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2. Ich (1976)

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Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, und ich erwarte, dass noch einiges anfängt.

Mein Ich kenne ich nur vom Spiegel her, meistens von morgens, eine schlechte Nacht hinter mir, Unruhe in den Fingern, welche die Klinge führen gegen üppig wucherndes Barthaar. Das äußere Ich ist mit einem flüchtigen Blick zufrieden. Man hat sich an sein Gesicht gewöhnt. Aber da ist noch das zweite, das innere Ich, das wandelbare, verletzliche, ängstliche, aufbegehrende, das suchende Ich. Mit dem liege ich im Streit, täglich, oft auch nachts. Wie Welt sich verändert, verändert sich das Ich. Der Streit mit dem Ich ist Streit mit der Welt. Kann man überhaupt im Ich Welt entdecken? Zumindest muss man es über das Ich.

Als ich Kind war, sagte meine besorgte Mutter zu mir: „Junge, zieh dir eine Jacke drüber. Es ist kalt da draußen.“ Ich hatte gestern nicht gefroren. Warum sollte ich heute frieren? Ich ging ohne Jacke los. Es war ein schneidend kalter Tag. Bald schlich ich zurück in die Wohnung und zog mir die Jacke an. Aber manchmal konnte mir die Kälte nichts anhaben, ich vergaß sie im Spiel und brauchte nichts zum Drüberziehen.

Die Kinderzeit war bald vorbei. Es lag nun unendlich viel zwischen hässlich und schön, gut und böse, hell und dunkel, und manchmal war alles eins auf der Suche nach mir und den anderen. Es kamen die Lehrjahre, ein nach Maschinenöl und Kreide riechender Raum, in dem Relaisfedern nach zehntel und hundertstel Gramm justiert werden mussten; die Sucht nach schwerer Handarbeit, Kisten karren auf dem Güterboden eines Verladebahnhofs; der Kampf auf der Judomatte; der Traum vom dreifachen Salto am Flugtrapez und die erdgebundene harte Arbeit der Äquilibristik, das Bett in einer vulkanhaft auseinanderberstenden Stadt. Und es kamen Krankheit, Verzweiflung, immer wieder neue Hoffnung auf Erfüllung, und es kam der Griff zu Feder und Papier, um dort weiterzukommen, wo ich stehen geblieben war.

In dem Roman, an dem ich gerade arbeite, sagt der ältere Bruder zum jüngeren: „Mach eine Tür auf und tritt heraus, und du wirst wieder in einem verschlossenen Raum stehen. Und so viele Türen du auch öffnest, so viele geschlossene Räume wirst du finden.“

Ich bin froh, dass noch viele Türen zu öffnen sind, und ich will hoffen, dass die Räume, in die wir eintreten, die Anstrengungen lohnen. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und würde noch heute alle Mahnungen in den Wind schlagen und ohne Jacke auf die Straße gehen, um selber zu spüren, ob ich sie mir anziehen muss.

Rufe in die Wüste

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