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1. Postulate zur Kritik (1973)
ОглавлениеLeben und Kunst sind keine Schindmähren, aber auch keine Paradepferde, und in einen Stall passen sie schon gar nicht. Sie müssen sich in der Weite unserer Welt, die eng werden kann, zurechtfinden. Sie sind nicht gänzlich zu zähmen, und wer sie reiten will, muss schon den Sprung ins Ungewisse wagen und ins Kalkül ziehen, abgeworfen zu werden. Nach jedem Aufschwung muss dann auch wieder abgestiegen werden, um erneut aufsteigen zu können. Sehen wir doch die Kritik als Steigbügelhalter beim Aufstieg und Abstieg, die unerlässlich sind, denn wer will schon verdammt sein, ewig im Sattel zu sitzen.
Wenn ein Kritiker Kritisches anmerkt und nicht des Lobes voll ist, wird ihm vorgeworfen, dass er mit Autor und Werk nicht sensibel genug umgeht. Kritik an misslichen Zuständen innerhalb der Gesellschaft, ja, Selbstkritik am eigenen Versagen und all den menschlichen Unzulänglichkeiten wird von Partei und Regierung allerorts verlangt, um den Prozess des allgemeinen und individuellen Werdens und Reifens zu befördern. Doch wenn dann kritisiert und nicht nur an geschönter Oberfläche gekratzt und die Wurzel des Übels freigelegt wird, reagiert man höchst empfindlich. Kritik wurde bislang als gesellschaftsschädigend empfunden, wir haben nicht gelernt maßvoll mit ihr umzugehen. Man legte uns die Pflicht auf, ohne Fehl und Tadel zu sein, nur wenige Wege standen offen, die auf freies Feld zum Suchen und Ausprobieren führen. Es ist eine Binsenweisheit, die man lange vor uns dem Leben abgerungen hat – wo nicht gesucht wird, kann nicht gefunden werden. Das Suchen und Finden ist längst zum Kinderspiel geworden, das wir uns aber als Erwachsene verbieten. Fürchten wir uns vor der eigenen Entwicklung, haben wir Angst, in unserer neuen Gesellschaft Neues auszuprobieren? Was sich nicht bewegt ist tot oder stirbt. Dieses Lebensgesetz ist auch uns auferlegt.
Wir haben keine Schule der Kritik, keine Kritik in den Schulen. Unsere Menschen sind nicht von klein auf vorbereitet, mit Kritik selbstverständlich als Lebensnotwendigkeit umzugehen. Sie erleben Kritik als Bedrohung ihrer Persönlichkeit, anstatt sie als Chance für ihre Weiterentwicklung zu sehen. Alles hechelt nach Lob, das man doch am ehesten durch Anpassung an „gottgegebene“ Regeln erreicht. Jean Paul sagt 1806 in „Levana oder Erziehlehre“: Hofmeister suchen, wie Anatome, ihren Ruhm darin, Gerippe zu präparieren durch Entfleischen und sie dann zu bleichen, - Kräftigen und Kraft lassen, soll das erste und letzte Erziehwort sein.
Die Literaturkritik sollte wieder werden, was sie ist: ein eigenständiges literarisches Genre, das selbstbewusste, kluge, kenntnisreiche und vor allem mutige Persönlichkeiten verlangt. Wenn Kunstkritik sich nicht energisch Bewegungsfreiheit verschafft, wird sie weiterhin dilettieren und Unbehagen und Beschämung hervorrufen. Der Kritiker, wenn er sich denn als solchen ernst nimmt, bedarf keiner „Vorschläge“, wie er seine Kritik zu verfassen hat, er muss Parteiisches abwerfen und sich wie der Künstler ganz auf seine Subjektivität besinnen, um der Objektivität nahe zu kommen. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Der Bezug auf sich selbst verleiht Glaubwürdigkeit; wenn man glauben kann, versteht man, was man weiß und kann sich selbst vertrauen, was Voraussetzung für die vielfältigen Beziehungen zu den anderen ist.
Kritik muss in der Wirklichkeit angesiedelt sein und die Wahrheit wollen; der Kritiker muss seine Eitelkeit und die Furcht anzuecken mit dem Mut zur Offenheit bekämpfen; die Scheuklappen der Parteilichkeit sind abzulegen; es ist nur nach dem eigenen Mund zu reden und eher zu schweigen, als ein Wort auszusprechen, das nicht von innen kommt.
Kunst ist eine „heilige Sache“, weil sie der Wahrheit verpflichtet ist, am deutlichsten wird das in der Literatur, da sie auf das Wort baut. Mit dem Wort umgehen, soll heißen: mit dem Leben umgehen. So wahr wir sprechen, so wahr leben wir, und umgekehrt. Die Sprache, die ja auch im Schweigen ist, ist der einzige gangbare Weg zum inneren und äußeren Frieden. Das Leben in all seinen Spielarten ist immer auch ein Tanz auf dünnem Seil. Die Kunst kann für den Seiltänzer eine hilfreiche Balancestange sein. Die Kritik sollte zum Scheinwerfer werden, der die Akteure nicht blendet und dem Publikum eine genaue Sicht ermöglicht. Im Leben und in der Kunst sollten wir uns vor Plattformen hüten, auf denen es sich todsicher stehen lässt, wo der Einzelne, eingekeilt in die Masse, zwar nicht stürzen, aber auch nicht steigen kann; denn es fehlt ihm einfach an Bewegungsfreiheit, die er benötigt, um ein Suchender zu sein, der finden will: sich selbst und die anderen.