung muss sich etwas einfallen lassen, um die Situation zu meistern. Beim ersten Sturm sendet der Funker SOS-Signale aus. Er ist in Untergangsstimmung, fühlt sich bedroht, sieht keinen Ausweg, hofft auf Hilfe anderer. Jeder Vergleich hinkt, aber oftmals und gerade zu Beginn meines Schreibens befand ich mich in dieser Situation. Mein Schreiben war eine Art Hilferuf an die Gemeinschaft (ob er nun als solcher wahrgenommen wurde oder nicht). Bleiben wir noch beim Schiff und seiner Besatzung. Nehmen wir an, sie haben ihren ersten Sturm überstanden. Sie haben ihre Erfahrungen gemacht. Da der Kurs wieder in ein Sturmzentrum führt, sind sie bald in ähnlicher Situation der Gefährdung. Vielleicht muss der Funker wieder SOS-Signale aussenden, vielleicht aber auch gelingt es der Besatzung diesmal aus eigener Kraft, einen Weg aus dem Sturm zu finden. Und wieder kommt eine Erfahrung hinzu: die der eigenen gewachsenen Möglichkeiten. Der Funker hat darüber Buch geführt. Seine Aufzeichnungen stellt er jedem zur Verfügung in der Hoffnung, mit einigen Leuten ins Gespräch zu kommen, von ihnen zu erfahren, wie sie sich in ähnlichen Situationen verhalten haben. Wenn dieser Funker nun, dieser „private“ Logbuchführer, genau und unbestechlich von seinen Sturmängsten Erfahrenes aufschreibt, wird er über das Ereignis zum Vermittler werden zwischen seiner Erfahrung und der Gemeinschaft, an die er sich wendet.
Der Funker wird das Schiff nicht bewegen können, er ist nicht der Kapitän und nicht der Matrose, aber er wird dessen Kurs genau festhalten und immer wieder mitfahren ins Zentrum eines Sturms. Sein Amt ist es, Verbindungen herzustellen, zu den Leuten auf dem eigenen Schiff, aber auch zu denen auf fremden Schiffen, ja, sogar zu den feindlichen. Er sucht das Gespräch, nach Möglichkeiten des Zusammenlebens. Dazu muss er lieben lernen, sich selbst in den anderen, und er muss ohne Wenn und Aber den Frieden wollen.
Es ist also die Kraft der Vernunft, an die du glaubst?
Ja, aber oft fällt mir der Glaube schwer; dann ergeht es mir schlimm, dann bin ich allein, ich besitze nichts mehr und bin doch nicht frei. Wenn ich mir Vergangenheit und Gegenwart ansehe, wird der zum Bestehen notwendige Glaube an die Vernunft arg strapaziert, er verlangt mir alles ab an Optimismus und Hoffnung auf eine friedliche Menschengemeinschaft, die sich frei bewegt in ihrem Denken und Glauben. Ich schreibe ja auch gegen meine Zweifel an, damit mir der Glaube nicht verloren geht und mit ihm die Möglichkeit, menschenwürdig zu existieren. Die Vernunft ist wohl das zutiefst Menschliche, das wir uns am schwersten abringen können. Ich finde, so weit von der Tierwelt sind wir noch nicht entfernt. Instinkte und Gefühle ergreifen entgegen aller Vernunft immer wieder Besitz von uns und beherrschen uns diktatorisch. Aber seit dem Augenblick, in dem wir zum ersten Mal dachten und vernünftig handelten, tragen wir Verantwortung für diese Erde. Vernunft braucht eine Ordnung, die ihr Charakter und Maßstab gibt, eben eine Gesellschaftsordnung. Die sozialistische Ordnung hat ihre Vernunft, die Summe der Erkenntnis aus Jahrhunderte währender Unterdrückung und Klassenkämpfe, Gesetz werden lassen. Nun muss ein Gesetz aber erst in die Menschen hineinwachsen, um lebendig, um wirksam werden zu können. Damit tun wir uns noch sehr schwer. Wir müssen lernen, mit dem Gesetz, das wir uns gegeben haben, gesetzestreu umzugehen, es nicht zu verzerren oder gar zu missbrauchen. Das ist unser aller vornehmliche Aufgabe, vielleicht die letzte Chance zur Vernunft angesichts einer von Massenvernichtungswaffen beherrschter Welt.
Du bist noch ein relativ neuer Autor unter den „alten“, aber auch schon - nicht zuletzt auf Grund einer Reihe von veröffentlichten literarischen Arbeiten - ein alter unter den „neuen“, denen du, obwohl du über vierzig bist, zugerechnet wirst. Du gehörst zu den Autoren, die in den Siebzigerjahren erstmals an die Öffentlichkeit traten, zu jener Generation, die ohne das unmittelbare Kriegserlebnis aufgewachsen ist und deren Erfahrungsbereich sich auf die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR bezieht und begrenzt. Damit ist das Stichwort gegeben: Generationsproblematik.
Die Begriffe „alter“ und „neuer Autor“ sind mir nicht treffend genug. Die Identitätsfindung im Schriftstellerberuf fällt mir schwer. Als ich mit Schreiben begann, glaubte ich fest an mein Talent. Nach Anfangsschwierigkeiten hatte ich mit meinem literarischen Debüt einen raschen Erfolg. Der große „Durchbruch“ schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Heute, nachdem ich mit meinem Verstehen wesentlich tiefer in Kunst und Literatur eingedrungen bin, fällt es mir zunehmend schwerer, an meine „Berufung“ zu glauben. Auch der Schriftsteller wird immer ein Unwissender bleiben, obwohl er tiefer in die Dinge und ihre Zusammenhänge eindringen kann, als mancher andere. Je mehr Türen er aufstößt, umso größer wird der Raum, in dem er sich befindet. Um in dieser Weite zu bestehen, muss er mit Selbstvertrauen diesen schmalen gefahrvollen Pfad, den er selbst erkunden muss, zur Wahrheit gehen, die auch er schließlich nicht finden wird. Mit jedem Buch, das ich geschrieben habe, bin ich unsicherer geworden. Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Spiele der Kindheit und Jugend vorbei sind, dass ich nicht mehr ans ewige Leben glauben kann und dass ich meine, mit vierzig immer noch nicht das gebracht zu haben, worauf es mir ankommt. Die Umsetzung des „großen Anspruchs“ habe ich immer wieder aufs nächste Buch delegiert und gesagt: „Das wird´s sein.“ Aber als das Buch dann da war, musste ich mir erneut sagen: „Das ist es nicht.“
Wenn ich heute meine bisherige literarische Arbeit betrachte, würde ich davon nur noch wenig gelten lassen. Das Gefühl der Sicherheit im Beruf habe ich nicht. Ich hatte es in meinem Beruf als Fernmeldetechniker. Wenn ich dort nach der Arbeit nach Hause ging, wusste ich, was ich geleistet hatte, und es war ein gutes Gefühl in mir, das ich heute neidvoll herbeisehne. Ich möchte eines Tages ein Buch auf den Tisch legen können, wozu ich unabhängig von der Meinung anderer sagen kann: „Hier hast du gegeben, was du konntest. Du hast rausgeholt, was in dir war. Und es ist gut so.“ Vielleicht lässt die Beschäftigung mit der Kunst so ein Gefühl überhaupt nicht oder nur für kurze Zeit zu, weil ja gerade Unruhe und Zweifel ihre treibende Kräfte sind und sie sich weniger der Schönheit als vielmehr der Wahrheit verpflichtet sieht. Und wenn es nur eine gute Stunde der Übereinstimmung des Anspruchs mit der Verwirklichung ist - dafür will ich arbeiten, für dieses Aufgehobensein in sich selbst. Das wäre so ein Augenblick, wo man mit dem Auge Schiwas auf den eigenen Grund gesehen hätte und keinem Trugbild verfallen wäre. Ich würde also nicht nach dem Alter eines Autors oder dem Umfang seiner literarischen Arbeit fragen, sondern in erster Linie nach ihrer Qualität.
Die Generationsproblematik muss ja immer wieder herhalten, wenn wir uns mit dem Benennen eines Problems und erst recht mit seiner Aufarbeitung schwer tun. Ich sehe in ihr ein sich wiederholendes, für die Kunst notwendiges Grunderlebnis, das die Vor- und Nachgeborenen, also auch die jungen und alten Autoren gleichermaßen betrifft: Ein Suchender ist losgegangen und hier und da angeeckt, es kommt also zu vielgestaltigen Berührungen. Er verspürt Schmerz oder Freude (all die zahlreichen Nuancen, die dazwischen liegen), und über die formuliert er nun mit seinen künstlerischen Mitteln das Ereignis seines Anstoßes und schafft da herum eine Geschichte.
Und diese Ereignisse des Anstoßes wiederholen sich durch die Jahrhunderte. Sie waren und sind die Liebe, der Krieg, die Lüge, der Tod, das Verhältnis zwischen Geist und Macht, die Glückssehnsucht ... Es gibt eigentlich sehr wenige Grundthemen für die Kunst, und doch sind sie so unendlich vielfältig und in ihrer Fülle nie zu bewältigen, wenn eben der Künstler sich in den Mittelpunkt seiner Zeit stellt und Welt durch sich gehen lässt. Dann wird er das Leben lieben müssen und verstehen wollen, er wird um die Welt leiden und für ihr Bestehen und ihre Entwicklung kämpfen. Dabei wird er die ewigen Themen, schon so oft und so meisterhaft gestaltet, neu sehen und vielleicht - wenn er ein Meister ist - der Erkenntnis etwas hinzufügen können.
Ich denke, der Generationskonflikt wird auch dazu benutzt, Unzufriedenheit mit sich selbst und den anderen auszutragen, zum Beispiel, weil der eine eben die Welt nicht so sieht und sie so beschreibt, wie der andere das gern hätte. Es fehlt oft an notwendiger Toleranz, die Meinungen verhärten sich, es entsteht ein „Generationskonflikt“. Ich sehe da einen ganz anderen Generationskonflikt, in mir selbst, wenn Jugend an das Alter stößt, wenn das Wollen und die Erfahrungen sich reiben, wenn das unbändige Drängen sich in einen notwendigen Raum gesetzt fühlt, wenn der eine den anderen der Feigheit und Anpassung, und der andere den einen der Blindheit und Maßlosigkeit beschuldigt. Das halte ich für normal im Prozess menschlichen Reifens. Die Gegensätze begegnen sich wieder und wieder, sie reiben sich aneinander, sorgen für den Fluss der Bewegung.
In diesem Prozess der Selbstfindung und Selbstverwirklichung in Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt stößt man aber doch an äußere und innere Grenzen?
Alles in mir wehrt sich gegen Grenzen, äußere wie innere. Eine Grenze ist ein Maß, das notwendig ist, um die Dinge erfassen und bewältigen zu können. Innerhalb dieser Grenze ist Lebensraum, und wenn ich mir den zu eng und undurchlässig abstecke, laufe ich zunehmend Gefahr, mich zu isolieren, keine neuen Lebensräume zu entdecken. Ich kann somit nicht mehr in eine sich erweiternde Umwelt hineinwachsen, muss mich beschneiden, in einer Form halten, die mich mit der Zeit schwächt und schließlich verkümmern lässt. Die Frage ist doch: Was kann ich tun, dass ich meine Grenzen erweitern kann, ohne dass ihre Öffnung nach außen mir eine existenzielle Gefährdung bringt? Wenn ich auf eigene Entwicklung bestehe, bleibt mir nichts anderes übrig, als das Risiko einzugehen, im Prozess des Wachsens womöglich zu scheitern. Davor sind nichts und niemand gefeit. Das Leben kann nun mal auf „Reibungen“ nicht verzichten, die für eine schier unendliche Vielfalt sorgen, aber auch kleine und große Katastrophen mit sich bringen.
Wir sind eine junge Gesellschaft. Das Wachsen und Reifen - wer erfährt es nicht an sich selbst und an seinen Kindern - ist ein langer, schwieriger und oft widersprüchlicher Prozess. Dabei müssen wir der Ungeduld Geduld abverlangen und umgekehrt. Wir propagieren einen in seinem Denken und Handeln sich frei bewegenden Menschen, der die Idee des Sozialismus mit Inhalt erfüllt. Das aber kann ein Mensch nicht erreichen, wenn er nicht Stück um Stück seine Grenzen hinausschiebt. Nur so erobert er sich seine Welt, trägt er seine Idee in sie hinein und setzt sie in Leben um. Wir haben mit unserer Gesellschaftsordnung für jeden Bürger die materiellen Grundvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins geschaffen. Viele von uns leben gar im Überfluss. Jahrzehnte harter Arbeit - Auferstanden aus Ruinen... - haben uns wieder auf die Beine gebracht. Im Erreichten liegen zwei verschiedene, einander ausschließende Möglichkeiten: Entweder ich benutze die Gesundung des Körpers zur Entfaltung des Geistes (der nicht mehr hungernde und frierende Mensch erschließt sich seine eigentliche Welt, die der Kultur und Schönheit), oder aber ich füttere mich satt und fett, dass der überdimensionierte Körper den Geist lähmt und sich nur noch zur Erhaltung seines Übergewichts anstrengt.
Zu wenige unserer Menschen gehen den ersten, den beschwerlichen, den risikoreichen, wohl aber einzigen Weg zum Menschsein. Zu viele noch bringen nur ihr Korn ins Trockene, füttern sich und die Ihren, bis es ihnen die Augen und Ohren zudrückt und sie blind und taub werden gegen die anstehenden Probleme unserer Zeit. Vor Jahren hatten wir den Mund vollgenommen mit dem Wort „Menschengemeinschaft“. Nach der ersten Euphorie haben wir angefangen, es zu bewitzeln, seine Inhaltsschwere ist uns bewusst geworden, die kaum lösbare Aufgabenstellung und hohe gegenseitige Verantwortung. Heute sprechen wir kaum noch davon. Dabei ist es ein schönes, wichtiges, ein so hoffnungsvolles Wort, das im Sprachschatz eines Sozialisten immer eines der ersten Wörter sein sollte. Ich denke dabei an Hermann Hesses Morgenlandfahrer, die trotz vielfältiger Unterschiedlichkeit gemeinsam ihrer Idee von der Verwirklichung eines Menschenlebens nachgehen. Diese Morgenlandfahrer müssen immer wieder Grenzen überschreiten, eigene und fremde, sie sind Suchende, die ihren Glauben in die Welt tragen. Darin allein sehe ich den Sinn des Menschseins, der unsere Hoffnung nicht mehr in ein himmlisches Paradies verweist, sondern im Spielraum Erde belässt. Darum auch muss ich mich aus dem Druck ständig wachsender materieller Wünsche befreien, die mich nur in neue Zwänge setzen und die Entfaltung meines Geistes und die Umsetzung meiner Idee blockieren. „Sozialismus schaffen“ ist eine Morgenlandfahrt, der Weg vom Ich in die Gemeinschaft. Dabei entsteht nicht der Verlust von Ich, sondern vielmehr auch ein Gewinn an Individualität.
Tritt eine Generation anders an dieselbe Wirklichkeit heran?
Ja. Und das ist gut und richtig so. Die jungen Leute nehmen das von ihren Eltern Erreichte als das Gegebene, das sie oft erst einmal in Frage stellen und vielleicht ganz oder aber zum Teil ablehnen. Die jungen Leute wollen es anders, ja, besser machen. Sie wollen sich selbst einbringen. Das ist ihr gutes Recht und nur zu unterstützen. Aber sie müssen das Maß finden, müssen lernen, sich in den Geschichtsprozess einzuordnen. Sie sollen ja nachwägen, was ihre Väter und Mütter auf die Waage gelegt haben; aber es darf nicht nur bei ihrer Kritik oder der Ablehnung bleiben, sie müssen dem Erreichten selber etwas hinzufügen, nämlich ihren Anteil. Und den werden sie dann von ihren Kindern kritisch abwägen lassen müssen. Und so weiter und so fort. Will ich den großen Wagen „Sein“ bewegen, muss ich mich neben all den anderen an seiner Deichsel in ein Joch bringen und meine Kraft und Ungeduld im Sinne des gemeinsamen Vorankommens zügeln lernen. Nur vereint mit den Mitziehenden kann sich meine Kraft vervielfachen.
Die ältere Generation, die den Krieg durchlitten hat, musste Schwereres erfahren als die Nachkriegsgeneration. Ihr Grunderlebnis ist der Krieg. Er bedroht uns ja noch immer, und seine Bedrohung nimmt zu. Auch für die Literatur und die Künste ist er ein Gegenwartsthema, das gesellschaftlichen Vorrang hat, da wir uns als ein sich dem Frieden verpflichteter antifaschistischer Staat sehen. Schwerer ist es da schon für Gegenwartsthemen, die den Finger auf die Wunden unserer Gesellschaft legen. Das schmerzt und wird mancherorts schlecht ertragen. Aber wo eine Wunde ist, muss sie benannt und offengelegt werden, um sie behandeln zu können. Wirkliche Stärke wächst wohl nur aus der Kenntnis der eigenen Schwächen und Fehlhaltungen.
Oft wird das Aufzeigen solcher Wunden als beunruhigend erlebt, dem „Diagnostiker“ wird keine heilende, sondern eine die Gesundheit gefährdende Absicht unterstellt. Diese Angst vor der Wahrheit und dem damit verbundenen Schmerz, die sich hinter dieser Haltung verbirgt, ist verständlich, aber sie darf nicht dazu führen, dass man sich gegen eine „Untersuchung“ sperrt. Wenn die Ursache der Krankheit nicht gefunden wird, kann sie schließlich auch nicht behandelt werden.
Ich kann verstehen, wenn Ältere sich dagegen wehren, dass die Jungen das von ihnen unter großen Mühen und Entbehrungen Geschaffene kritisch beurteilen oder gar in Frage stellen. Ich kann das verstehen, aber nicht für gut heißen. Die Alten fürchten um ihr Lebenswerk, das ihrem Leben Sinn gegeben hat. Sie möchten Bleibendes geschaffen haben, das nun in der Jugend weiterlebt. Manches Neue erscheint ihnen wie Verrat an ihrem Leben. Sie, die selbst einmal am Alten gerüttelt haben, kämpfen jetzt um ihre Errungenschaften, die für die Jungen so nicht mehr akzeptabel sind. (Der alte Goethe sagt einmal, wohl zu Eckermann: In der Jugend sind wir alle Demokraten, im Alter aber Aristokraten.) Aber die Jugend wird siegen, wie sie immer gesiegt hat. Sie wird manches umwerfen, was die Alten aufgestellt haben; aber in der Hauptsache wird sie wohl doch dort weiterarbeiten, wo die Alten aufhören mussten. Denn zu ihrer Unduldsamkeit wird die Einsicht kommen. Sie wird selbst Macht ergreifen und deren lastvolle Verantwortung zu spüren bekommen. Sie wird auf den Kompromiss, den sie wohl am meisten verachtet, ohne den menschliches Leben aber nicht möglich ist, zurückgreifen müssen, er wird sie prägen und hoffentlich nicht vor ihrer Zeit müde oder intolerant werden lassen. Das Maß des Vertrauens und der Toleranz, das die Alten den Jungen entgegenbringen, wird mitbestimmen, wie viel davon die Jungen den Alten erweisen. Das ist vielleicht die sich stets wiederholende Generationsproblematik: Das Übernehmen des Stabes beim Stafettenlauf. In diesem Sinn würde ich mich schon unter den Jungen sehen wollen. Allerdings unter denen, die Teile des Werks der Alten zu schätzen wissen und sie nicht einreißen, sondern verbessern wollen.
Seit 1975 sind mehr als 250 Autoren aller Genres zum ersten Mal an die Öffentlichkeit getreten, eine Vielzahl sind junge Leute, die also hier in der DDR aufgewachsen und erzogen worden sind. In Gesprächen mit ihnen ist sehr oft die Rede von einem uniformen Erlebnis- und Bildungsweg, von dem man sich allmählich freischreiben und gegen den man wohl auch anschreiben würde. In diesem Zusammenhang wird nicht selten der Begriff von Literatur als Lebenshilfe gebraucht, von dem auch du schon gesprochen hast. Kannst du solche Erfahrungen bestätigen, und in welchem Maße haben sie für dich beim Schreiben und für das Schreiben Gültigkeit?
Bei mir trifft dieser uniforme Erlebnis- und Bildungsweg nicht zu. Ich sehe in meinem Lebenslauf viel Abenteuerliches. Er lässt sich in keine Schablone pressen. Das liegt wohl auch daran, dass ich vieles ausprobieren musste, um herauszufinden, was ich eigentlich will und was ich kann. Das hat mir das Leben schwer, aber auch interessant gemacht. Ich halte nichts von allzu frühen Talentbestätigungen, von Poetenbewegungen, ständigen Förderungsmaßnahmen und all diesen Dingen. Meines Erachtens verbilden sie das Talent, sie engen es ein und machen es schwächlich und anfällig für Eitelkeiten, die nur am Er- und Durchleben hindern. Ich kann nicht an das in die Wiege gelegte Talent glauben, ich meine, es bildet sich nur in der Auseinandersetzung mit den Problemen des Lebens heraus. Und wenn ich einem kaum Achtzehnjährigen, nur weil er ein paar Verse zu Papier gebracht hat, ein anderes Leben ermögliche als den anderen, wird er sich von den Problemen seiner Generation entfernen, anstatt sich an ihnen zu reiben. Er wird sich zu früh in den Turm des Beschauers begeben und vielleicht nie wieder herausfinden. Dadurch wird ihm der Zugang zur Kunst verschlossen bleiben und weitaus schlimmer auch zu einem „normalen“ Leben. Er wäre vielleicht ein guter Ingenieur oder Dreher geworden, aber nun fühlt er sich zu „Höherem“ berufen und macht Gott und die Welt verantwortlich, dass sie sein Genie verkennen.
Ich denke, man muss dem Talent Zeit lassen, sich zu finden und durchzusetzen. Es könnte zu viel gelernt bekommen, das es zuerst hätte durchleben müssen, um sich ausbilden zu können. Es gibt in unserer Gesellschaft zu viel Behütetsein, das auch immer die Gefahr des Nichtloslassens in sich birgt, es wird dem Bürger zu viel Fertiges vorgesetzt. Das beginnt im Kindergarten, geht weiter in der Schule. Der Lehrer fordert auf eine bestimmte Frage eine allein gültige Antwort, die er mit einer Eins honoriert. Das heißt letztendlich: Wer am besten auswendig lernt, ist der beste Schüler. Er wird dann studieren und später in entscheidenden Positionen arbeiten und Macht ausüben. Das eigene Denken, das sich über Zweifel und Widersprüche zurechtfinden wollen und müssen, die Möglichkeiten zur Entdeckung der Welt durch das unverwechselbare Ich, bekommen zu wenig Raum, um sich zu schöner Blüte, die dann auch eine gute Frucht bringt, entwickeln zu können. Natürlich braucht jede Gesellschaft, auch eine sozialistische, zu ihrem Bestehen solche Grundpfeiler wie Fleiß, Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit. Das muss aber keineswegs Uniformität im Denken und Handeln bedeuten. Solche Stützen des gesellschaftlichen Lebens sollten vielmehr dazu dienen, Denken und Handeln zu erweitern und nicht zu beschränken. Der Einzelne und die Gruppe müssen Freiräume finden können, die sie mit ihrem Ich und Wir ausfüllen und beleben.
Dichtung im besten Sinne wird immer auch Lebenshilfe sein, wie viel Zeit auch vergeht, denn das äußere Gesicht unserer Welt ist schnell wandelbar, aber ihr innerer Zustand - dem Dichtung vor allem ja nachspürt - ist nur sehr schwer zu verändern. Da betritt ein junger Mensch das weite und zugleich enge Feld gesellschaftlicher Beziehungen. Seiner aus Kinderträumen erspielter Weltvorstellung stellt sich die Realwelt entgegen. Traum und Wirklichkeit kollidieren. Der junge Mensch sucht nach Möglichkeiten sich zurechtzufinden, er muss Brücken bauen von der einen in die andere Welt. Wenn er nicht reibungslos seinen ihm von der Gesellschaft zugewiesenen Platz in der Realwelt einnehmen kann, wird er ein Gefährdeter sein und ein Suchender werden müssen. Er wird versuchen, auf eigenem Weg recht zu gehen. Die Künste werden sich ihm als Begleiter anbieten. Sie werden ihm zur Lebenshilfe, gleichgültig, ob er nun selbst Kunst schafft oder sie rezipiert.
Nur in Zeit- und Menschennähe kann der Schriftsteller Zeit- und Menschengeschichten entdecken und aufschreiben. Dabei muss ich mir als Schriftsteller meiner Verantwortung gegenüber den anderen bewusst sein. Während sie täglich an irgendeiner Maschine oder am Ladentisch arbeiten, schaffen sie die Voraussetzungen, dass ich meinen eigenwilligen Weg der Erkenntnis gehen kann, von dem ich ihnen dann aber auch meine Erfahrungen mitbringen muss. Denn sie wollen wie ich Bescheid wissen über sich und ihre Zeit, es ist ja dieselbe Welt, mit der wir zu tun haben. Sie sind es doch, die Gegenstand meines Suchens sind, ihr Weltbefinden interessiert mich, wie sie denken und fühlen, wie sie sich durchs Leben bringen. Ich gehöre zu ihnen, nur habe ich eine andere Arbeit, die sich damit befasst, aus der Wirklichkeit die Wahrheit herauszuarbeiten. Das bringt natürlich Probleme zwischen mir und den anderen; denn ich muss sie so zeigen, wie ich sie sehe (wie sie sind), und nicht wie sie sich sehen (wie sie sein wollen). Denn wer von uns spiegelt sich nicht sein geschöntes Bild, das eines Sonntagsmalers. Das aber ist eine Illusion, die zerstört werden muss, um das wahre Bild schaffen zu können. Das schmerzt, das fordert Widerspruch, Zorn, vielleicht auch Hass heraus. Doch das darf mich nicht wankelmütig werden lassen. Da ich ein Suchender bin, darf ich ein Irrender sein.
Ich erkenne hier dein Bemühen, subjektiv als wahr Erkanntes zu objektivieren. Damit deutet sich natürlich zugleich eine Reihe von Problemen und auch Gefahren an, so wenn du von der Notwendigkeit sprichst, den Finger auf Wunden zu legen oder davon, dass wahre Bild vom Menschen zu zeichnen. Das kann in letzter Konsequenz auch zu einer einseitigen Überbetonung der Kritikfunktion der Literatur führen und damit verbunden sein, den Schriftsteller gewissermaßen als besseres Gewissen der Gesellschaft zu betrachten. Um sich von solchen Auffassungen und Betrachtungsweisen abzugrenzen, ist es sicher notwendig, den Maßstab für die eigene Wertung, die eigene Urteilsfähigkeit weitmöglichst objektiv zu gestalten und dazu den eigenen Kenntnis- und Erfahrungskreis ständig zu erweitern.
Max-Walter Schulz sagte einmal, er habe (als Schriftsteller) viele Leben und meinte damit die Fähigkeit, sich mit anderen Lebensschicksalen zu identifizieren, nicht nur aus der eigenen Biografie zu schöpfen. Es ist nun die Frage, wie man diesen Fundus bereichern kann. Johannes R. Becher meinte, der Dichter brauche ein Amt. Du hast - wie viele deiner Kollegen - keins, was mir gerade bei jüngeren Autoren als Nachteil erscheint und die Glaubwürdigkeit eines ernsthaften Bemühens um das Abstreifen der Eindrücke eines uniformen Erlebnis- und Bildungsweges doch etwas in Zweifel zieht ... Wie gelingt es dir, deinen Erfahrungsbereich zu erweitern, zu neuen An- und Einsichten zu gelangen?
Ich war kein Jüngling mehr, als ich zu schreiben begann, hatte schon einen relativ großen Erfahrungsschatz. Nach dem Studium am Literaturinstitut habe ich sofort das Risiko des Freischaffenden auf mich genommen, weil es mich bedingungslos zum Schreiben drängte. Ich glaube nicht, dass der Schriftsteller unbedingt ein Amt haben muss. Erst einmal ist es sein Amt, Schriftsteller zu sein. Das ist ein Beruf, der ein Menschenleben ganz ausfüllt; ich denke, man braucht all seine Kraft und seinen Mut, um darin bestehen zu können. Ich kann es ja auch so sehen, dass der Dichter sich fürchtet vor den Risiken und Konsequenzen, die das Amt des unbestechlichen Zeitzeugen mit sich bringt, und sich in andere Ämter flüchtet, die ihm mehr Schutz gewähren. Oder aber er wäre ein Genie, und die sind recht rar gesät. Goethe, führender Geist seiner Zeit, in Weimar Minister und in etlichen anderen Ämtern tätig, würde es heute ungleich schwerer haben, so zu bestehen. Die Widersprüche dieser Welt sind diffiziler geworden, sie fordern mehr Kenntnisse heraus, als ein Einzelner sie nur annähernd haben kann, zumal ja auch in Politik, Wirtschaft und Forschung das Wichtigste hinter verschlossenen Türen stattfindet. Es fällt immer schwerer, sich auf eine Königsebene zu begeben, und das große Ganze in seinen unzähligen miteinander verstrickten Details und deren Facetten zu überschauen und zu durchblicken. Es lässt sich wohl nur noch ein Teilbereich unter die poetische Lupe nehmen. In unserer Zeit ist mir der Schriftsteller und Minister in einer Person nicht vorstellbar, ohne dass er eines seiner Ämter oder gar beide ungenügend ausfüllen würde.
Was die ständige Erweiterung des persönlichen Erfahrungsschatzes angeht - ein Schriftsteller lebt doch nicht außerhalb der Gesellschaft, er nimmt doch wie jeder andere teil am gesellschaftlichen Leben, er ist doch aus diesem nicht wegzudenken. Allerdings habe ich eine Zeit lang ziemlich isoliert gelebt. Dadurch, dass ich freischaffend wurde, ergab sich ein neuer Lebensstil, mir stand nun Zeit anders zur Verfügung als den meisten anderen Menschen, alte Verbindungen zu Kollegen und Bekannten mussten zwangsläufig eingeschränkt werden, was bald zum Abbruch dieser Verbindungen führte. Ein neues Verbindungsfeld musste aufgebaut, ein neuer Arbeits- und Kollegenkreis gefunden werden. Im Schriftstellerverband fand ich ihn nicht in dem erhofften Maß. Da habe ich wohl auch Illusionen gehabt. Schriftsteller sind offenbar ausgeprägte Individualisten und auch Egoisten, und selten entstehen zwischen ihnen echte Freundschaften. Die ständige Beschäftigung mit Kunst und Literatur bringt es wohl mit sich, dass man in seiner knappen Freizeit davon frei sein will und sich andere Bekanntschaften und Freundschaften sucht. Wenn ich also auch nicht für ein die Persönlichkeit und ihre Arbeitskraft spaltendes Amt plädiere, so doch dafür, dass der Schriftsteller gesellschaftliche Aufgaben übernimmt, dass er sich nicht ausschließt aus dem Kreis derer, die Verantwortung tragen. Viele meiner Kollegen sind mit gesellschaftlichen Aufgaben betraut, arbeiten mit im Schriftstellerverband, in Parteigruppen, Schulen, Kulturbund, usw.. Ich selbst bin Vorstandsmitglied des Leipziger Bezirksverbandes (mit Prof. Dr. Friedrich Albrecht für Werkstattarbeit verantwortlich) und leite einen Zirkel Schreibender Arbeiter.
Den jungen, sich im Schriftstellerberuf gerade etablierenden Kollegen möchte ich raten, sich nicht zu früh aus ihrem „alten“ Beruf zu lösen. Oftmals wird ein erstes Buch, das mit etwas Talent und viel Arbeit der Verlage veröffentlicht wurde, als Anlass genommen, alle Verbindungen zur bisherigen Arbeitswelt abrupt abzubrechen. (Leider wird so ein Verhalten in vielen Fällen durch großzügige staatliche Förderungsmaßnahmen noch unterstützt.) Das junge Talent, losgelöst aus allen Verbindungen bekommt plötzlich den harten Wind des Freischaffendseins zu spüren und kommt ins Wanken. Hat es mit der Veröffentlichung seines zweiten Werkes Schwierigkeiten, ist es nicht etwa bereit, an der Qualität seiner Arbeit zu zweifeln (sein Talent ist ihm ja immer wieder allzu großzügig bestätigt und gefördert worden), sondern sein entstandener Unmut wendet sich nun gegen die Gesellschaft, die sein Werk nur nicht versteht, die es womöglich fürchtet. So etwas gibt es natürlich auch; aber in den meisten Fällen liegt es am jungen Talent selbst, es hat sich absondern wollen und dabei entwurzelt.
Aber es braucht tief gehende Wurzeln im Mutterboden, um wachsen und reifen zu können. Fehlen sie, nützt auch eine freundliche Sonne nichts, im Gegenteil, sie bringt das „Pflänzchen“ nur noch schneller zum Verdorren. Der Schriftsteller sollte frühzeitig lernen, mit sich und seinem Werk Geduld zu haben; das heißt nicht, dass er auf ein Wunder warten kann, er muss schon hart arbeiten, um das rechte Wort zur rechten Zeit zu finden.
Du hast dich als Autor von Erzählungen, Hörspielen, Fernsehfilmen, Bühnenstücken und Kinderbüchern ausprobiert. Ist das ein Konzept von dir, alles zu machen, dich in jedem Genre immer wieder zu versuchen, oder hast du eine besondere „Liebe“? Mir fällt auf, dass du seit den „Großen bunten Wiesen“ nur noch Kinderbücher, nichts für Erwachsene geschrieben hast?
Das Ausprobieren war sicher ein Anfängerproblem, aber notwendig, um eigene Stärken und Schwächen herauszufinden. Auch Eitelkeit spielte dabei eine Rolle, der Wunsch, die gesamte Klaviatur des Instrumentes Literatur bedienen zu können. Dass Alles sich schließlich im Nichts verliert, habe ich bald feststellen müssen. Für Film und Fernsehen werde ich in absehbarer Zeit nichts mehr tun, hier bin ich von mir selbst und von den Institutionen enttäuscht. Dem Theater würde ich gern ein neues Stück anbieten; aber nach zwei missglückten Versuchen pausiere ich erst einmal. Mit dem Kinder- und Jugendhörspiel arbeite ich wieder zusammen. Hin und wieder entsteht auch ein Gedicht, ohne dass ich es in der Öffentlichkeit sehen will. Vor allem aber widme ich mich der Prosa. Für den, der meine Werkstatt nicht kennt, sieht es sicher so aus, als würde ich mich nur noch der Kinderliteratur widmen. Das täuscht. Ich habe die ganze Zeit über auch an sogenannter Erwachsenenliteratur gearbeitet. Allerdings habe ich bis auf Anthologiebeiträge nichts vorgelegt. Das wird sich in nächster Zeit ändern. Ich werde auch weiterhin für Kinder und Erwachsene schreiben, wenn das auch manchmal nicht zu trennen ist.
Du hast einmal davon gesprochen, du brauchtest so etwas wie ein Stück „heile Welt“. Übernimmt das Kinderbuch für dich diese Funktion? So heil ist die Welt der Kinder in deinen Büchern wiederum nicht. „Der hölzerne Kuckuck“ oder „Tschomolungma“ zum Beispiel vermitteln eher den Eindruck, dass du über das Kinderbuch versuchst, Zugang zu den Problemen der Erwachsenen zu finden und sie mit diesen spezifischen Mitteln darzustellen; die Scheidungsproblematik spielt beispielsweise eine große Rolle.
Für mich besteht zwischen Erwachsenen- und Kinderliteratur keine Trennung, die Abkapselung voneinander bedeutet. Ich glaube nicht, dass es eine spezielle Kinderproblematik oder Schreibweise für Kinder gibt. Literatur muss von ihren Lesern nur verstanden werden können, wobei eigenes Denken gestattet, ja verlangt ist. Natürlich sollte ich einem Erwachsenen, was Bildung und Lebenserfahrung betrifft, mehr zumuten können als einem Kind. Mit der Fantasie sieht es da schon anders aus. Hieran sind die Kinder reicher als die Erwachsenen. Die Fantasie des Kindes ist ein unerschöpflicher Quell reinsten Wassers. Die Kinderwelt ist für jeden, der da hineinwächst eine unentdeckte Welt, die es zu erobern gilt. Von den Erwachsenen noch nicht restlos beziffert und benannt, fordert sie die Schöpferkraft Fantasie des Kindes heraus. Wer für Kinder schreibt, muss dieser Fantasie - in der ein Hund allemal blau sein darf - Rechnung tragen. Er muss sich die Fantasie ins Erwachsensein hinübergerettet und die Spiele der Kindheit, sich die Welt anzueignen, nicht vergessen haben. Beim Schreiben für Kinder oder Erwachsene versuche ich nicht, eine Welt gegen die andere zu stellen. Ich erzähle Menschengeschichten, und beide Welten, die sich ja nur durch die jeweilige Sichtweise unterscheiden, sollen zu der einen werden, über die wir ja nur trotz aller Perspektiven und Nuancen verfügen. Die meisten Erwachsenenprobleme haben ihre Wurzeln in der Kindheit, in den ersten Berührungen mit der Welt. Um sich dieser Probleme, die sich ja oft in anderem Kostüm zeigen, bewusst zu werden, muss man in die Anfänge zurücksteigen. Ich glaube, der erwachsene Mensch ist weitgehend geprägt, er ist gar nicht so wandelbar und veränderbar, wie wir es manchmal gern hätten. Er hat seine „Grundsätze“ gefunden, nach denen er lebt, sein Fundament ist gelegt, auf dem er aufbauen kann. In der Kindheit lässt sich noch am ehesten Entwicklung beeinflussen. Hier entscheidet sich, was und wie einer wird. Es ist auch die Aufgabe des Schriftstellers, dafür zu sorgen, dass die Fantasie des Kindes auf seinem Erziehungs- und Bildungsweg nicht versiegt.
Das Stück heile Welt, von dem ich sprach, beziehe ich erst einmal nur auf mich. Sie ist ja im Wesentlichen ein Produkt der Fantasie, ein Inselchen zum Ausruhen und Träumen, eine Spielfläche für Unmögliches. Vielleicht ist das Selbsttäuschung, ein ins Erwachsensein gerettetes Stück Märchenwelt, ein selbst erstellter Zirkus. Aber braucht das nicht jeder? Ich brauche es dringend, wenigstens ab und zu. Es fällt mir nur immer schwerer, so ein Inselchen zu finden. Unsere Welt ist nun mal eine andere. Für länger und ganz gibt sie uns nicht frei, und das ist wohl auch gut so, sonst würden wir wohl bald ihren Untergang mit ansehen müssen. Dieses Stück „heile Welt“ darf ich in meinen Büchern den Kindern natürlich nicht als Weltersatz anbieten; dann würde ich sie belügen und zu lebensuntüchtigen Menschen erziehen. Die Kinderwelt ist ebenso wenig heil wie die der Erwachsenen. Ich sage es noch einmal: es ist ein und dieselbe untrennbare Welt, unsere Welt. Ich versuche, die Kinder frühzeitig an unsere Probleme heranzuführen, ihre Augen für die Realwelt zu öffnen, ihnen Verantwortung zu geben in ihrem Umgang mit ihr. Für Kinder ist das Buch ein notwendiger Partner, an dem sie die selbst gemachten Erfahrungen überprüfen können. Kinder werden mit Büchern, mit den Lebensschicksalen ihrer „Helden“ groß. Nicht allein durch sie, aber mit ihnen reifen sie, sind sie zur Auseinandersetzung gezwungen mit sich selbst und ihrer Umwelt.
Es gibt eine Stelle in deinem „Muzelkopp“, da sagt er: „Kinder sind das Großartigste, was ich kenne, und wenn ich mir manchen Typ angucke, will ich's nicht glauben, dass er jemals ein Kind gewesen ist.“ Neben der großen Liebe zum Kind, die in allen deinen Büchern deutlich wird, taucht hier für mich das Problem auf, im Kind das zu suchen, was im Erwachsenen schon verloren gegangen ist.
Vielleicht habe ich es mir damit etwas leicht gemacht, indem ich unerfüllte Hoffnungen und Sehnsüchte der Erwachsenen in die Kindheit geschoben habe, wo ja noch alles möglich scheint. Doch das ist kein Weg, der voranbringt, das ist eine Sackgasse. Man darf den Kindern nicht seine Defizite aufhalsen, damit die eigene Welt doch noch in Ordnung kommt. Wunderheilungen sind nicht ihre Aufgabe und liegen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Natürlich ist der Glaube an die Kinder Zukunftsglaube; aber Kindheit ist nicht Zukunft, sondern Gegenwart, dieselbe Gegenwart, derselbe Augenblick, in dem sich auch die Erwachsenen befinden. Allerdings sehe ich in der Kindheit ein magisches Zentrum von Zeit. Sie ist kein Neubeginn, sie ist der Einstieg eines Menschenwesens in seine Zeit.
Dieser Einstieg ist von Glauben und Wundern begleitet, und die Annäherung an Realität bringt ihren Verlust, aber auch den Gewinn der Erkenntnis mit sich. Der Glaube verlangt nach Wissen, der Traum will sich mit der Tat befreien. Das Kind verliert die Fähigkeit zu fliegen, sich aus einer Handvoll Steine eine Burg zu bauen. Es wird eine Idee finden und zu ihrer Verwirklichung tätig werden müssen. Mit dieser Verantwortung wird aus dem Kind ein Erwachsener, und der wird in gesellschaftlichen Regeln leben, die das Fliegen des Kindes, seinen Glauben an Wunder als Illusion, als einen Kindertraum erklären. Es gibt kein zurück in die Kindheit, ohne die Gegenwart und damit sich selbst zu verleugnen. Als Geschichtenschreiber für Kinder habe ich die Pflicht, ihnen Realität bewusst werden zu lassen, ohne die ihnen innewohnende Kraft der Fantasie zu zerstören. Ich möchte ihren Glauben und ihr Hoffen auf sich selbst, auf ihre Mitmenschen und die sie umgebende Welt lenken.
Peter, der Held deines vorläufig letzten Buches „Tschomolungma“, besteht auf seiner Einmaligkeit und stößt sich dabei Wunden, die nur schwer vernarben. Er entwickelt in hohem Maße Gefühlsreichtum, Sensibilität und macht sich zum Außenseiter. Du stellst ihm die Figur des Bulli gegenüber: Ein Junge, erfolgreich, anerkannt von den anderen wegen seiner Stärke, integriert ins Klassenkollektiv, selbstbewusst, robust. Dennoch, dieser Bulli beweist ebenfalls seine Individualität, ist alles andere als ein „Pulkbulle“, wie du es einmal an anderer Stelle ausdrücktest. Er besitzt und entwickelt nur andere Eigenschaften als Peter und entfaltet sie auf andere Weise. In der Erzählung „Den Schienen nach“ fasst du das eigentliche Problem mit den Worten: „Sie möchte werden wie du: Ein starker Mensch, der etwas aus seinem Leben zu machen weiß.“
Der Satz vom starken Menschen, der etwas aus seinem Leben zu machen weiß, ist doch sehr allgemein. Er meldet den Anspruch an ein sinnerfülltes Leben an. Die Wege zur Erfüllung dieses Anspruchs sind äußerst vielgestaltig, da eben jeder nur auf seinem Wege „recht“ gehen kann. Die entscheidende Frage ist doch: Wie groß ist der Raum, den die Gesellschaft ihren Menschen zur Selbstverwirklichung lässt? Er kann nicht endlos sein und sollte sich im vernünftigen Maßstab der gesellschaftlichen Ordnung befinden. Ein Ideal zu seiner Ausgestaltung sollte schon gegeben werden, wenn er auch jederzeit offenbleiben sollte zur Neugestaltung. Wir Menschen brauchen Ziele, die uns einer Gemeinschaft, der wir uns im Fühlen, Denken und Handeln verwandt fühlen, näher bringen.
Das Ziel einer sozialistischen, gar kommunistischen Gesellschaftsordnung sehe ich in der Annäherung an den uralten Menschheitstraum von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Wie schwer der zu realisieren ist, auch wenn die gesellschaftlichen Voraussetzungen geschaffen sind, haben wir schmerzlich erfahren müssen. Ich denke, die Zeiten sind endgültig vorbei, in denen wir glaubten, über Nacht aus dem Chaos eines Weltkrieges in ein Paradies, das sich Kommunismus nennt, eintreten zu können. Es ist ja der Weg des Suchers, den wir gehen müssen, ein langer, ein unebener Weg, den noch keiner vor uns gegangen ist. Inzwischen hat sich mir eine neue Frage aufgedrängt: Wie bewege ich mich auf ein Ziel zu, ohne dabei mich selbst und das Ziel zu verlieren? Es ist also nicht allein das „Wohin?“, das uns beschäftigt. Dem „Wohin?“ ist ja die Frage „Wie hinkommen?“ immanent. Das ist eine Frage der Moral und Ethik. Es darf uns nicht jedes Mittel recht sein, das Ziel zu erreichen, da muss schon das eine dem anderen entsprechen. Sonst verlieren wir an Glaubwürdigkeit, verletzen Vertrauen und verlieren letztendlich unser Ziel aus den Augen.
Wir leben in einer bis in ihr tiefstes Inneres gespaltenen Welt, in einer Welt voller Gegensätze, von denen die schärfsten immer wieder ihre Unversöhnlichkeit beweisen. Wir befinden uns im Existenzkampf - und müssen doch menschlich bleiben, so haben wir es selbst festgeschrieben. Der politische Gegner ist in der Anwendung seiner Mittel oft nicht zimperlich, er fragt wenig nach Menschlichkeit, für ihn ist das Leben in erster Linie ein Geschäft, bei dem er Profit machen will. Welche Chance haben wir - als Sozialisten -, der Gewalt zu begegnen? Bleibt uns nur die Gegengewalt? Aus der Menschheitsgeschichte haben wir erfahren müssen, wie Gewalt eskaliert. Aber zeigen wir uns schwach, werden wir genommen und einverleibt.
Wir müssen also stark sein. Stark, indem wir die Völker der Welt gerade durch das Beispiel der Gewaltlosigkeit von der Kraft unserer Idee überzeugen, wenn wir sie auf den friedvollen Weg des Suchers holen, wenn wir Vernunft in die Welt zwingen. Diese mit konventionellen und Massenvernichtungswaffen bestückte Erde ist ein Grauen geworden, mit dem wir beängstigend ruhig – gleichgültig? - leben. Dabei brauchten wir dringend die in die Rüstung fließenden Milliardenbeträge, um die Probleme des Friedens zu lösen (Energiefragen, Umwelt, Hunger, Krankheit, soziale Gerechtigkeit ...). Es gibt keinen anderen Weg als den des Gesprächs. Und werden wir heute abgewiesen, müssen wir es morgen wieder versuchen. Und werden wir morgen nichts erreichen, dann beginnen wir übermorgen von neuem. Durch die saubere und konsequente Umsetzung unserer Idee vom Sozialismus, durch die Kraft der Vernunft müssen wir den politischen Gegner an den Verhandlungstisch zwingen.
Bei dem, was wir erreichen wollen und dem hohen Maß an Verantwortung, das wir dafür tragen, können wir uns keine Müdigkeit oder gar Gleichgültigkeit leisten. Es ist also auch ein ständiger Kampf gegen uns selbst, gegen Trägheit, Selbstgenügsamkeit, Unlust, Egoismus, Überheblichkeit und so weiter, gegen all die Schwächen, die uns Menschen, gleichgültig welcher Weltanschauung und welchen Glaubens, nun einmal eigen sind.
Du fragst nach dem Menschenbild in unserer Gesellschaft, nach der Moral des Einzelnen, wie es ihm gelingt, seine Verantwortlichkeit und Vernunft zu handhaben. Gibt es zwischen Individuum und Gesellschaft mehr Gegensätzliches oder Übereinstimmendes? Bei Buchlesungen und den anschließenden Diskussionen stelle ich dann auch solche Fragen. Wenn die Leute den Mut gefunden haben, offen zu antworten, höre ich immer öfter Meinungen, die zunehmende Fehlentwicklungen unserer zwischenmenschlichen Beziehungen benennen. Gerade von jungen Menschen bekomme ich dann zu hören: „Leute, die sozialistische Moral ignorieren und sich auf ihre Ellenbogen verlassen, und vor allem auch Heuchler kommen besser voran. Wenn ich mich an die überall proklamierten Verhaltensforderungen halten würde, wäre ich ständig in Schwierigkeiten. Da wird gefordert, ich soll als Sozialist ein aufrichtiger Mensch sein, der überall offen seine Meinung vertritt. Aber wenn ich mich so verhalte, stellt man mich ins gesellschaftliche Abseits und diffamiert mich als Außenseiter, Störenfried und Nestbeschmutzer, der dem Klassenfeind zuarbeitet.“ Hier sehe ich Schuld einesteils bei der Gesellschaft, die sich in ihrem Bestreben schnell voranzukommen zu sehr auf den äußeren Schein verlässt, als durch die offene Austragung der Widersprüche auf Reifung zu setzen, die dann auch Vertrauen und das Gefühl von Zugehörigkeit mit sich bringt.
Andernteils sehe ich auch Schuld beim Einzelnen, der ja mit seiner Haltung den Charakter der Gesellschaft mitgestaltet. Es ist leicht, sich hinter dem Wort Gesellschaft, das Behütetsein in der Gemeinschaft suggeriert, zu verstecken, als wäre sie eine gottgegebene Institution. Mit dem Verzicht auf Eigenverantwortung leite ich meine Entmündigung ein. Nun passiere was wolle, ich bin nicht daran schuld. Aber die Gestaltung einer sozialistischen Gesellschaft, wenn wir es denn damit ernst meinen, verlangt die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit. Kurz: Mir geht es um Selbstbesinnung und Selbstbestimmung, um das ständige „Training des aufrechten Gangs“, wie Volker Braun das so treffend benannt hat. Und um das den Leuten erstrebenswert zu machen, wünsche ich mir mehr allgemeines und spezielles Augenmerk auf das Sein, als auf den Schein.
Was also für ein Menschenbild wünschen wir uns, eingedenk dessen, dass es genügend Raum für Facettenreichtum lässt? Was sollte der Mensch für Eigenschaften haben, um in unserem Streben nach Menschlichkeit Gegenwärtiges bewältigen zu können? Sollte er wie Bulli ein praktisch veranlagter, kräftiger, robuster Mensch sein? Ein Durchreißer? Oder wünschen wir ihn uns wie Peter, sensibel, verletzlich, zweifelnd, das Große wollend und manchmal schon am Kleinen scheiternd? Einer, der beider Eigenschaften in sich vereint, wäre wohl ideal, aber für menschliches Zusammenleben, das aus Gegensätzlichem wächst, unmöglich. Wir müssen uns da schon für beide Menschen entscheiden. (Die Vereinfachung in Typen sei entschuldigt; sie soll nur zur Klarstellung des Problems dienen.) Es ist ja im Alltag leider so, dass der Sensible, der Zweifelnde als lebensuntüchtig gilt. Überall wird der Tüchtige herausgestellt. In der Schule ist das der mit den besten Zensuren, der das Frage- und Antwortspiel am besten beherrscht. Dabei braucht er sich für nichts wirklich zu interessieren, er muss nur fleißig auswendig lernen und schnell begreifen, welche Frage welche Antwort verlangt. Der andere aber, vielleicht begabter, der sich diesem erstarrten Spiel entzieht, weil er schon durch Interessen geprägt nach Inhalten sucht, wird zum Hindernis für einen Unterricht, in dem ein großes und flüchtiges Bildungsangebot zum schnellen Auswendiglernen zwingt. Er wird zum Träumer erklärt, man ruft ihn „Spinner“, etwas Kränkliches scheint ihm anzuhaften, man lässt ihn am Rand stehen oder geht ihm aus dem Weg. Wenn der junge Mensch, der anfangs nur interessiert war am Inhalt dessen, was ihm gelehrt wird, nun solche Reaktion der Gemeinschaft, in die hinein er sich ja sehnt, erfährt, wird er immer tiefer in die Isolation abgedrängt, die ihn nun vielleicht wirklich zum Spinner macht, vielleicht gar zum Gegner der Gemeinschaft, die ihn ausgeschlossen hat. So bilden wir uns Menschen heran, die viel zu früh wissen, was sie wollen (sollen), die bald nicht mehr in der Lage sind, sich selbst und ihre Umwelt produktiv in Frage zu stellen. Sie sind zwar universell einsetzbar, aber nicht befähigt, in die Tiefe, dem Ding auf den Grund zu gehen. Beide aber, der „Träumer“ und der „Praktiker“, der Orpheus wie der Herkules, sollten in der Gemeinschaft aufgehoben sein und dieselben Möglichkeiten und Chancen haben, denn sie bedingen einander bei der Bildung von Vernunft, die aus der Berührung von Gegensätzlichem entsteht.
Da du so in zwei Typen immer wieder unterscheidest, sind dann solche Bullis bei dir gleich Leiter und die Peter gleich Künstler?
Das ist wohl so. Würde man die Rollen vertauschen, fühlten sich beide nicht wohl, sie wüssten mit ihren spezifischen Neigungen und Fähigkeiten auf fremdem Terrain nicht viel anzufangen. Die Kunst verträgt keinen „Durchreißer“ und eine Leiterstelle (zum Beispiel in der Wirtschaft) keinen „Träumer“. Beide haben zwar mit derselben Welt zu tun, aber mit einer anderen Materie. Die Materie des Praktikers ist das Ding an sich, dessen Gestalt erhalten oder weiter entwickelt werden soll; die Materie des Künstlers ist der Inhalt des Dings, sein Geist und seine Seele, dessen labyrinthischen Wege er ausleuchten will.
Aber sollte nicht ein guter Leiter auch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Gefühlsreichtum, an Verständnis für seine Mitarbeiter und darüber hinaus entwickeln?
Ich weiß nicht, wie ein Leiter später einmal aussehen wird. Mir geht es hier um den erfolgreichen Leiter unter unseren gegenwärtigen Bedingungen. Besäße der im zermürbenden und weit in den Feierabend hineinreichenden Arbeitstag ein großes Maß an Gefühlsreichtum, würde er wohl seine Arbeit, die ihn sachlich, nüchtern und entscheidungsfreudig verlangt, nicht zur Zufriedenheit ausführen können. Der Arzt, wenn er helfen will, kann auch nicht mit jedem seiner Patienten mitleiden oder gar mitsterben. Um sein Amt auszufüllen, wird er zu seinen Patienten Distanz bewahren müssen, vor allem zu dessen Leiden. Diese innere Distanz zum zu behandelnden „Gegenstand“, die sich der Künstler nicht leisten darf, muss der Leiter besitzen. Das heißt ja nicht, dass er gefühlskalt sein muss. Aber während der Künstler wohl eher über sein Fühlen zum Denken gelangt, ist es bei dem Leiter umgekehrt; seine Gefühle sind eher vom Verstand beherrscht. Ich sagte ja schon, dass in solcher Trennung der Gegensätze Menschen nicht existieren, ich treibe es ja nur auf die Spitze, um mich zu verdeutlichen. Die Übergänge sind fließend, nur dass bei dem einen dies und dem anderen das vorherrscht. Verstand und Gefühl reiben sich natürlich in jedem Menschen aneinander, das macht menschliches Leben ja gerade so spannend.
Unsere Gesellschaft als Leistungsgesellschaft scheint in deinen Überlegungen dazu einen zentralen Platz einzunehmen. Auch Peter hatte einmal Bullis Position in der Klasse inne. Das war zu der Zeit, als sein Verhalten noch von einem Leistungsstreben auf allen Gebieten gekennzeichnet war. Mit dem Nachlassen dieses Leistungsstrebens und dem Ausbleiben öffentlicher Anerkennung verlor er nicht nur seine Position in der Klasse, sondern auch einen Großteil seiner Freunde, was sowohl mit moralischen Normen, die in unserer Gesellschaft gültig sind, zu tun hat als auch mit der Frage, wie wir die Nachfolgenden erziehen sollten, welche Werte zu vermitteln sind. Das berührt das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit. Welchen Wert, welche Möglichkeiten misst du dabei der Literatur zu?
Bei der Erziehung des Menschen, ihn auf den Weg des Suchers zu bringen und dort zu begleiten, messe ich der Literatur große Verantwortung zu. Allerdings vergibt sie ihre Möglichkeiten und betreibt Verrat an der Kunst, wenn sie die Wirklichkeit verzerrt und sich des risikoreichen Auftrags der Wahrheitsfindung entledigt, wenn sie ein Menschen- und ein Gesellschaftsbild zeichnet, das sich geschönt darbietet, von ein paar Randproblemen interessant gemacht. Die sollen dann den unbestechlichen Blick auf die Wirklichkeit vorspiegeln. Der „positive Held“ des Sozialistischen Realismus ist dann nur noch ein Kulissenschieber für Potemkin’sche Dörfer. So wird Literatur oberflächlich und unwahr, sie verliert schließlich das Vertrauen ihrer Anhängerschaft.
Aber gerade Literatur sollte doch in die Tiefe gehen, dorthin, wo eben außer ihr niemand hingelangt. Nur so kann sie zu Selbstbewusstsein gelangen und es weiter geben. Literatur, die sich und ihren Arbeitsplatz Leben ernst nimmt, wird immer unbequem sein, da wir uns ja nie in einem Idealzustand befinden werden. Ich meine, dass wir in unserer DDR-Literatur so manchem gewichtigen Problem aus dem Weg gehen, dass wir in unserem Optimismus und Zukunftsglauben uns sehr oft Gegenwärtigem und Vergangenem gegenüber entweder als blind oder schönseherisch erweisen. Das Gute wollen heißt doch nicht: das Schlechte übersehen. Wenn ich mich in der Welt zurechtfinden, sie gar verbessern will, muss ich erkennen, wie sie ist. Wenn ich mir aber DDR-Literatur betrachte, sehe ich wenig an wirklich großer Literatur, an Dichtung. Das liegt wohl nicht am mangelnden Talent unserer Schriftsteller. Ein Hauptgrund ist wohl, dass kritische Literatur (und welche große Literatur setzte sich nicht kritisch mit ihrer Zeit auseinander) von manchem, der über ihre Veröffentlichung zu entscheiden hat, immer noch als entwicklungshemmend anstatt als entwicklungsnotwendig angesehen wird. Schon im Vorfeld von Literatur entstehen für die Autoren und Verlage zu viele Schwierigkeiten, die es oft unmöglich machen, dass ein literarisches Vorhaben zur Dichtung reifen kann. Die Geschichten bleiben dann meist klein und flach ausgelotet. Da nützt auch eine Meisterschaft im Handwerk des Schreibens nichts. Der Leser flüchtet sich entweder aus dem Realleben in diese „bessere“ Wirklichkeit, oder aber er wendet sich ab von einer Literatur, die ihm keine Erkenntnishilfe leistet.
Nun will ich keinesfalls denen das Wort stärken, die ihr eigenes Versagen auf gesellschaftliche Schuld abwälzen, „die ja könnten, wenn sie nur dürften“. Ich meine, dass es viel von mir selbst, von meiner Kraft, meinem Mut, meiner Ausdauer und Hoffnung abhängt (Eigenschaften, die ein wirkliches Talent im reichen Maß haben muss), ob ich mir selbst und der Gesellschaft, in der ich mich befinde, aus dem Erleben der Wirklichkeit die Wahrheit abringe. Denn das war und ist für jeden, vor allem auch für den Künstler, ein harter Kampf, und wird immer einer sein. Die Gesellschaft aber sollte mich in dieser Auseinandersetzung, in der wir uns ja alle befinden, als Partner mit ausgeprägter Individualität gelten lassen; sie sollte es mir möglich machen, mein Befinden im Mittelpunkt der Welt anzuzeigen. Wir können dann ja über Erfahrenes streiten, und wenn es tief sitzt und wir es als wahr empfinden, wird es uns dazu zwingen. Das Ringen um Wahrheit, eben um Menschlichkeit, wird uns weiter und vor allem einander näher bringen und stärken. Ich sehe darin die einzige Möglichkeit, um gemeinsam voranzukommen.
Dem zuletzt Gesagten möchte ich voll zustimmen. Anderes reizt mich zum Widerspruch. Ich denke, dass das Auf-den-Grund-dringen und das Bemühen des Autors - wie du gesagt hast -, sich selbst und der Gesellschaft aus dem Erlebten die Wahrheit abzuringen, die eigentlichen Kriterien und Voraussetzungen für das Entstehen von Literatur sind, die die Menschen bewegt und die eigene Zeit überdauert. Überall, wo das der Fall ist, haben wir auch bedeutende Werke der DDR-Literatur, und diese Bücher waren immer auch kritisch, setzten sich streitbar mit erkannten Widersprüchen in der Wirklichkeit auseinander, griffen Überlebtes und Erstarrtes an. Es scheint mir also nicht am kritischen Blick zu liegen, wenn etwas nicht als entwicklungsfördernd angesehen wird, sondern vielmehr am ungenügenden Durchdringen der gesellschaftlichen Realität. Das allerdings ist angesichts der immer komplizierter werdenden und vielschichtiger verlaufenden Entwicklungsprozesse auf nationaler wie internationaler Ebene äußerst schwierig. Veränderungen in der Literaturlandschaft unseres Landes sind wohl in erster Linie gerade darauf zurückzuführen.
In den letzten Jahren hat sich in der DDR-Literatur die Tendenz verstärkt, über die Darstellung der Befindlichkeit und der Verhaltensweisen des Individuums im Alltag, in Familie und Beruf der neuen Qualität unseres Lebens und damit den Werten des Sozialismus nachzuspüren. Dabei gestalten die Autoren häufig Geschichten aus dem Leben sogenannter „kleiner Leute“. Ich möchte hier nicht die in der Literaturwissenschaft viel diskutierte Frage nach den Gewinnen und Verlusten im Zusammenhang mit dieser Erscheinung stellen, zumindest kann festgestellt werden, dass damit etwas Neues in unsere Literatur eingebracht wird. Mir fällt auf, dass auch deine Geschichten am überzeugendsten da gestaltet sind, wo du die Frage nach dem Glücksanspruch des Einzelnen und den Möglichkeiten seiner Verwirklichung mit dem Darstellen des Alltags der „kleinen Leute“ verbindest.
Dass ich mich unter den sogenannten kleinen Leuten am wohlsten fühle, hat wohl mit meinem Lebenslauf zu tun. In ihrem Leben bin ich aufgewachsen, das kenne ich bis in alle Verästelungen, und ich lebe es noch heute. Diesem Lebenskreis fühle ich mich zugehörig. Für die Literatur ist er ein ergiebiges Feld. Ich denke, hier wird noch am echtesten, am ungebrochensten empfunden und gesprochen. Der Schein, das „rechte Licht“, in das wir uns nun mal gern rücken, wird im Volk von der Wetterlage des Alltags verdrängt, wo Sonnenschein und auch ein wolkenverhangener Himmel natürliches Licht geben. Ihre gesellschaftliche Position verlangt keine Schau, keine Selbstdarstellung, bei der die Bühnenmitte und das Scheinwerferlicht so manche Verbeugung und Verrenkung abnötigen. Für mich sind die „kleinen Leute“ der genaueste und unbestechlichste Gradmesser gesellschaftlichen Befindens. In Arbeiten von mir, wo ich versucht habe, mir literarisch einen anderen Erlebniskreis zu erschließen, sehe ich zu viel Konstruktion, mehr Problemdarstellung als Poesie. Ich glaube nicht, dass es für die Bewertung von Literatur wichtig ist, ob sie nun einen König oder Bettler in ihren Mittelpunkt stellt, wenn sich ihr Interesse auf einen unverwechselbaren Menschen richtet. Die Kunst des einen wird darin bestehen, den Menschen und seine Zeit in der Darstellung der Mächtigen zu finden; die des anderen, indem er sich seinen Protagonisten aus dem Volk wählt. Der große Gesellschaftsroman, in dem untere und obere Ebene verwoben sind, ist wohl auch darum so schwer möglich geworden, weil bei der schon erwähnten diffizilen Weltlage das Erkenntnisvermögen eines Einzelnen nicht mehr ausreicht, um auf beiden Ebenen so zu Hause zu sein, dass ein stimmiges Gesellschaftsbild entstehen kann.
Im Bemühen um Durchschaubarkeit dieser vielfältigsten Beziehungen werde ich mich weiterhin den „kleinen Leuten“ widmen und sie zum Gegenstand meiner literarischen Bemühungen machen. Ihre Geschichte ist meine Geschichte. Diese aufzuschreiben und vielleicht sogar ein wenig mitzugestalten, ist mein Bestreben.